Beginnen wir diesen nigelnagelneuen Newsletter mit einer Frage auf Ehre und Gewissen: Glauben Sie, dass es wirklich Hexen gibt? Oder glauben Sie es nicht? Aber egal, wie Ihre Antwort auch ausfällt, so oder so dürfte Sie der erste der fünf Deals der Woche interessieren, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de eine Woche lang (Freitag, 04.05.18 – Freitag, 11.05.18) zu jeweils stark reduzierten Preisen zu haben sind. Denn in dem „Hexensommer“ von Elke Nagel kommen Hexen vor, richtige Hexen, die allerdings nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen sind. Unverkennbar ist dagegen, dass in diesem Buch große Dinge verhandelt werden. Es geht um nichts weniger als Themen wie Wahrheit und Lüge, um richtiges Leben und falsches Leben und um die Suche nach sich selbst. Für dieses Thema hat Elke Nagel, die noch zu DDR-Zeiten aufgewachsene Leserinnen und Leser als Elke Willkomm kennen dürften, eine schöne literarische Metapher gefunden – die des Spiegelbildes und die des gestörten Spiegelbildes. Spiegelbildstörung. Willkomm im “Hexensommer“ …

Irgendwie geheimnisvoll und vor allem spannend mutet auch das bereits dritte Abenteuer des Zauberlöwen an, in dem Klaus Möckel eben jenen aus Japan stammenden Zauberlöwen unter anderem in eine Gangsterburg und durch manch anderes teils recht gefährliches Abenteuer schickt. Und wenn Sie jetzt einwenden, was denn bitteschön japanische Löwen sein sollen, dann kann man nur entgegen, dass in der Literatur alles möglich ist, zumindest fas alles. Es ist nur eine Frage der Fantasie sowie des Vertrauens zu der jeweiligen Autorin oder dem jeweiligen Autor, dass er sich bei seinen Erfindungen schon etwas gedacht haben wird. Und wer weiß, wahrscheinlich gibt es japanische Löwen tatsächlich. Wie Hexen eben.

Und damit kommen wir diesmal auch schon zum Schluss – zum Schluss der Vorrede dieses aktuellen Newsletters mit den Deals der Woche. Denn drei von fünf stammen diesmal von einem einzigen Autor, weshalb man mit Fug und Recht von einem kleinen Ulrich-Hinse-Buchfestival sprechen kann. Hinse kommt diesmal gleich mit drei sehr unterschiedlichen Titeln angesegelt. Das Spektrum reicht von einem historischen Roman über den berühmt-berüchtigten Orden der Templer und seine gewaltsame Zerschlagung über die auch nicht ganz ungefährliche Pilgerreise des Schweriner Ersten Kriminalhauptkommissars Raschke bis zu einer Geschichte aus dem kalten Krieg, die passend mit „Glatteis“ zu tun hat und mit einem „Glatteisagenten“.

Aber jetzt nochmal zurück zum Anfang dieses Newsletters und zu der dort gestellten Gewissensfrage nach dem Hexenglauben. Erstmals 1984 veröffentlichte Elke Nagel (Willkomm) im Buchverlag Der Morgen Berlin ihren Roman „Hexensommer“: Sie flogen Besen an Besen. Anne saß gerade, mit flatterndem Wolltuch; krumm hockte die Großmutter, wieder mit wehendem Haar, die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unverkennbar. Bringst du mich dorthin, wo du mein Spiegelbild getroffen hast? Die Alte lachte auf. Stell dir das nicht so einfach vor, rief sie. Wenn du es nicht allein findest, kannst du’s niemals festhalten. Sah’s selbst nur für Sekunden. Dann zersprang es in tausend Scherben. Die wirst du suchen müssen. Und zusammenfügen. Aber das wird dir nicht gelingen, wenn du nichts anderes suchst als dies. Verstehst du? Nein, Großmutter. Wer nur sich selbst sucht, wird wenig finden, am wenigsten: sich selbst. Die Wolkendecke unter ihnen hatte sich gelichtet, wurde ein dünner Schleier, verflog gänzlich, und verloren blitzten die Erdenlichter durch die Dunkelheit …

Der poetische Reiz dieses in sensibler Sprache geschriebenen Romans liegt in der Verfremdung und zugleich Doppelung der beiden Hauptfiguren. Anne Bremer, Lehrerin, wird sich endlich der Fehleinschätzung ihrer Schüler durch die zur Wahrhaftigkeit mahnende innere Stimme bewusst: Die Hexe Barbara verkörpert Annes zweites Ich, als die zweite Seite ihres Gewissens – Barbara in Anne, zwei und doch eins … Auch Annes Großmutter vermag erst als Hexe Debitrice zu erkennen, dass sie niemals auch nur den Versuch unternahm, zu handeln, wie sie es selbst für gut und richtig hielt. Für Anne Bremer war es ein langer Weg, selbstbewusst „ich“ zu sagen. In die Wiedergabe dieses Bildes floss ein großer Erfahrungsschatz der Autorin mit ein. Der kritische Roman vom Ende des vergangenen Jahrhunderts ist auch heute noch aktuell, sehr aktuell. Und er beginnt mit einem Brief, der manches erklärt und der neugierig macht auf diesen „Hexensommer“:

„Graal-Müritz, 9. Oktober …
Liebe Tina,

hab Dank für die vielen Karten und Briefe. Deine Befürchtungen sind grundlos, mein Schweigen hatte nichts Schlimmes zu bedeuten. Im Gegenteil: Ich habe gearbeitet. Endlich habe ich mich überwinden können, diese Seiten wieder in die Hand zu nehmen – zugegeben: sehr widerstrebend, denn sie waren nicht nur in die Hand zu nehmen, sondern vor allem zu lesen und zu bearbeiten.

Deine immer wiederkehrende Frage, wann ich Dir endlich etwas zu lesen schicke, ist damit beantwortet: Hier hast Du das erste Kapitel. Weitere sechs werden nach und nach folgen, aber ich hab keine Ahnung, wie lange es dauern wird. Ich streiche und streiche, schreibe über und unter, hoffentlich findest Du Dich zurecht …

Und nun werde ich warten – auf ein Zeichen von Dir, eine Reaktion, eine Meinung … Du darfst mich getrost kritisieren, ich bitte sogar darum. Möglich, besser, wahrscheinlich, dass ich manches noch immer zu einseitig sehe, dass ich mich noch nicht herausgeschrieben habe aus dieser Enge, in der ich so lange, viel zu lange gelebt hatte.

An einem darfst Du aber nicht zweifeln, Tina: Ich musste dies alles aufschreiben. Um frei davon zu werden. Um zu verstehen, was da in mir, mit mir, um mich her geschehen war. Du willst wissen, wie’s mir geht. Ich glaube, recht gut, dank dieser Arbeit, die mir sehr geholfen hat, wieder auf die Beine zu kommen, und natürlich in erster Linie dank den Ärzten, die inzwischen sehr zufrieden sind – mit mir und meinem „rebellischen Herzen“.

Noch einmal wird man mich in diesem Sanatorium nicht treffen, jedenfalls hab ich mir das fest vorgenommen. Du brauchst nicht skeptisch zu sein, Tina, Du weißt doch: Wenn die Lubahnsche sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann hat sie das schließlich auch bewerkstelligt, nicht? Also – keine Rede von „Zauberberg-Gefahren“, wie Du das nennst!

Jaja, vor einem Jahr waren sie nicht von der Hand zu weisen, ich weiß doch. Es fiel mir auf, als ich jetzt dieses erste Kapitel korrigierte … Übrigens habe ich nicht jeden Hinweis auf meine damalige Verfassung „ausgemerzt“. Denn ich will, dass man bemerkt, wie fließend die Grenzen sein können zwischen Erregung und Verwirrung – tatsächlicher Verwirrung, die die Sicht verstellt und unfähig macht zu gerechtem Denken. Vielleicht bekommst Du das zweite Kapitel schon in vierzehn Tagen! Sei herzlich gegrüßt von Deiner Anne

Erschütterung
Noch eine Stunde bis Mitternacht. Deutlich war der Frau bewusst: Über dem Strohdach der kleinen Hütte hing ein blasser Vollmond, von grauen Wolken eingerahmt; mäßiger Seewind strich durch Kiefern und Fichten; hinterm Wald redete, unhörbar für sie, das Meer wie seit Jahrtausenden, und sie saß in dieser Hütte, vor dem kalten Kamin.

Anne Bremer. Schmales, ein wenig kantiges Gesicht. Ratloser Blick: aufgestört, noch nicht zur Flucht bereit. Das Haar, schwer, rostbraun, lag über Schultern und Rücken, glänzte kupfern. Der Vollmond erhellte den Raum nicht, er verzauberte ihn: trügerische Unwirklichkeit.

Im Nebenraum schlief der Junge, sie hatte ihn vor ein paar Minuten noch mal zugedeckt und betrachtet; jetzt dachte sie nicht an ihn, obwohl sie von allen Menschen, die ihr nahestanden, dieses Kind vielleicht am meisten liebte.

Noch eine Stunde bis Mitternacht, dachte sie. Und legte die Hände gegeneinander, als wollte sie diese Stunde festhalten. Wie lange weiß ich es schon? Ahnte ich’s nicht schon vor drei Tagen, dass mir der Boden unter den Füßen verloren gegangen ist?

Vor drei Tagen …, am Montag, am ersten Tag der Lehrerweiterbildung. Verworrener Tag. Verwirrender Tag, ich will ihn zurückholen, aber ich sehe nichts als diese Treppe … Breite, geschwungene Treppe mit weißem Geländer. Weinroter Teppich, der die Schritte dämpft. Wortfetzen, Lachen, halbe und ganze Sätze verknäulten sich zu einem fröhlichen bunten Ball, Feierabend-Ball, Ferienvorfreude-Ball: noch eine Woche Weiterbildung, eine Klassenfahrt und dann: Urlaub! Sie wollte Gerhard Schütt auf diesen seltsamen Ball aufmerksam machen, aber es fiel ihr rechtzeitig ein, dass er sie nur verständnislos lächelnd ansehen würde. Oder ungehalten. Er ließ sich noch nie gern unterbrechen, wenn er redete. Dass sie kaum zuhörte, entging ihm.

Seine Worte glitten an ihr ab. Hin und wieder erreichte eins ihr Bewusstsein und blieb haften, zusammenhanglos. Dabei sprach er von ihr. Sprach von dem Referat, das sie gerade gehalten hatte. Und von seinem Referat, das den Vormittag ausgefüllt hatte. Dessentwegen er hierher gereist war, in die „Provinz“. Von seiner Hochschule. Die doch einmal auch meine gewesen ist? fragte sie sich ungläubig. Aber wie lange ist das her … Hinter sieben Bergen …

Anne! rief er plötzlich. Ist dir nicht gut? Du kamst mir reichlich nervös vor bei deinem Referat. So ein Schuljahresende ist kein Zuckerlecken, jaja … Bist du gesund? Und deine Familie, wie steht’s da? Arnold soll stellvertretender Schulrat sein, hab ich gehört. Er hat noch immer die Angewohnheit, Fragen zu stellen, ohne Antworten zu erwarten, dachte sie. Und entgegnete widerwillig: Das Schuljahresende kann dich schaffen, Schütt.

Vor allem, wenn man die Abiturklasse hatte. Das kannst du schwer nachfühlen. Auf deiner Insel. Na, na, na! Er setzte sofort die beleidigte Miene des zu Unrecht Angegriffenen, des Unterschätzten auf. Wir haben auch unsere Probleme. Und können seltener auf so messbare Erfolge zurückblicken wie ihr an der Basis. Er sagt tatsächlich: an der Basis, dachte sie erschrocken. Ihr dagegen, schwärmte er, fantastisch, was du heute ausgeführt hast! Du solltest eine Pädagogische Lesung schreiben. Du musst doch glücklich sein über solche Ergebnisse, was? Warum schreibst du nicht darüber? Was meinst du, wie du damit groß ankommen könntest!

Er nickte befriedigt, während sie sagte, genau das sei vorgesehen, dies sei heute sozusagen der Extrakt gewesen. Nickte und wiederholte: Damit wirst du ganz groß ankommen. Ja – wo denn? Wo werde ich ankommen? Wo will ich ankommen? Doch während sie das noch dachte, spürte sie schon ein angenehmes Gefühl der Zufriedenheit. Und erschrak. Mit diesem wohltuenden Gefühl hatte sie Minuten zuvor dem Applaus und Ralf Menzels Geflüster gelauscht: Hervorragend sei sie gewesen, Eindruck habe sie gemacht, endlich höre man beim Bezirk, was im Kreis Walden im Rollen sei …

Sie dachte: Stolz war ich da, wie immer, wenn man mich lobt. Vor allem: wenn er mich lobt, Ralf Menzel, mein Direktor. Und war mir doch selten so deutlich bewusst, wie fragwürdig all diese Reden sind … Denn während sie über die „Anerziehung sozialistischer Verhaltensweisen bei Jugendlichen der Oberstufe“ gesprochen hatte, am Beispiel der diesjährigen Abiturienten, war diese Vorstellung über sie hergefallen, sie stehe neben sich, höre sich selbst zu, ungläubig und kühl, voll bitteren Spottes. Und sie hatte Großmutters Stimme im Ohr gehabt, und Großmutter hatte gesagt: Schwindel, Kindchen, du machst dir doch was vor!

Und nun? fragte sie sich bestürzt. Nun bade ich mich wieder in Lobsprüchen. In Schütts Lobsprüchen. Was ist denn mit mir los? Da standen sie im Foyer vor dem Spiegel. Hoher, schmaler Spiegel mit barockem Goldrahmen. Er zeigte ein merkwürdiges Bild; sie ertappte sich dabei, dass sie es in Gedanken auf die erste Seite der Zeitung setzte und eine Bildunterschrift formulierte: „Abgekämpfte Pädagogen schreiten zuversichtlich treppab.“ Ganz oben im Bild, am Bogen der Treppe noch: die Kollegen, arg im Gedränge. Reni Maidorf erkennt sie, die kleine, runde, sie hält den blassen Toni Richter am Ellbogen und redet auf ihn ein, aber man hat nicht den Eindruck, dass er, schwitzend und müde blinzelnd, auch nur eines ihrer Worte aufnimmt. Dann schiebt sich der Chef zwischen die beiden, Ralf Menzel. Und Anne denkt in panischem Schrecken: Er will mich doch nicht einholen? Nicht doch, Ralf Menzel, ich will jetzt nichts hören, ich müsste aussprechen, was Großmutter mir geflüstert hat, müsste es dir ins Gesicht schreien: Wir sind nicht halb so gut, wie ich es gerade behauptet habe, und wer weiß das besser als wir beide, Ralf Menzel! Schau dich doch um: Hinter dir schieben sich zwei die Treppe hinunter, ein verstecktes Lächeln auf den müden Gesichtern, unser bärtiger Olaf Radinsky und der mürrisch-lustige Max Karsten, sie sprechen nicht miteinander, aber ihr Lächeln gleicht sich, ist das nicht merkwürdig? Vielleicht bedeutet es das gleiche. Beispielsweise könnte es doch heißen: Hat die Kollegin Bremer aber ein Fass aufgemacht mit ihrer Musterklasse, nun sind wir endlich groß da, ist der Chef groß da, wird er wohl bald Verdienter Lehrer werden. Er oder die Anne Bremer …

Ob sie das denken? Oder sagt sich Max Karsten gar: Schwindel, Schwindel? Aber nein. Er denkt höchstens: Meine Klasse war nicht besser und nicht schlechter als die 12 b, hätte auch solchen Wind machen können, Unsinn, das fehlte noch, wir sollten mehr tun und weniger schwätzen … Und Olaf? Was Radinsky denken könnte, weiß ich nicht. Undurchsichtig, dieser Junge …, verschanzt sich hinter seinem Bart und seinem seltsamen Lächeln …

Plötzlich, groß im Bild, alles andere verdeckend: Gerhard Schütt, Studienkollege einst, nun promovierter Pädagoge. Im dunklen Anzug, mit nervös zuckenden Augenlidern. Da dachte sie: Aber er geht doch neben mir. Nein? Wo bin denn ich in diesem goldgerahmten Lehrerspiegelbild? Sie starrte den Spiegel an. Und begriff – es war ein dumpfer, heftiger Schmerz: Ich habe kein Spiegelbild. Da schrie sie auf. Und der Spiegel drehte sich vor ihren Augen. Als sie zu sich kam, wusste sie sofort: Ich liege auf dem Boden. Vor dem Spiegel. Der mich nicht spiegeln will. Sie hörte Bruchstücke von Sätzen: Diese Hitze … Schuljahresschluss … Referat … Herz … Kreislauf … Schwindel, Kindchen, Schwindel … Aber Großmutter, was redest du nur, dachte sie. Eines steht jetzt fest: Ich bin nicht vorhanden. Denn ich habe kein Spiegelbild. Bin wesenlos … „Meine ganze Seele sträubt sich gegen das Wesenlose“ – Hölderlin. Was ist nur mit mir geschehen, Großmutter?

Anne, meine Güte, hast du mich erschreckt! Gerhards Stimme. Ist dir besser? Willst du dich irgendwo hinlegen? Bist du denn nicht gesund? Er fragte noch mehr. Aber sie schwieg. Setzte sich langsam auf, Rücken gegen den Spiegel, um sie herum: die Kollegen. Reni Maidorf mit erschrockenen großen Augen. Olaf Radinsky, bleich und verstört, an seinem Bart zupfend. Ralf Menzel griff nach ihren Händen. Anne, rief er leise. Die Berührung tat ihr wohl, sie weinte plötzlich und wusste nicht, weshalb. Lass nur, murmelte sie und stand auf, es geht schon wieder. Aber sie ließen sie nicht. Die Bluse, rief Reni, mach doch den Knopf auf, es ist zu heiß! Ob er einen Arzt holen solle, fragte Ralf Menzel, oder Arnold anrufen. Sie wehrte erschrocken ab. Es ist wirklich vorbei, sagte sie, Arnold ist heute beim Bezirksschulrat, wir sind verabredet, ich fahre dann mit ihm zurück. Lasst mich in Ruhe, ich will jetzt in die Stadt.

Das klang schroff, und nicht einmal Reni Maidorf versuchte sie zurückzuhalten. Gerhard Schütt, der verlegen abseitsgestanden hatte, kam wieder auf sie zu, schüttelte ihr die Hand. Grüße an Arnold, sagte er, gute Besserung und weiterhin viel Erfolg, Anne. Sie unterdrückte ein Lachen, das ihr plötzlich in der Kehle steckte, schluckte es hinunter und ließ ihren Mund reden. Denn nun verabschiedeten sie sich mit den üblichen, nichtssagenden Sätzen: Hab mich sehr gefreut, dich zu treffen, nach so vielen Jahren, vielleicht sieht man sich mal wieder, wäre schön …

Wäre schön, wäre schön, murmelte sie völlig sinnlos vor sich hin. Da war sie schon eingetaucht in die staub- und lärmgesättigte Julihitze. Zähe Masse aus Geräuschen und Gerüchen. Die schließt mich ein, dachte sie, die lastet auf mir, die wird mich zu Boden drücken …, wäre schön, wäre schön … Mühsam, qualvoll langsam setzte sie Fuß vor Fuß. Alles um sie her erschien ihr unwirklich, gespenstisch: Fahrzeuge, lärmende, stinkende – gefährliche Ungeheuer von fernen Planeten; die Häuser entlang der Straße schwebten im blendenden Nachmittagslicht, als wollten sie sich augenblicklich in ein Nichts auflösen; mit den hektischen, lächerlichen Bewegungen von Figuren in einer Zeitrafferaufnahme hasteten Menschen über Straßen und Gehwege. Unwirklich und fremd. Unwirklich vor allem: sie selbst. Ich? Nicht doch, nicht doch, dachte sie. Ich bin nicht vorhanden. Spieglein, Spieglein an der Wand …, was ist das, was in uns lügt?

Zehn Minuten später erreichte sie die Straßenkreuzung in der Altstadt, über die sich der nachmittägliche Berufsverkehr ergoss, gebremst und wieder entfesselt durch rote, gelbe und grüne Signale. Sie stand vor dem Fußgängerüberweg, weil die hastende Menge vor ihr erstarrt war, blickte zu dem dreistöckigen Amtsgebäude auf der anderen Straßenseite hinüber, las mechanisch die weißen Buchstaben, die dort von einem roten Transparent leuchteten. Sie fügten sich zu bekannten Wörtern, die Wörter zu einem ebenso bekannten Satz, der zum Ausdruck brachte, was niemand ernsthaft bezweifelte; Anne vergaß augenblicklich, was sie gelesen hatte. Als die Ampel ein laufendes grünes Männlein zeigte, wurde sie im Sog der vor ihr Gehenden auf die Straße geschwemmt. Und plötzlich blieb sie stehen, der Fußgängerstrom flutete rechts und links an ihr vorbei, so stand sie einen Moment wie ein Pfahl in einem Fluss und dann für Minuten ganz allein auf der Straße, denn sie stand noch, als das grüne Männlein verschwunden und statt seiner das rote aufgeleuchtet war, sie studierte die Schrift, und sie las den Satz: DIE SICH VERLIERENDEN LÄSST ALLES LOS.

Ein Wagen fuhr langsam an und bremste vor ihren Füßen. Der Gegenverkehr setzte sich in Bewegung. Ein Lastzug hielt haarscharf neben ihr, der verschwitzte Fahrer in grünem Turnhemd beugte sich gestikulierend aus seiner Kabine. Nervöses Hupen … Verlieren, dachte sie, die sich Verlierenden … vorhanden also doch? Aber verloren. Und sie formulierte mit der Beharrlichkeit und Ruhe von Betrunkenen oder Schlafwandlern: Ich habe mich verloren. Stand noch immer reglos, starrte auf diese Schrift, gebannt.“

Als Teil 3 der Reihe „Abenteuer Zauberlöwe“ legte Klaus Möckel 2012 „Der Löwe in der Gangsterburg“ vor: Mareike bekommt zu ihrer Freude einen Zwanzig-Mark-Schein geschenkt, doch dann stellt sich heraus, dass er gefälscht ist. Da noch andere „Blüten“ in der Stadt auftauchen, vermutet Florian eine Fälscherbande am Werk. Zunächst verdächtigen die Kinder einen Zahnarzt, dann die Bewohner einer ehemaligen Ritterburg. Der Löwe entdeckt einen unterirdischen Gang, der zum Burgturm führt, und beim Erforschen dieses Stollens befinden sich die Freunde plötzlich in großer Gefahr. Sie geraten in eine Falle, landen sogar im Turmverlies. Würde ihnen nicht ein Mädchen mit grünen Turnschuhen aus der Patsche helfen, stünde ihnen nicht der Löwe mit seinem Mut und seiner Klugheit zur Seite, könnte es schlimm für sie enden. Dieses dritte Abenteuer mit dem Zauberlöwen bietet erneut prickelnde Spannung und eine Reihe witziger Einfälle. Letztlich stellt sich der Fall ganz anders dar als zunächst vermutet. Die ganze Geschichte beginnt mit zwei gefährlichen Hunden und mit jemandem, der auf der Flucht vor ihnen ist, vor diesen beiden gefährlichen Hunden. Gut, dass Sie ein Leser oder eine Leserin und an seiner Stelle:

„Florian strampelte um sein Leben. Er trat ins Pedal, dass man Angst haben musste, es würde sich verbiegen oder die Kette vom Zahnrad springen. Der Sand knirschte, und die Steine auf dem holprigen Weg spritzten zur Seite. Dennoch kam er viel zu langsam voran. Langsamer jedenfalls als die beiden Hunde hinter ihm. Mit der kleinen schwarzen Töle wäre er ja noch fertig geworden, aber die Bulldogge konnte er unmöglich in Schach halten. Fast spürte er schon ihre scharfen Zähne im Po. Wenn er wenigstens einen Knüppel gehabt hätte!

Da waren die Eisenbahnschienen, aber kein Zug nahte, um sich zwischen ihn und seine Verfolger zu schieben, wie man das oft in Filmen sah. Obwohl es inzwischen bergab ging, wurde Florian wegen einiger enger Kurven eher langsamer. Rechts ein breiter Bach, beinahe schon ein kleiner Fluss. Die Dogge war bereits ziemlich nahe und die Kerle weiter hinten dachten gar nicht daran, sie zurückzupfeifen. Wahrscheinlich ein Kampfhund, fürs Zupacken abgerichtet. Schreckliche Bilder schossen dem Jungen durch den Kopf.

Keine Brücke über den Bach, vielleicht war das seine Chance. Florian sprang vom Rad. Einen Augenblick lang dachte er daran es mitzunehmen, aber schon hetzten die Köter heran und er ließ es lieber los. Rettete sich mit einem Sprung ins Wasser, das nicht sehr tief war, ihm nur bis zum Bauch reichte. Tauchte ein, kam wieder hoch, watete hastig aufs andere Ufer zu. Doch auch die Dogge sprang in den Bach. Der kleine Hund dagegen blieb am Ufer stehen, laut kläffend, er hatte offenbar keine Lust auf ein Bad. Florian begriff, dass er der Dogge selbst hier nicht so leicht entkommen konnte. Er wollte aber wenigstens Widerstand leisten, drehte sich um und schwappte dem geifernden Vieh einen Schwall Wasser in die Schnauze. Ein Wunder geschah: Der Hund kam aus dem Konzept. Er paddelte verzweifelt, spuckte und hustete, versuchte vergeblich zuzuschnappen. Bei der nächsten vollen Salve gab er bereits auf, kehrte ans Ufer zurück.

Der Junge wartete nicht ab, bis die Dogge einen zweiten Angriff startete, sondern watete zur anderen Seite hinüber und erklomm den dortigen Hang. Er war pudelnass, aber die Sonne brannte vom Himmel und er schien erst einmal gerettet. Schlimm war nur, dass er sein Fahrrad hatte im Stich lassen müssen. Zumal nun die zwei Kerle angerannt kamen, denen die Hunde gehörten. Oder nein, der eine mit kurzem, blau gefärbtem Haar erwies sich als Mädchen. Was an der Sachlage nichts änderte. „Hau bloß ab, du kleiner Schnüffler“, schrie sie, „lass dich nicht wieder hier blicken!“ Das Wort Schnüffler war ungerecht und falsch. Rein zufällig war Florian auf die Waldlichtung und den alten Wohnwagen gestoßen, für den keiner zuständig zu sein schien. Er hatte ihn ein bisschen untersuchen wollen und die beiden wohl gestört, er konnte sich jetzt auch denken, wobei. Aber mussten sie deshalb gleich ihre Köter auf ihn hetzen? Florian verzichtete auf eine Antwort. Die beiden waren viel älter als er, fast schon erwachsen und bestimmt nicht an einer fairen Diskussion interessiert. Als der Mann freilich das Rad aufhob und damit herumzukurven begann, konnte er sich nicht mehr zurückhalten.

Er brüllte: „Lassen Sie es liegen, das ist mein Renner!“
„Renner? Die Klappermühle? Hol sie dir doch, wenn es deine ist, komm rüber. Hasso freut sich schon auf dich.“ Der Kerl, der an den Armen kunstvoll tätowiert war, tätschelte den Vierbeiner.

„Das Rad ist requiriert“, rief das Mädchen. „Das können wir gut gebrauchen.“
„Nein, es ist meins.“

Die Hunde, die zwischendurch einigermaßen Ruhe gehalten hatten, fühlten sich durch das Rededuell angeregt und kläfften erneut los. „Seid still“, fuhr der Tätowierte sie an. Über den Bach herüber rief er: „Hau jetzt ab, du Zwerg, sonst überleg ich mir’s und hol dich doch noch.“

Was konnte Florian tun? Er sah ein, dass er im Moment gegen die beiden nicht ankam und zog etwas zögernd ab. Ja, wenn er sein Zauber-Ei dabei gehabt hätte, mit dem er seinen Löwen mit dem sonderbaren Namen Rex-kun heranholen konnte! Dann wäre die Lage ganz anders – er malte sich aus, wie die Angeber da drüben samt ihren Kötern Reißaus nehmen würden. Aber er hatte das technische Wunderding leider bei Mareike gelassen. Übrigens würde seine Freundin bestimmt schon auf ihn warten.

Mareike saß ein Stück hügelan im Gras, sie hatte zwar das Gekläffe gehört, aber sonst nichts von den Ereignissen mitgekriegt. Das lag an den Hecken und Bäumen, die hier überall wuchsen. Außerdem führte hinter dem Hügel eine Straße vorbei und die Fahrzeuge machten einen Riesenkrach.

„Wo bleibst du denn so lange“, fragte das Mädchen, „hast du die Cola mit? Ich hab mächtigen Durst.“

Richtig, die beiden Cola-Büchsen! Bedauerlicherweise waren sie gleichfalls eine Beute seiner Verfolger geworden. Florian hatte sie nach den Hunden geschleudert, leider ohne zu treffen. Dabei war er nur der Getränke wegen zum Zeltplatz gefahren, wo es einen Kiosk gab. Es wäre ja auch alles glatt gegangen, wenn er nicht den blöden Wohnwagen entdeckt hätte.

„Hoffentlich fahren sie das Rad nicht gleich in Klump“, sagte Florian, nachdem er die Einzelheiten geschildert hatte. „Wir müssen es schnell zurückholen.“
„Aber die Ausstellung hat nur bis fünf geöffnet.“
„Es ist erst zwei“, erwiderte Florian, „das schaffen wir spielend.“

Sie wollten zur Burg, wo es eine Ausstellung über das Mittelalter gab: Ritterrüstungen und alte Waffen. Florian war schon mit der Klasse dort gewesen, aber Mareike hatte sie wegen einer fiebrigen Erkältung verpasst. Eine Erkältung mitten im Sommer, das konnte wirklich nur ihr passieren!

„Dann werden wir jetzt also den Löwen rufen“, sagte das Mädchen.
„Klar. Wie sollen wir uns sonst die Köter vom Leib halten?“

Mareike kramte das Tamagotchi aus der Hosentasche, das technische Wunderding, doch in diesem Augenblick tauchte zwischen den Hecken eine Frau auf. Würde sie den Löwen bemerken, ginge ein Riesengeschrei los!

„Gib her, wir holen Rex raus, wenn wir am Bach sind“, murmelte Florian. „Ist sowieso besser.“

Er hatte sich gar nicht erst gesetzt, und Mareike, die aufgesprungen war, gab ihm das Ei. Sie sagte aber: „Blöde ist es trotzdem, dass wir umkehren sollen. Warum musstest du in dem Wohnwagen stöbern?“

„Der sah verlassen und echt geheimnisvoll aus“, erwiderte Florian, denn er wusste, dass seine Freundin gegen diese Erklärung kein Argument hatte. Geheimnisse liebte sie über alle Maßen. Sie war’s, die ihm früher oft von Träumen erzählt hatte, in denen es Feen und Zauberer gab. Außerdem war ihre Mutter Bildhauerin, und die Kunst hat ja auch etwas Rätselhaftes. Ob die Mutter nun Menschen-, Tier- oder andere Figuren schuf – immer schauten sie einen an wie verwunschen, schienen in Bewegung zu sein, obwohl sie fest auf ihrem Sockel ruhten.

Das Rätselhafteste aber war die Geschichte mit Rex, den man mit einer bestimmten Tastenkombination aus dem Plastik-Ei holen konnte. Als er zum ersten Mal leibhaftig vor Florian gestanden hatte, traute der seinen Augen nicht. Er war furchtbar erschrocken und versuchte wegzulaufen. Dann hatte der Löwe auch noch zu sprechen angefangen, und Florian war aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Dass man Rex-kun (ursprünglich hatten sie angenommen, das Tier auf dem Display sei ein Hund) wieder ins Tamagotchi zurückschicken konnte, war ein weiteres Wunder. Florian hielt es zwar hauptsächlich für eine geniale technische Leistung – er hätte sich gern mit den Konstrukteuren unterhalten, die den winzigen Computer im Innern des Eis geschaffen hatten – aber im Grunde wusste er, dass es keine normale Erklärung gab. Man konnte die Sache nur hinnehmen und sich darüber freuen. Denn Rex war nicht bloß sein und Mareikes Freund. Durch seine mächtige Gestalt, seine prächtige Mähne und sein scharfes Gebiss war er zugleich ihr bester Beschützer.

Mareike schnappte ihr Rad und sie rannten hinunter zum Bach. Da sie nicht auch noch ihre Sachen nass machen wollte, suchten sie eine Brücke. Die Zeit, die sie durch diesen Umweg verloren, sparten sie wieder ein, indem sie querfeldein liefen. In dem Wäldchen mit dem Wohnwagen riefen sie den Löwen. Zu diesem Zweck drückte Florian die Knöpfe drei, eins, vier auf dem Tamagotchi und sofort zuckte ein grünlicher Blitz auf. Die Raubkatze stand in voller Größe vor ihnen.

„Wo sind wir hier?“, fragte sie.
„In der Nähe des Zeltplatzes“, erwiderte Florian. „Ein Pärchen mit zwei Hunden hat mir mein Fahrrad weggenommen. Wir brauchen deine Hilfe.“
„Ich dachte, wir würden ein bisschen spielen“, murrte Rex enttäuscht.
„Das machen wir hinterher. Erst die Arbeit.“

Obwohl der Löwe demjenigen gehorchen musste, der ihn gerufen hatte, stellte er gern seine Fragen. Zumal ihn mit den beiden Kindern inzwischen eine echte Freundschaft verband. Auch jetzt ließ er sich die Vorgänge, die zum Verlust des Rades geführt hatten, genau erklären.

„Na los, bringen wir’s hinter uns“, sagte er dann und setzte sich in Trab. Sie erreichten den Weg, der zur Lichtung führte, und gleich darauf die Lichtung selbst. Durchs Buschwerk sahen sie das Mädchen mit den blauen Haaren vor dem alten Wohnwagen sitzen. Sie fläzte in einem Campingstuhl und versuchte Rauchkringel in die Luft zu blasen. Von dem Mann mit den beiden Hunden keine Spur. Auch das Rad war nicht zu entdecken.

„Tasten wir uns noch ein Stück ran“, flüsterte Florian den Freunden zu.

Sie schlichen um die Lichtung herum und waren nun ganz nahe am Wohnwagen. Aus dem gegenüberliegenden Waldstück ertönte Gebell. Wahrscheinlich hielt sich der Kerl mit den Kötern dort auf.

„Bleibt hier, ich versuch’s noch mal im Guten“, murmelte Florian.
„So wie du die beiden schilderst, hat das doch gar keinen Zweck“, wandte Mareike ein.
„Stimmt, aber du weißt ja: Rex-kuns Einsatz nur im absoluten Notfall!“

„Okay“", sagte Mareike. Sie hatten ihre Erfahrungen. Es gab immer eine Menge Wirbel, wenn der Löwe in freier Natur gesichtet wurde. Die beiden blieben in Deckung, und Florian betrat die Lichtung. Verblüfft blickte die Blauhaarige auf.“

Und damit sind wir bei dem oben angekündigten kleinen Ulrich-Hinse-Buchfestival. Das erste seiner hier angebotenen drei Bücher ist die 2015 bei der EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie als E-Book erschienene Roman aus der Zeit des kalten Krieges „Der Glatteisagent“, der auf wahren Begebenheiten Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre beruht: Hintergrund der deutsch-deutschen Spionagegeschichte sind für das DDR-Ministerium für Staatssicherheit wichtige Informationen über die Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen am Forschungsreaktor Karlsruhe. Die DDR fürchtete, dass die Bundesrepublik eine Atombombe bauen könnte. Und mitten drin war damals ein Mann namens Reiner Paul Fülle, der seinen Jägern vom Bundeskriminalamt allerdings im Sichtschutz einer Straßenbahn bei Glatteis entwischt. Später gelangt er auf eine höchst merkwürdige und unbequeme Weise in die DDR, in der er aber nicht für immer bleibt. Und der Leser versteht, warum der Teufel ein Eichhörnchen ist. Weitere Aufklärung über die wirklichen und über die literarischen Geschehnisse bringt ein Vorwort des Autors:

„Das, was Sie jetzt lesen, ist ein Roman. Er basiert auf tatsächlichen Ereignissen Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre, mitten im Kalten Krieg, an denen ich, inzwischen pensionierter Kriminalbeamter, als junger Ermittler des Bundeskriminalamtes beteiligt war. Und während ich das Buch schreibe, stelle ich fest, manchmal hat eine historische Wende ihre komischen Augenblicke. Etwa, wenn einem von einem Moment auf den anderen bewusst wird, wie absurd einiges von dem war, was man bis eben noch mit ernster Miene vertreten hat. Einige der Betroffenen sind bereits verstorben, andere leben unter anderem Namen irgendwo auf der Welt. Die grundsätzlichen Ereignisse haben aber so stattgefunden wie geschildert. Lediglich die Dialoge sind der schöpferischen Freiheit des Autors geschuldet.

Auf das, was die Agenten verraten oder aus anderer Sicht ausgekundschaftet haben, wird nicht eingegangen. Der Lauf der Geschichte hat die Dinge relativiert und belanglos gemacht. Damals aber waren die Akteure einerseits gefeierte Helden, andererseits üble Verräter, bestenfalls traurige Gestalten. Je nachdem, aus welcher Richtung – Ost oder West – man auf sie blickte. Ihre Motive waren selten edel, oft handelten sie aus Geltungssucht, noch häufiger aus reiner Geldgier. Deshalb wurden bis auf den Titelhelden Reiner Fülle sowie die MfS-Oberen Markus Wolf und Erich Mielke, die inzwischen alle verstorben sind, sämtliche Namen geändert, auch die der Kriminalbeamten. Trotz und alledem sind die längst vergangenen und vielfach vergessenen Ereignisse heute noch spannende Geschichten.

Zunächst zur Person, über die in diesem Roman ein Teil seiner Lebensgeschichte erzählt wird. Die Rede ist von Reiner Paul Fülle, geboren am 26. Dezember 1938, gestorben am 9. Oktober 2010. In Zwickau geboren, wurde Fülle während eines Besuchs bei Verwandten in Thüringen als Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit angeworben. Er war noch ein junger Mann in den Zwanzigern, als er Anfang der sechziger Jahre am Forschungsreaktor Karlsruhe als Kaufmann und Buchhalter für den Materialsektor eingestellt wurde. Aufgrund seines freundlichen Wesens war er allgemein beliebt. Er betätigte sich in der Sportgruppe und bei Betriebsausflügen übernahm er gerne organisatorische Aufgaben. Was niemand wusste oder auch nur geahnt hatte: Fülle war seit 1964 Spion des Ostberliner Ministeriums für Staatssicherheit. Gegen Geld lieferte er bis zu seiner Flucht unter dem Decknamen Klaus Informationen aus seinem Arbeitsgebiet in die DDR. Am Forschungsreaktor gab es für Fülle nicht so viel zu berichten. Das änderte sich erst, als im Forschungszentrum eine Anlage zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen gebaut wurde. Im Jahr 1968 wechselte er dorthin, wo er unter anderem für die kaufmännische Verwaltung der Kernbrennstoffe Uran und Plutonium zuständig war. Dieses Gebiet interessierte seine östlichen Auftraggeber weitaus mehr, weil man das aus abgebrannten Brennelementen gewonnene Plutonium als Material für Atombomben verwerten konnte. Etwa zehn Kilogramm Plutonium wurden benötigt, um eine Atombombe zu fertigen, für deren Bau die DDR die Bundesrepublik Deutschland verdächtigte. Und tatsächlich waren die aus verschiedenen deutschen Kernkraftwerken gewonnenen Mengen erheblich. Freilich wurde von der DDR aus Propagandagründen verschwiegen, dass diese Materialien unter strenger Aufsicht von Euratom und IAEA standen.

Am 19. Januar 1979 wurde Reiner Paul Fülle im Zusammenhang mit den Aussagen des MfS-Überläufers Werner Stiller von Beamten des Bundeskriminalamtes verhaftet. Er entkam nach Baden-Baden und wurde von der sowjetischen Militärmission am 30. Januar 1979 in einer Holzkiste in die DDR gebracht. Weil bei der Verfolgung der BKA-Beamte auf Glatteis ausrutschte, wurde Fülle in bundesdeutschen Medien als Glatteisspion bezeichnet. Nicht zuletzt, weil er immer seine persönliche Freiheit liebte, sich nur sehr ungern gängeln oder sich etwas vorschreiben ließ und weil seine Frau sich beharrlich weigerte, in die DDR umzuziehen, betrieb er seine Rückkehr nach Westdeutschland. Mit falschen Papieren ausgestattet, kehrte Fülle am 5. September 1981 zurück. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte ihn später wegen Landesverrats zu sechs Jahren Freiheitsentzug, von dem ihm ein Großteil auf Bewährung erlassen wurde. Ich habe ihn nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik mehrere Wochen vernommen und dabei gut kennengelernt. Leider gab es nach der Entlassung aus der Haft von Reiner Paul Fülle keine Spur mehr, bis ich im Internet von seinem Ableben lesen musste. Ich hätte gerne mit ihm noch einen Schoppen Wein oder ein Bier getrunken, wünsche aber seiner Frau und seiner Tochter alles erdenklich Gute und hoffe, ihnen mit meinem Buch nicht allzu nahe getreten zu sein“, schreibt Ulrich Hinse, der Vernehmer des echten Reiner Paul Fülle, des „Glatteisagenten“.

Bereits zwei Jahre zuvor, 2013, war bei der EDITION digital von Ulrich Hinse ebenfalls als gedruckte Ausgabe wie als E-Book der Krimi mit historischem Hintergrund „Das Jakobsweg-Komplott“ erschienen: Mysteriöse Morde lassen die Pilger auf dem Jakobsweg von den Pyrenäen bis Santiago de Compostela erschaudern. Zufällig wurde einer der Pilger, der deutsche Kriminalhauptkommissar Raschke aus Mecklenburg-Vorpommern, Zeuge einer Tat. Zunächst scheint die Begegnung zufällig. Dann jedoch beginnt eine Mordserie, die parallel zur Pilgerwanderung des Polizisten geschieht. Auch auf Raschke, der offenbar als lästiger Zeuge beseitigt werden soll, werden Anschläge verübt. Für die spanische Polizei wird der Deutsche zum Lockvogel, der sie zu den Tätern führen soll. Schon bald zeichnet sich ab, dass es bei den Morden um das verschwundene Gold der Templer geht und die Jagd nach dem Killer erst in Santiago de Compostela zu Ende sein könnte. Gelingt der spanischen Polizei rechtzeitig die Entlarvung der Täter und Hintermänner oder schaffen es die einfallsreichen Mörder, den deutschen Pilger aus dem Weg zu räumen? Ein spannender Krimi über den Jakobsweg und das Mysterium des Templerschatzes. Und hören wir jetzt einfach mal hinein in dieses Buch:

„In diesem Moment klopfte es von außen gegen die Fensterscheibe. Ein drahtiger, energisch aussehender Mann, Mitte bis Ende fünfzig, in einer ebenso auffälligen, roten Regenjacke, wie Raschke sie besaß, winkte hinein. Als er sah, dass die Hospitaleras Besuch hatten, zuckte er bedauernd mit den Schultern und verschwand zwischen den Bäumen des angrenzenden Parks. Raschke machte eine flapsige Bemerkung über die gleichartige Jacke, auf die von den Damen aber nicht eingegangen wurde.

„Das war Wolfgang. Er ist bereits heute Vormittag angekommen. Wir hatten deshalb reichlich Gelegenheit zu plaudern. Er kennt sich mit der Geschichte der Templer in Spanien gut aus, und wollte mehrere Tage bei uns bleiben, weil übermorgen die Templerfiesta stattfindet. Aber das geht natürlich nicht. Wir sind schließlich eine Pilgerherberge. Eine Nacht kann jeder bei uns wohnen. Wer länger bleiben will, muss sich eine Pension suchen.“

Raschke hatte interessiert zugehört. „Oh, mit dem sollte ich mich unterhalten. Die Geschichte der Templer hat mich motiviert, den Jakobsweg zu laufen. Vielleicht treffe ich ihn ja unterwegs.“

„Dann solltest du heute Abend noch mal wieder kommen. Wir haben uns mit ihm hier im Büro zum Plausch bei einer Flasche Wein verabredet, weil wir ihn genau deshalb schon gefragt haben. Uns interessiert das auch. Nach unserem ersten Eindruck ist er ein guter Unterhalter. Das wird bestimmt ein interessanter Abend. Aber um zehn Uhr ist Schluss. Dann haben wir Zapfenstreich. Dann gehen die Pilger ins Bett und die Gäste nach Hause.“

In diesem Moment klopfte es an der Tür und eine ältere Pilgerin mit auffallend schlohweißen, kurzen Haaren bat die Hospitaleras um Hilfe. Die Australierin suchte einen Stadtplan und ließ sich von den Hospitaleras umständlich den Weg zu einem Hotel beschreiben, in dem sie irgendjemanden treffen wollte. Raschke angelte seinen Pilgerpass vom Schreibtisch und ärgerte sich ein wenig, weil Marlene ihn noch nicht abgestempelt hatte, verabschiedete sich und ging langsam den steilen Anstieg hinauf in die Altstadt.

Nachdem er eine Weile ziellos durch die schmalen Gassen der Stadt gestreift war, die sich langsam mit Passanten füllten, trank er in einer kleinen Bar in Erinnerung an Ernest Hemingway, der Pamplona und das Stiertreiben weltweit bekannt gemacht hatte, dessen Lieblingsgetränk, einen Martini auf Eis mit einem kleinen Schuss Campari. Bevor er am frühen Abend zurück zur Casa Paderborn ging, kaufte er eine Flasche guten Rotwein aus dem Rioja.

Vor der Herberge angekommen, schaute er durch das kleine, erleuchtete Fenster. Dort saßen im Büro Gerda, Marlene, Wolfgang und die weißhaarige Australierin an einem kleinen, runden Tisch. Eine Kerze brannte, und jeder hatte vor sich ein Glas Wein. Einen Moment überlegte Raschke, ob er das Idyll stören sollte. Doch dann klopfte er und steckte vorsichtig den Kopf durch die Tür.

„Nur Mut, junger Mann“, winkte Marlene ihm zu, „komm und trink ein Glas mit uns.“

„Ich habe Nachschub mitgebracht“, ergänzte Raschke und stellte die Flasche auf den Tisch. Die Australierin lächelte ihm zu und verabschiedete sich. Obwohl anderen protestierten, blieb sie dabei. In einer Runde allein unter Deutschen, ohne die Sprache zu verstehen, fühle sie sich nicht wohl.

Raschke konnte das verstehen. Umgekehrt wäre es ihm ähnlich gegangen. Er setzte sich auf den frei gewordenen Stuhl. Gerda machte ihn mit Wolfgang bekannt, der Raschke ein wenig distanziert ohne große Neugier oder Interesse musterte.

„Ich weiß, dass ich mit deiner Nachbarin nicht konkurrieren kann“, versuchte es Raschke mit einem Scherz, der aber nicht gut ankam.

„Sehr richtig“, brummte Wolfgang, „deine Haare sind zu kurz und dein Bart zu lang. Du bist kein Ersatz für Heather. Aber so ist das Leben, voller Enttäuschungen.“

„Es kommt immer auf den Standpunkt oder die Erwartungshaltung an.“

Wolfgang zog verwundert die Augenbrauen hoch. Nach einigen Sekunden rang er sich zu einem Lächeln durch. „Pilgerphilosophie. Aber wenn der Wein gut ist, sei herzlich willkommen.“

Raschke stellte die Flasche auf den Tisch, setzte sich auf den Stuhl, den die Australierin frei gemacht hatte und erhielt von einer der Hospitaleras ein sauberes Glas.

„Marlene hat mir erzählt, du befasst dich mit den Templern. Ein Buch über diese faszinierenden Mönche hat mich dazu gebracht, den Pilgerweg laufen zu wollen.“

„Welches?“
Raschke nannte Titel und Autor.
„Ziemlich oberflächlich“, nörgelte Wolfgang.
„Nun ja, wie man´s nimmt. Es hat jedenfalls gereicht, mich neugierig zu machen. Ich würde gerne noch mehr über den Orden erfahren.“
Wolfgang drohte spaßeshalber mit dem Zeigefinger zu den Hospitaleras hinüber. „Na, da habt ihr wohl geplaudert?“

„Ja, so ist das auf dem Camino. Man soll nicht nur laufen, sondern auch noch was lernen. Und über die Templer würden wir gerne auch noch etwas hören. Das ist doch gerade in. Nach Dan Browns Sakrileg.“

„Ja, ja. Der gute Dan Brown“, seufzte Wolfgang, „haarsträubende Thesen. Die Geschichte der Templer, insbesondere ihr Untergang in Frankreich, ist recht gut erforscht. Merkwürdigerweise hat die Wissenschaft die Templer auf der Iberischen Halbinsel sträflich vernachlässigt. Da gibt es noch so manches Geheimnis zu lüften.“

„Du machst mich neugierig. Ich würde gern etwas zu den Templern hier in Spanien hören.“

„Uns interessiert das auch. Lass dich nicht länger bitten. Wir haben nicht unendlich Zeit“, ergänzte Gerda und entspannte die Situation, in dem sie die Flasche Wein entkorkte, die Raschke mitgebracht hatte.

Seinem Gesichtsausdruck nach, fühlte Wolfgang sich gebauchpinselt. „Auch auf die Gefahr, ins Dozieren zu kommen, sage ich gerne etwas dazu. Wenn ihr Fragen habt, unterbrecht mich.“´

Genau zwischen der Veröffentlichung des „Glatteisagenten“ 2015 und des „Jakobsweg-Komplotts“ 2013 liegt das Erscheinen des 2014 wiederum bei der EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie als E-Book präsentierten historischen Roman über den Verbleib des Templerschatzes anno domini 1307 „Das Gold der Templer“ von Ulrich Hinse: Jaques de Molay, der Großmeister des in der ganzen Welt des Orients und des Okzidents bekannten, geschätzten aber auch gefürchteten Templerordens war entsetzt. Sein Orden sollte aufgelöst, die Ritter verhaftet werden und das riesige Vermögen der französischen Krone zufallen. Die Haftbefehle waren bereits ausgestellt und an alle Gouverneure und Bischöfe in Frankreich verteilt worden. Am Freitag, dem 13. Oktober 1307, sollen in den Morgenstunden überall im Land die Vasallen des Königs jeden Templer festnehmen und einkerkern. Alle Templer zu retten scheint dem Großmeister nicht mehr möglich. Deshalb stellt er in aller Eile drei Maultierkarawanen zusammen, die mit wenigen Leuten das Archiv und das Gold in Sicherheit bringen sollen. Eine Karawane ist für England bestimmt, eine soll über See nach Portugal gehen und eine weitere auf die Festung der Templer nach Ponferrada in Spanien gebracht werden. Der junge flandrische Tempelritter Jan van Koninck hat zusammen mit dem Stellvertreter des Großmeisters die Ehre, die Karawane nach Spanien in Sicherheit zu bringen, als in den Pyrenäen sein Mentor erschlagen wird. Die Verantwortung lastet ab sofort auf seinen Schultern. Gelingt es ihm wirklich, die kleine Karawane gegen alle Widerstände im Winter über die Pyrenäen zu bringen und Ponferrada zu erreichen? Eine stattliche Anzahl französischer Soldaten, geführt von einem alten Landsknecht, hat sich auf seine Spur gesetzt. Und auch innerhalb der sonst eingeschworenen Templer gibt es Widerstände. Es erscheint mehr als fraglich, das Gold vor dem gierigen französischen König Philipp IV. und seiner nicht viel besseren Frau Johanna von Navarra in Sicherheit zu bringen. Ein Roman aus der Zeit des finsteren Mittelalters, in der es ehrenhafte Ritter aber ebenso viele Schurken gab.

Diesmal befinden wir uns nicht am Anfang des Buches, sondern ein gutes Stück später – aber natürlich immer noch an der Seite von Jan van Koninck, dem eine spannende und dem modern gesprochen eine gewissermaßen karrieretechnisch wichtige Begegnung bevorsteht: „Die Strecke bis Lille kannte Jan. Von dort hatte er vor gut einem Jahr die Ritter um Jaques de Chatillon abgeholt und nach Schloss Wynendael geführt. Freiwillig hatte er das damals nicht getan und den einen oder anderen Umweg mit eingebaut. De Chatillon hatte sich irgendwann in einem engen Hohlweg an einem Brombeergebüsch leicht gekratzt, seinen rechten Ärmel zurückgestreift und gesehen, dass ihm ein Dorn die Haut verletzt hatte. Obwohl es keine große Sache war und die kleine Verletzung von ihm selbst verursacht worden war, hatte de Chatillon auf den Flandern geschimpft. „Ich glaube, der Junge führt uns absichtlich durch solch schauderhafte Wege. Ich denke, ich werde ihn am nächsten Baum aufknüpfen. Komm einmal näher, du Lump“, hatte er gerufen und Jan zu sich gewunken. Der aber war zurückgewichen und es sah aus, als wenn er flüchten wollte. De Chatillon war noch ärgerlicher geworden und hatte seine Knappen aufgefordert, den Jungen zu fangen und am nächsten Baum aufzuhängen. Da erst war ein zweiter Ritter eingeschritten und hatte die Aktion gestoppt.

„Schluss jetzt mit diesem Theater, de Chatillon. Reißt Euch am Riemen. Wir müssen nach Wynendael, und zwar heute noch. Also reitet und lasst den Flandern am Leben.“ Der Ritter, der de Chatillon zur Ordnung gerufen hatte, war ein stattlicher Mann mit einem weißen Mantel und einem roten Tatzenkreuz unter der linken Schulter. Der Franzose hatte zwar noch ein paar Einwände, um sich ohne Gesichtsverlust aus der Angelegenheit zu lösen, gab dann aber knurrend nach, nicht ohne noch eine Drohung zuzurufen. „Wenn wir uns wiedersehen, wirst du es nicht überleben.“ „Wir werden ja sehen“, hatte Jan geantwortet und war im dichten Wald verschwunden, während die Ritter fluchend ohne Führer weiterreiten mussten. Jetzt, wo er genau diesen Weg allein zurückging, mit einem neuen Ziel vor Augen und ohne sich von Vater und Bruder verabschiedet zu haben, ging er natürlich direkt und ohne Umweg. Von der Mutter konnte er sich nicht verabschieden. Sie war schon lange tot. Bei seiner Geburt war sie gestorben. Und obwohl sie ihm das Leben geschenkt hatte, empfand er nichts für sie. Sie war für ihn nicht da. Die Magd Marie, die ihn und auch seinen Bruder großgezogen hatte, war inzwischen auch verstorben.

Die Sonne war gerade im Osten aufgegangen, rot leuchtend und umrandet von Regen verheißenden Wolken. Noch aber war es trocken und so schritt er kräftig aus. Verschiedenen Reitertrupps, die er frühzeitig erkannte, wich er in die Gehölze links und rechts des Weges aus. Deshalb wusste er nicht, ob es Franzosen, Engländer oder Flandern waren. Gegen Abend hatte er die Gegend um Lille erreicht. In einem steinernen Gasthaus kehrte er ein und nachdem der Wirt sich überzeugt hatte, dass der junge Mann im ledernen Wams und dem großen Schwert an der Seite kein Wegelagerer, Räuber oder Dieb war und eine Unterkunft auch bezahlen konnte, wischte er an einem Tisch draußen im Hof die Essensreste weg und stellte einen Humpen mit Bier und ein Stück Brot auf den Tisch. Dann trollte er sich wieder in seine Schankstube. Während Jan in den Abendhimmelstarrte und darüber nachdachte, ob es noch regnen oder trocken bleiben würde, kam ein kleiner Reitertrupp in den Hof. Der Kleidung nach war es ein Templer mit einigen Getreuen und mehreren Pferden. Sofort stürzte der Wirt mit einigen Knechten auf den Hof und nahm den Templern die Pferde ab. Der Ritter mit dem weißen Mantel lachte und hieb dem Gastwirt freundlich die rechte Hand auf die Schulter. Obwohl der Wirt kein schmächtiger Mensch war, knickte er doch merklich ein, was den Ritter noch mehr belustigte.

„Bringe er uns gut zu trinken und noch besser zu essen und dann lasse er uns zufrieden“, erklärte der Weißmantel und setzte sich an den Nebentisch, ohne Jan zu beachten. Nachdem die Getreuen des Ritters das umfangreiche Gepäck versorgt hatten, setzten sie sich wie selbstverständlich mit an den Tisch, sehr ungewöhnlich für eine Zeit, wo Herren und Knechte immer getrennt saßen. Was sie sich dort erzählten, konnte Jan nicht verstehen, obwohl er sich alle Mühe gab.

Jan kramte nach dem Siegel, das er in seiner Brusttasche stecken hatte. Erst etwas unsicher, dann etwas forscher spielte er mit dem münzähnlichen Siegel. Wie von selbst rollte das plötzlich vom Tisch herunter, hüpfte über die gepflasterten Steine und blieb vor dem Fuß des Ritters liegen. Der hatte den Vorfall gar nicht bemerkt. Erst einer seiner Getreuen machte ihn durch ein Nicken des Kopfes darauf aufmerksam. Er bückte sich und klaubte den Gegenstand auf. Erstaunt zog er die Augenbrauen zusammen, als er erkannte, was er aufgehoben hatte. Dann drehte er sich um. „Euch ist etwas heruntergefallen“, sagte er mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme, „seid Ihr sicher, dass es rechtmäßig Euch gehört?“

Jan bekam einen Kloß in den Hals und nahm allen Mut zusammen, dem Ritter so zu antworten, dass der seine Anspannung nicht merkte. „Ja, edler Herr, das Siegel gehört mir. Ich erhielt es von meinem Freund Gerald van Nieuwland.“

„Ach, wirklich? Warum sollte Bruder Gerald gerade Euch dieses Siegel geben? Ihr habt es ihm gewiss gestohlen. Deshalb werde ich es behalten.“

„Nein, mein Herr, das Siegel gehört mir und ich will es von Euch wieder zurück.“ Fordernd hielt Jan dem Ritter seine Hand vor die Brust. Der schaute erst verwundert auf die Hand, dann auf Jan van Koninck.

„Holla, genug Mut habt Ihr ja. Aber bevor ich Euch das Siegel zurückgebe, will ich genau wissen, wie und wann ihr es erhalten habt. Und keine Lügen.“

Jan schluckte einen Moment, dann trank er aus seinem Krug einen Schluck und begann seinen Bericht über die Schlacht von Kortrijk, den Tod seines Freundes Gerald und das Geschenk, was ihm der sterbende junge Ritter gemacht hatte. Und was er damit wollte.

Der Templer hatte zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Auch seine Gefährten hatten interessiert dem Bericht gelauscht. Als Jan geendet hatte, streckte er erneut die Hand aus.

„Kann ich mein Siegel jetzt wiederhaben. Ich schulde es meinem Freund, dass ich nicht leichtfertig damit umgehe.“
Der Ritter lachte. „So, so. Nicht leichtfertig damit umgehen. Und was hat dazu geführt, dass es mir vor die Füße rollte?“
„Das habe ich so gewollt.“
Erstaunt lehnte sich der Ritter zurück. „So, so, das hat er so gewollt?“, äffte er den jungen Mann nach.
„Ja, edler Herr, ich möchte zu den Templern und sah darin eine Möglichkeit, mit Euch ins Gespräch zu kommen.“
„Seht her, Brüder“, rief der Templer seinen Gefährten zu, „er will zu den Templern und treibt sein Spiel mit mir. Was sagt ihr dazu?“
„Ist er ein Ritter oder ein Handwerker?“, rief einer der Gefährten, die mit dem Templer an einem Tisch saßen.

„Ich bin beides“, erklärte Jan, „ich habe Weber gelernt und wurde vom Grafen Robert von Bethune zum Ritter geschlagen. Zusammen mit meinem Freund Gerald van Nieuwland, meinem Bruder und meinem Vater und dann haben wir gegen die Franzosen gekämpft.“

„Ja, ja, ich habe gehört. Die französischen Ritter haben den Streit mit euch Flandern überraschend verloren. Respekt. Das hatte niemand erwartet“, und dann grinste der Templer, „und Philipp der Schöne schon gar nicht. Kommt her, setzt Euch zu uns an den Tisch. Ich werde Euch ein wenig von unserem Orden erzählen und dann entscheidet, ob Ihr mit uns reitet. Wir wollen nach Paris, in die dortige Komtur, unseren Temple.“

Jan erhob sich, nahm seinen Krug und das Brot und setzte sich zu den Templern. Der Ritter mit dem weißen Mantel und dem roten Tatzenkreuz unter der linken Schulter grinste. Er schlug Jan auf die Schulter. „Weißt du, mein Freund“, sagte er und trank einen kräftigen Schluck Wein aus dem Becher, der vor ihm stand, „wir Tempelritter sind alle Individualisten. Wir pfeifen auf die Gesetze aller weltlichen Herrscher, halten uns aber streng an unsere eigenen Regeln. Unser Name und unser Tatzenkreuz symbolisieren Freiheit, sie sind unser Warenzeichen. Wir sind geachtet und gefürchtet. Wir sind zwar ein Mönchsorden, aber gleichzeitig Abenteurer und vor allem geschickte Geschäftsleute. Nicht nur die wenigen adeligen Ritter, auch viele zu Rittern aufgestiegene Handwerker und bewaffnete Knappen haben sich im Orden zusammengefunden. Bezahlt werden wir mit einer Währung, für die Männer besonders empfänglich sind. Mit Macht. Die Mehrzahl von uns, und das sage ich in voller Freizügigkeit, sind Typen, die ohne Tatzenkreuz auf der linken Schulter abgehalfterte Herumtreiber wären, die irgendwann einmal am Strick des Henkers geendet hätten. Stattdessen erhalten wir Ehrerbietung und Respekt. Wer kann, geht uns aus dem Weg und legt sich nicht mit uns an. Unser weißer Mantel leuchtet auch in der Dunkelheit. Das schreckt Gesindel und Räuber ab. Aber es hat einen Nachteil. Wer uns finden will, der findet uns.“

„Der weiße Mantel hat aber auch einen Vorteil“, wandte Jan ein.
„Und der wäre?“, knurrte der Templer.
„Wer Euch finden will, der findet Euch.“

Einen Moment dachte der Ritter verdutzt nach. Dann schlug er sich mit einem lauten Lachen auf den Schenkel. „Mein junger Freund, Ihr habt Humor. Das schätze ich. Ich nehme Euch mit nach Paris. Ihr bekommt eines meiner Pferde und müsst nicht mehr durch den Dreck der Straße laufen. Aber Ihr habt Euch noch nicht vorgestellt. Wer seid Ihr?“

„Ich bin Ritter Jan van Koninck, der Sohn von Ritter Pieter van Koninck, dem Führer der Weberinnung in Flandern, und Bruder von Ritter Wim van Koninck.“

„Recht so, Ritter Jan, Ihr seht zwar nicht wie ein Ritter aus, aber ich will Euch das erst einmal glauben“, antwortete der Templer, stand auf und deutete eine leichte Verbeugung an, „und ich bin Ritter Guido de Voisius aus Rennes le Château, einem kleinen Ort in den Pyrenäen. Ich bin der Seneschall des Ordens und vertrete unseren Großmeister Jaques de Molay hier in Frankreich. Und die Gefährten mit den braunen Mänteln sind Sergeanten unseres Ordens. Der im schwarzen Umhang ist unser Kaplan. Sie sind wie meine Brüder.“

Dann wies er auf einen jüngeren Mann, der ein paar Plätze weiter saß. „Und das ist Johann Laurenz. Er ist mein direkter Mitstreiter. Er ist der Sohn eines Baders aus Aachen und schon einige Zeit bei uns im Temple in Paris. Er wird dir mein zweites Pferd übergeben, damit du nicht hinter uns herlaufen musst. Es ist nicht gut, wenn ein Ritter zu Fuß nach Paris kommt.“

Der Gefährte, der Johann Laurenz genannt wurde, deutete eine leichte Verbeugung an und lächelte. „Morgen früh bei Sonnenaufgang geht es weiter. Rothaar, seid pünktlich, sonst reiten wir ohne Euch“, mahnte der Sergeant. Sie wechselten noch einige Worte, dann verzogen sich alle auf ihre Nachtlager. Jan fiel die Disziplin der Männer auf. Keiner betrank sich, keiner ging eigene Wege. Eine Truppe wie aus einem Guss, stellte er fest. Und dann konnte er nicht schlafen. Unruhig wälzte er sich auf seinem Strohlager hin und her und so war er zum Sonnenaufgang unausgeschlafen, aber pünktlich auf dem Hof.“

Und nun lassen wir den künftigen, im Moment noch etwas unausgeschlafenen Tempelritter Jan wieder allein und wollen uns für heute langsam verabschieden. Schließlich brauchen Sie vielleicht noch ein bisschen Zeit für die Entscheidung zwischen Mittelalter und kaltem Krieg, zwischen Suche nach dem Lebenssinn und dem Entlarven einer Blüten-reichen Fälscherbande. Apropos sprechende japanische Löwen: Können Sie sich eigentlich noch daran erinnern was eigentlich ein Tamagotchi war und wie man es bedienen musste?

Vielleicht haben Sie ja sogar noch eines in Ihrem Besitz. Aber Vorsicht bitte: Nicht zu sehr ablenken lassen. Viel Spaß beim Lesen, gute Reise durch bewegte Zeiten und bis demnächst. Und noch eine Mini-Lektion in Japanisch: Im Tamagotchi steckt das japanische Wort „tamago“ …

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital wurde 1994 gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern.

Insgesamt umfasst das Verlagsangebot derzeit fast 900 Titel (Stand Mai 2018)

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