Eine Boeing 747 befindet sich im Anflug auf Hongkong. Der Co-Pilot steuert die Maschine, aber der Kapitän lenkt auf seiner Seite ständig mit und korrigiert ihn. Wie ein Fahrlehrer. So geht das den gesamten Anflug über bis zur Landung. Wobei es „Einschlag“ besser umschreiben würde. Nachdem die Maschine ans Gate gerollt und die letzte Checkliste gelesen ist, dreht sich der Kapitän zu seinem Co-Piloten herüber und sagt schmunzelnd: „Also Herr Kollege, an der Landung müssen wir noch arbeiten, oder?“ Der Co-Pilot schaut ihn perplex an und sagt: „Wieso ich? Ich dachte, Sie sind gelandet!“

Auch wenn Sie als Passagiere es vermutlich nicht hören wollen: Diese Geschichte hat sich in den 1990er-Jahren tatsächlich so ereignet. Unfassbar, oder? Ein Missverständnis, das Hunderte Menschenleben hätte kosten können. Aber jetzt frage ich Sie: Wie oft kommt genau das in den Cockpits der Unternehmen vor? Projekte entwickeln ein gefährliches Eigenleben. Jeder verlässt sich auf den anderen. Klare Absprachen? Commitments? Fehlanzeige! Und mit dem Einzug neuer Arbeitsweisen, die auf Selbstorganisation und Selbstbestimmung setzen, hat sich das Problem noch verschärft.

Arbeitgeber haben zwar die Notwendigkeit erkannt, starre Hierarchien gegen vernetzte und agile Teams zu ersetzen. Denn die langfristigen Vorteile liegen auf der Hand: Mehr Freiheiten und Gestaltungsspielräume seitens der Mitarbeiter machen Unternehmen flexibler. Sie können dann schneller auf Veränderungsbedarfe reagieren. Obendrein lassen sich so die jungen und klugen Köpfe an Land ziehen und binden, um die sich Unternehmen in Zukunft mehr denn je reißen werden. Doch vernebelt der einseitige Blick auf die Vorteile von Arbeitskontexten, die auf ein Höchstmaß an Selbstorganisation und Kollaboration setzen, eine existenzielle Frage: Wer fliegt die Kiste eigentlich? Wer hat die Kontrolle über das Projekt? Arbeit lässt sich innerhalb eines Teams auf mehrere Schultern verteilen, nicht aber die Verantwortung. Nur ein bisschen verantwortlich sein? Das läuft nicht.

Schlechte Kommunikation und fehlende Eigenverantwortung führen am Boden wie in der Luft zum Crash jedes Teams.

Manch altehrwürdiger Kapitän, pardon Manager wird sich nun darin bestätigt sehen, dass früher eben doch alles besser war. Früher, als Zuständigkeiten und Entscheidungswege noch klar geregelt waren. Das stimmt so natürlich nicht.

Das Unternehmen 4.0 braucht keine Mitarbeiter, es braucht viele kleine Unternehmer. Denn einige wenige Führungskräfte können die Maschine allein nicht mehr steuern, weil sie gar nicht im Bild sind über jede Turbulenz im Luftraum – ergo: auf dem Markt. In einem aber haben die Zweifler und Skeptiker moderner Arbeitsweisen recht: Auch in einem Arbeitsumfeld, in dem nicht einige wenige, sondern viele Verantwortung übernehmen, muss es klare Zuständigkeiten geben.

Je offener und agiler die Arbeit im Team ist, desto disziplinierter muss kommuniziert werden.

Die Luftfahrt ist der Unternehmenswelt auf diesem Gebiet eine gute Flügellänge voraus, auch wenn die Einstiegsgeschichte dies nicht vermuten lässt. Denn man hat dort aus Vorfällen wie dem in Hongkong Lehren gezogen. „I have control”, sagt der eine Pilot heute zum anderen, bevor es losgeht. „Ich habe die Kontrolle für das Flugzeug.“ Und der andere erwidert: „You have control.“ – „Ich habe Dich verstanden und bestätige das.“ Klingt einfach. Aber ist es das in der Unternehmenswelt tatsächlich?

Es ist es dann, wenn sich alle Akteure klarmachen: Verantwortung beginnt bei der Kommunikation. Wer Absender einer Nachricht ist, ist dafür verantwortlich, dass diese beim Empfänger sicher landet. Es geht also darum, klare Absprachen zu treffen und dafür zu sorgen, dass jeder an Bord – also im Team – diese verbindlich bestätigt. Zuständigkeiten, Zeitplan, Ziele: All das muss vor dem Start klar festgelegt sein. Denn nur so kann sich keiner hinter dem Team verstecken.

Flexibilität heißt in dem Zusammenhang nicht, jeder macht alles ein bisschen. Flexibilität bedeutet vielmehr: Die Rollenverteilung kann und soll zwar situativ angepasst werden, muss aber dennoch klar und verbindlich geregelt sein.

Schon vor über 40 (!) Jahren stellten Flugunfallermittler fest, dass die steile Hierarchie zwischen Kapitän und Co-Pilot der Hauptgrund für Teamversagen war. Die NASA entwickelte daraufhin ein neues Rollenverständnis, das, unabhängig von Erfahrung und Dienstgrad, einen ständigen Wechsel am Steuer durch zwei vollwertige Piloten vorsieht. Damals revolutionär, heute weltweit eine Selbstverständlichkeit: Der „Pilot Flying“ steuert die Maschine und trägt die Verantwortung für die Planung und Durchführung des Fluges, während sein Kollege, der „Pilot Monitoring“, ihn dabei unterstützt und alles überwacht. Nach jedem Flug wechseln beide diese Rollen, sodass die Verantwortung klar und gleichmäßig verteilt ist.

Übrigens: Ein guter Kapitän wechselt gern in die Rolle des „Pilot Monitoring“, also des Coachs. Er schenkt dem Co-Piloten Gestaltungsfreiraum, ohne ihn allein zu lassen. Er ist bei einem kritischen Fehler zur Stelle, um einzugreifen. Aber eben nur dann. Er lässt den jungen Kollegen bewusst „überlebbare“ Fehler machen. Um zu lernen. Um zu wachsen. Denn die wichtigsten Dinge lernt man nicht in der Ausbildung oder durch Zusehen. Längst hat das Rollenmodell aus dem Cockpit den Weg in den OP-Saal, den Atomreaktor und die Chemiefabrik gefunden. Es kann Vorbild für die Unternehmenswelt sein – gerade auch für die, die neuen Regeln folgt. Denn es vereint alle wichtigen Faktoren der New-Work-Idee: eigenverantwortliches Handeln in einem starken Team, Beweglichkeit ohne Orientierungsverlust und Kommunikation auf Augenhöhe.

Unternehmen sollten so schnell wie möglich Strukturen schaffen, die es jedem Mitarbeiter erlauben, die Rolle des „Kapitäns“ zu übernehmen, dabei aber eine klare Kommunikation und ein klares Bekenntnis zu eigenverantwortlichem Handeln einfordern – und fördern.

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