Wo liegt eigentlich Kaupitz? Um es gleich vorwegzunehmen, wir wissen auch nicht so genau, wo der Autor des ersten der fünf Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 26.10.18 – Freitag, 02.11.18) zum Sonderpreis zu haben sind, diesen Ort angesiedelt hat. Wir wissen nur, dass Joachim Nowotny für „Jagd in Kaupitz“ drei Jugendliche ge- oder besser erfunden hat, die schon mehr vom Leben verstehen als man das manchmal für Zwölfjährige annimmt. Und sie wissen sich auch zu helfen, als sie die Erwachsenen nicht so richtig ernst nehmen wollen. Im Übrigen kann man nur empfehlen, nicht nur seine „Jagd in Kaupitz“, sondern auch andere Titel dieses Schriftstellers erstmals oder wieder zu lesen, der von 1967 bis 1982 auch anderen Kollegen das Schreiben gelehrt hat – als Dozent am Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ in der Tauchnitzstraße. Auch „Jagd in Kaupitz“ zeigt, dass Nowotny sein Handwerk verstand und offenbar auch manches vom Waidwerk …

Mit dem Vietnam nach dem Vietnam-Krieg macht Helmut Preißler den Leser in zwei relativ kurz nacheinander veröffentlichten Büchern bekannt – „Lotoskerne“ und „Der Traum im Baumhaus“.

Die tragikomische Geschichte vom Robert Küster, der in seinem Leben dauernd in die merkwürdigsten Situationen gerät, erzählt Egon Richter in „Der Tod des alten Mannes“.

Auf spannende Weise hielt Manfred Richter in „Dieser miese schöne Alltag“ einen Teil seines schweren und schönen Lebens fest.

Nebel“ – so heißt der Krimi von Wolfgang Schreyer, in dem es nicht ums Wetter geht, wie dieser Titel vielleicht vermuten lassen könnte, sondern um einen Schriftsteller des Nachnamens Nebel, der nicht mehr dazu kommt, seinen geplanten Politthriller zu schreiben. Der Tod kommt ihm dazwischen. Und zum zweiten Mal ermittelt Schreyers Kriminalkommissar Christian Wendt.

Und damit zurück nach Kaupitz.

Erstmals 1964 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Jagd in Kaupitz“ von Joachim Nowotny: Heino, der lange Bartel, Brocken-Theo und der kleine Belo sind aufgeweckte zwölfjährige Jungen, die immer über alles Wichtige in ihrem kleinen Dorf informiert sind. Sie sind nun alt genug, um an der geplanten Treibjagd mitzuwirken. Aber die Jagdgemeinschaft können sie nur mit einer kleinen Notlüge von einem riesigen Keiler überzeugen. Als es spannend und tatsächlich ein Keiler geschossen wird, lässt man die Jungen links liegen. Doch diese lassen sich von ihrem Jagdeifer nicht abbringen. Sie haben neue Einfälle und großen Mut; denn im Wald gibt es ja noch einen kapitalen Rehbock! Das Buch beginnt mit einem überraschenden Besucher und mit einem kleinen Irrtum, welcher aber rasch aufgeklärt wird. Im Übrigen drehte das Fernsehen der DDR nach der Vorlage von Joachim Nowotny 1971 das gleichnamige Fernsehspiel „Jagd in Kaupitz“, in dem unter anderen Jürgen Zartmann, Harry Hindemith und Günter Naumann sowie Eckart Friedrichson mitwirkten. Letzterer war und ist Millionen DDR-Kindern besser bekannt in seiner Rolle als „Meister Nadelöhr“. Aber das nur nebenbei und zurück nach Kaupitz und zum Anfang der „Jagd in Kaupitz“:

„Der Sonntag kommt auf leisen Sohlen

  1. Kapitel

Im oberen Fensterwinkel hockt ein winziges glänzendes Männchen. Eitel wie ein Junghahn spreizt es sich in einem Mantel aus purem Gold. „Bin ich nicht ein passables Kerlchen?“

Jedes Mal, wenn sich der Wicht vor den Scheiben dreht, schießen weißgelbe Blitze aus den Mantelfalten in die Schlafkammer. Zack! trifft einer den braunen Kleiderschrank. Zack! Ein zweiter das Spiegelvertiko. Auf der Vertikoplatte stehen geschliffene Biergläser und Weinkelche. Sie lassen sich den Beschuss nicht gefallen. Sobald der Blitz auf eine Schleifkante trifft, schleudern sie ihn zurück. „Da hast du’s!“ So tobt der Kampf. Mit der Zeit verlieren die Blitze ihre Zielrichtung. Zack! fährt einer aufs Deckbett. Zack! ein anderer genau auf meine Nase. Mit einem Ruck richte ich mich auf. „Wart, Bürschchen, ich werd dich gleich packen!“

Erst muss ich mir die Augen reiben. Und dann? Wo ist das Männchen? Keine Spur mehr davon. Der Fensterwinkel beherbergt ein Stück Sonne. Die Blitze, das waren ihre Strahlen. Ich habe halb und halb geträumt und in den hellen Tag hinein geschlafen. Warum hat mich die Großmutter nicht geweckt? Ich muss doch längst in der Schule sein. Dann lasse ich mich ins Kissen zurückfallen. Es ist Sonntag heute. Alle Welt schläft länger als sonst, sogar die Lehrer. Also kann auch ich noch ein Weilchen liegen.

In der Küche rumort die Großmutter mit dem eisernen Topf. Ich höre es genau. Im ganzen Dorf gibt es nur einen Topf, der so schwer ist. Jedes Mal wenn die Großmutter den Topf mit dem Ziegenfutter auf den Herd hebt, jammert sie laut auf: „Jemine! Mein Kreuz!“ Gleich darauf schimpft sie los. „Er kommt mir aus dem Haus, das Luder! Krumm und lahm schleppt man sich.“

Wenn es der Großvater hört, kneift er das linke Auge zu und schüttelt den Kopf. Begreif einer die Weibsleute! Zwanzig Jahre lang schimpft sie schon auf den Topf. Ist sie vielleicht auf ihn angewiesen? Oben auf dem Herdsockel steht ein blitzender Aluminiumtopf. Ein Geburtstagsgeschenk von ihm. Man kann ihn auf dem kleinen Finger balancieren, so leicht ist er. Aber die Großmutter verschmäht ihn. Das dünne Metall hält die Hitze nicht fest. Sobald das Feuer im Ofenloch verflackert, hört das Ziegenfutter auf zu kochen. Immerfort muss angelegt werden. Das viele Holz!

Der Großvater zwinkert noch ein bisschen mehr mit dem linken Auge. Er lässt die Ausrede nicht gelten. Der Mensch muss mit der Zeit gehen. Neue Zeiten, neue Töpfe, jawohl. Wer immer am Alten klebt, der soll sich gefälligst nicht über Kreuzschmerzen beklagen. Und außerdem: Wer sorgt denn für das Holz? „Kümmre dich nicht um die paar Scheite“, sagt der Großvater, „bis jetzt hat es immer gereicht.“

Die Großmutter ist nicht zu schlagen. „Well ich hinten und vorne spare, deshalb reicht es“, antwortet sie.

Ist der Streit soweit gediehen, dann zwinkert der Großvater nicht mehr mit dem linken Auge. Er schüttelt auch nicht den Kopf. Plautz! haut er die Küchentür zu. Dann stapft er mit gewichtigen Schritten aus dem Hause. Quer über den Hof geht er zum Schuppen. Dort packt er Axt, Säge, Spaten und einen Sack mit eisernen Keilen auf die Heukarre. Zuletzt holt er den schweren Hammer aus der Schuppenecke. Wir nennen ihn Mortak. Kein Mensch weiß, wie der Hammer zu so einem Namen gekommen ist. Nicht lange, und das eisenbeschlagene Karrenrad rumpelt auf dem Pflaster. Der Großvater fährt in den Wald, um Kiefernstubben zu roden. Er wird sich nicht vorwerfen lassen, dass sich irgendjemand seinetwegen Kreuzschmerzen anheben muss. Heut ist alles so wie sonst.

Alles? Das Stöhnen der Großmutter war da und auch die Schimpfkanonade. Der Streit brach aus, und die Küchentür schlug zu. Sogar die gewichtigen Schritte des Großvaters auf dem Hauspflaster habe ich gehört. Und auch das Rumoren im Schuppen. Nun liege ich auf der Lauer und warte auf das Rumpeln des Karrenrades. Es kommt nicht. Dafür ertönt ein sonderbares Kratzen und Scharren im Hof. Raaatsch, raaatsch geht es, und dazwischen ist immer ein kurzer Schritt des Großvaters zu hören.

Diese Schritte verwirren mich. Immer wenn der schwere Mann über das Pflaster geht, klirren die Gläser leise auf der Vertikoplatte. Heut rühren sie sich nicht. Und doch stapft der Großvater auf dem Pflaster auf und ab. Aber es klingt, als ginge er in einer Schicht Watte.

Die Sache muss untersucht werden. Ich raffe mich auf und suche mit den Füßen die Pantoffeln. Mein Blick springt aus dem Fenster. Da habe ich die Bescherung. Draußen liegt Schnee. Weißer, leichter Pulverschnee liegt auf der Wiese, soweit ich sehen kann. Und nicht nur das. Das ganze Land hat sich verändert. Gestern noch kroch der Mühlgraben hinter unserem Hause wie eine graue Schlange im grauen Gras. Heut aber ist das Wasser beinah schwarz, und doch glänzt es in der Sonne. Gestern noch waren die Stämme des Kiefernwaldes hinter einem Nebelschleier verborgen. Heut wetteifert ihre Bräune mit dem Grün der Nadelkronen und der Himmelsbläue. Der weiße Schnee hat den grauen Schleier über Nacht weggeputzt. Die Welt glänzt wie ein polierter Speckstein. Wie kann ich jetzt noch nach den Pantoffeln suchen? Auf einem Bein hüpfe ich aus der Schlafkammer über das Flurpflaster in die Küche. „Wo sind meine Stiefel?“

Die Großmutter macht mit dem Messer ein Kreuz auf dem Brotlaib, ehe sie ihn anschneidet. „Barfuß in der Kälte“, barmt sie. „Hast du nicht schon Husten?“

Ich höre nicht hin und krame im Eimerschrank unter den Schuhen. Endlich finde ich meine Langschäfter. „Wo ist die Stiefelschmiere?“

Da knallt die Großmutter das Messer auf den Tisch. „Immerfort Ansprüche, der Lauser! Bloß guten Morgen kann er nicht sagen.“

Recht hat sie. Über den Schnee vergess ich noch meinen Anstand. Im Nachthemd und auf einem Bein stehend versuche ich einen tiefen Diener. „Sei gegrüßt, großmächtige Oma.“

Wie ich mich aufrichten will, klatscht mir der Waschlappen ins Gesicht. Ich verliere das Gleichgewicht und falle in die Eimerecke. So eine Hinterlist!“

Zwanzig Jahre nach der „Jagd in Kaupitz“ von Joachim Nowotny kam im Verlag Neues Leben Berlin „Lotoskerne“ von Helmut Preißler heraus. Und noch einmal zwei Jahre später erschien im Kinderbuchverlag Berlin vom selben Autor „Der Traum im Bambushaus“: Als Helmut Preißler Vietnam kennen lernte, war der Krieg der USA-Aggressoren beendet. Er erlebte ein Land, dem unvorstellbares Leid widerfahren war und das einen mutigen Aufbruch wagte. Im Alltag stieß er immer wieder auf die finsteren Spuren, die der Krieg hinterlassen hatte: Bombentrichter, verseuchte Erde, zerstörte Häuser, die schmerzliche Erinnerung an die Toten. Aber er sah auch die wieder mit Radfahrern belebten Straßen Hanois, die grünenden Reisfelder, das Kind, das seine Aufgaben auf dem Rücken des Büffels schreibt, erfuhr die Zuversicht und Kraft der Menschen, die wiedererstehende Schönheit des Landes. „Der Traum im Bambus“ ist ein Kinderbuch, das Kinder und Erwachsene Preißlers Begeisterung für das ferne Land und seine Menschen in einer wunderschönen Geschichte nacherleben lässt. Hier zwei der Preißlerschen Gedichte:

VERGESST ES NICHT ZU BALD

Der Kern der Lotosblüte

ist wie ein Nusskern hart;

in ihm sind berauschende Düfte

für immer aufbewahrt.

Zart ist die Lotosblüte,

ihr Leuchten verglüht und verblasst;

der Lotoskern lebt tausend Jahre,

wenn ihr die Erde leben lasst.

Die ihr noch wisst — vergesst es nicht zu bald,

wie Mauern bersten, Fensterglas zerklirrt!

Das Haus schlag‘ auf euch ein, lässt es euch kalt,

wenn noch so fern ein Haus zertrümmert wird!

Wer aus dem Hause ging, kehrt nie mehr heim.

Die drinnen war, liegt tot nun auf der Tür.

Hörst du die Steine? Hör, die Steine schrein:

Wir sind nicht schuldig? Schuldig sind nicht wir!

Sie morden jetzt in andren Dschungelkriegen.

Helft den Bedrängten, wie ihr halft in Vietnam,

bis auf dem Erdenrund die Völker siegen

und jeder Söldner wieder ist, woher er kam.

Seht sie euch an! Lest in Gesichtern! Seht!

Fünf Menschen und ein Unmensch. Nie vergesst,

wie groß der kleine Mensch in Tod und Folter geht.

Vergesst den Ranger nicht, der sie nicht leben lässt!

Was denkt der Mensch, der er doch war? Empfindet

er Schuld? O nein, ihm zittert nicht die Hand.

Er hat nur ein paar Hütten angezündet;

sein Chef steckt ganze Erdteile in Brand.

Tief in die Grube fällt durch Gitter Licht.

Die Sonne glüht, die Wolken ziehn vorbei.

Vom Grund des Käfigs: Hell das Menschenangesicht

und oben sind die Bestien frei.

Hier kann der große Boss aus Übersee

mit seiner Schlächterschar zufrieden sein.

Starrt nicht verstört! Erinnert Lidice!

Ein gleicher Boss — die gleichen Schlächterein.

Vor Wolken Angst? Nein. Regen ist doch schön.

So ein Taifun, ja, der ist fürchterlich,

doch kann man ihm mit vielen widerstehn.

Nur vor dem Bombenregen fürcht‘ ich mich.

Was wäre von Venedig noch zu sehn,

wär solche Bombenlast dort explodiert.

Auch diese Straße am Kanal war schön.

Ein Bomber hat die Schönheit ausradiert.

Ihr, die ihr Bomben ausklinkt über Städten,

seht Planquadrate. Männer, habt den Mut:

Stellt euch den Gegner vor: Er flieht aus Kinderbetten

zum Unterstand. Sein Schutz: ein Reisstrohhut.

Dreitausend Kinder in Haiphong sind kriegsversehrt.

Sie haben keine Schlacht geschlagen.

Sie haben keine Waffe getragen.

Sie haben sich nicht gewehrt.

Das ist mein Bunkerloch. Wenn Bomber kommen,

spring ich hinein. Mein Büffel weiß Bescheid:

Er taucht ganz tief, ist noch nie fort geschwommen

und nie herausgekommen vor der Zeit.

Dreitausend Felsen ragen aus dem Meer.

In Heiterkeit gebadet ist der Strand.

In dieser Bucht stand keine Hütte mehr.

In Felsenhöhlen wuchs der Widerstand.

Fern von daheim kämpf ich für’s Vaterland.

Ich fiel vom Himmel. Bitte, mich zu schonen!

Hier steht’s in Ihrer Sprache auch: Die mich gesandt

mit meinem Bomber, werden Sie belohnen!

Erfolg beweisend, hat er vor dem Steigen

noch rasch den eignen Schatten aufgenommen.

Die Brücke ist zerstört. — Es wird sich zeigen,

wie weit am Ende die Zerstörer kommen.

So groß und mächtig sehen Helden aus.

So zierlich sie, die ihn gefangennahm.

Er weiß: Wär’s umgekehrt, wär’s mit ihr aus!

Angst senkt den Blick; glaubt nicht, es wäre Scham!

Er sagt, es war sein Job, war Brot und Lohn.

Er sei Familienvater und ein guter Christ.

Viel hat er nicht gelernt, doch weiß er schon,

dass es ein mörderischer Job gewesen ist.

Das war ein Tag: Saigon ist frei! Befreit

ganz Vietnam! Vorbei das Blutvergießen!

Das war ein Tag! – Die Wunden brauchen Zeit!

Übt Solidarität, dass sie sich schließen!

DER TRAUM IM BAMBUSHAUS

1 EINEN HEITEREN TRAUM

hab ich geträumt

im fernen Land,

das uns lieb ist und nah.

Gute Freunde leben mir da,

und das Land ist selbst

so schön wie ein Traum:

Vergissmeinnichtblau

blüht der Kautschukbaum,

der Flammenbaum strahlt

rot wie ein Brand.

Süßer Akazienduft

weht durch das Land.

Am Strand stehen Palmen.

Unendlich grün

leuchten Reisfelder.

Überall blühn

Büsche und Bäume –

weiß die Namen nicht.

Und die Berge sind hoch

und die Urwälder dicht

und gewaltig die Flüsse,

auf ihnen schwimmen

Boote mit Flügeln

von Schmetterlingen.

Die Teiche sind

von Seerosen rot.

Man isst Bataten

und Sojabrot

und die Kerne der leuchtenden

Lotosblüten.

Kleine schwarzhaarige

Kinder hüten

den bärtigen Büffel,

das Hängebauchschwein.

Mir war jeder Tag dort

voll Sonnenschein.

Erstmals 1983 erschien im Hinstorff Verlag Rostock „Der Tod des alten Mannes“ von Egon Richter: Herrschaften! Lest! Die tragikomische Geschichte vom Robert Küster. Ein Held wider Willen, ja, mehr aus Zufall, der dauernd in die merkwürdigsten Situationen gerät. Was Wunder, wenn ihn mancher Zeitgenosse in zwielichtigem Schillern zu sehen glaubt. Er lebt im Widerstreit mit allem, was ihm begegnet, im Widerstand kaum. Er ist ein Feind der Anpassung, aber wie das Leben so spielt: er ist ihr ausgeliefert. Er ist Bergmann und Fischer, er arbeitet in der Munitionsfabrik und im Sägewerk. Er hat eine Biografie wie viele. Und doch, und doch …

Er liebt die Anna und muss sich mit Grete herumschlagen. Er fängt den Witting im Bodden und träumt von Samoa. Sein Sohn aber ist nach Sydney verzogen, und das zu DDR-Zeiten. Da schickt ihm sein treuester Gegner Rosen, und die Uhr des Kaisers — ja, sie tickt immer noch in seiner Hand, wie das Leben in dieser Kiste, dieser alten Zigarrenkiste …

Mehr wird nicht verraten. Herrschaften! Lest! Die tragikomische Geschichte vom Robert Küster! Und so treffen wir den Helden:

1. Kapitel

Nun ist es still.

Gretes schwarze Tasche steht auf dem Stuhl vorm Bett, und er sieht, der rechte Henkel ist eingerissen. Vorige Woche erst hat er ihn festgenietet, und nun ist über dem Niet schon wieder ein Loch. Das kommt, weil sie nicht umgehen kann mit der Tasche. Zwei Milchflaschen gucken raus und eine Schachtel Makkaroni. Sie wird ihn noch schwach machen mit ihrem Nudelkram. Grete hat sich schon ganz rund gefressen daran. Irgendwann wird sie platzen, und die braungeblümte Kittelschürze wird ihr um die Ohren fliegen wie Luftballonfetzen.

Nun ist es still. Nun ist sie weg. Gerannt wie ein geölter Blitz. Er hat ihr gar nicht zugetraut, dass sie so flink sein kann. Zuerst hat sie dagestanden wie Piksieben und auf das bisschen Blut geguckt, als hätte sie in ihrem ganzen Leben noch kein Blut gesehen. „Harre Gott, Robert, was ist denn bloß los mit dir, mein Jung, du siehst ja ganz grün aus im Gesicht!“

„Treck di de Schau ut“, hat er gesagt, oder er hat es sagen wollen, wie gewöhnlich, denn daran denkt Grete nie, dass sie hier nicht rumlaufen soll mit ihren Mauken. In seinem Hause nicht! So was hat Anna nie gelitten. Aber seit Anna tot ist, denkt Grete, sie kann machen, was sie will. Und deshalb wollte er sagen: „Treck di de Schau ut!“ Aber statt der Worte ist nur Blut aus seinem Mund gekommen, und es hat ihn geschüttelt, als steckte er im Dreschkasten.

„Harre Gott!“, hat Grete gesagt, als wenn ihr nichts weiter einfallen könnte, „harre Gott, Robert!“ Und dann hat sie die Hand vor den Mund geschlagen, und die Augen sind ihr herausgequollen. Grete hat Glupschaugen, hatte Anna immer gesagt, ausgesprochene Glupschaugen. Aber er hatte gewusst, warum Anna das behauptete, und gelacht und gesagt: Nun lass sie man, sie ist schon ganz in Ordnung, und an Glupschaugen ist noch keiner gestorben. Rotfuchs! hat Anna gesagt, Rotfuchs und Glupschaugen, das passt zusammen. Da hat er Anna einfach den Mund zugeküsst.

Grete ist die Tasche auf den niedrigen Stuhl gefallen, und sie war ganz bleich. Endlich hat sie die Sprache wiedergefunden. Ganz schnell hat sie geredet, als käme es auf jede Sekunde an, und sogar ihr Harre Gott! hat sie vergessen. „Ins Krankenhaus musst du“, hat sie gesagt, „da gibt es gar nichts zu reden, Robert. Sei still, sei still, ich will nichts hören! Und dass du mir ja liegen bleibst. Rühr dich nicht aus dem Bett, sag ich dir!“ Und dann hat sie sich umgedreht und ist losgerannt, und draußen hat sie dann doch wieder „Harre Gott!“ gesagt.

Nun ist es still. Nur sein Atem knarrt. Wie eine alte Schranktür. Er möchte gern lachen, aber es geht nicht. Sein Brustkorb schmerzt, sein Bauch tut weh. Seine Kehle kommt ihm vor wie rohes Fleisch. Schön wäre es, wenn er die Milch erreichen könnte. Gretes Volkssolidaritätsmilch, die würde ihm helfen, und seine Staublunge würde vor Schreck gesund werden. Aber er reicht nicht bis an Gretes Tasche, wenn er die Hand ausstreckt. Seine Hand sieht aus wie eine Astgabel, von der die Borke abgefallen ist.

Wenn sie ihn hier rausholen, dann sieht er nichts mehr wieder, den runden Tisch nicht und den hohen Schrank und die kleine Kommode, auf der die grüne Plüschdecke liegt, und obendrauf der Kater. Den Kater sieht er dann auch nicht wieder. Den wird Grete wohl vergraulen, den hat sie noch nie leiden können. Lass den bloß kastrieren, hat sie gesagt, als er sich das schwarze Knäuel von Molkenthin geholt hat. Wenn der seine Touren kriegt, der schnarzt dir das ganze Haus voll, dass es man so stinkt wie im Pissoir. Pisso-ahr hat sie gesagt. So was kann sie. Das ist übrig geblieben aus ihrer Dienstmädchenzeit in der Großstadt.

Den Kater hat er nicht kastrieren lassen. Jeder soll seine Freude haben im Leben, ob Kater oder Mensch. Nun liegt er da und schnurrt nicht mal. Guckt ihn an, als ahnte er was. Ob Tiere merken, wenn einer abtritt? Er würde den Kater gern streicheln, dann käme Wärme in seine Hand. Aber der rührt sich nicht. Er versucht Mulle zu sagen, Mulle, komm mal her, aber es gelingt ihm nicht.

Es ist so still. Wenn der Kater schnurren würde, wäre es besser. In der guten Stube tickt der Regulator. Das ist das einzige, was er hören kann in dieser Einsamkeit, und plötzlich holt der aus zum ersten scheppernden Schlag und schleppt sich ächzend über weitere zehn Schläge. Der wird auch alt und kann nicht mehr. Den hat er Anna zu Weihnachten geschenkt, als die Stuben hier im Haus noch nach frischer Farbe rochen. Die Hälfte des Verdienstes vom Fischverkauf hat er dafür ausgegeben, und Anna hat die Hände zusammengeschlagen und gesagt: Robert, bei dir stimmt’s nicht! Solche teure Uhr! Das ist doch kein Weihnachtsgeschenk mehr, so viel hat ja nicht mal die Bettstelle gekostet! Aber sie ist um die Uhr rumgesprungen wie ein Kind, und er hat ihr angesehen, was das für eine Freude für sie war.

Elf also. Eine Stunde vor Mittag. Wenn er bloß mal richtig Luft holen könnte. Aber das will und will nicht gehen, und das Regulator-Ticken ist auch schon mehr ein Rasseln.“

Erstmals 1984 brachte Manfred Richter als Eigenproduktion der EDITION digital seine lebenserfahrenen Texte unter dem Oxymoron-haften Titel „Dieser miese schöne Alltag“ heraus: Die Erzählungen und Gedichte von Manfred Richter sind zugleich auch eine Summe von Lebenserfahrungen. Vom Großvater und der Großmutter bis zu den eigenen Kindern, hielt er einen Teil seines schweren und schönen Lebens auf spannende Weise fest. Gemeint ist die Beziehung zwischen Mensch und Mensch und die Beziehung zu den Dingen, die ihn umgeben, die konkrete Welt auch wenn sie, am Gestern gemessen, der Welt von heute nicht immer entspricht. Aber wer davon liest, wird sich vielleicht selbst in der einen oder anderen Geschichte erkennen oder deren Nähe spüren, halt in diesem miesen schönen Alltag. Und gleich lernen wir einen dieser Menschen kennen, die es wert sind, kennengelernt zu werden:

Mein Schusterkönig

Großvater war Schuhmacher in der Stadt. Er hatte sich in einem Kellerloch eingemietet und die zwei finsteren, engen Räume in Werkstatt und Schlafkammer unterteilt.

Arme Leute wie wir, die ringsum in den grauen Hinterhäusern lebten, waren seine Kunden. Oft habe ich gesehen, wie ein Junge oder ein Mädchen die ausgetretenen Stufen hinunter in Großvaters Werkstatt sprang. Dort setzte man sich auf eine blank gewetzte Holzkiste neben der Tür, zog den Schuh vom Fuß und sagte: „Opa, die Spitze!“

Großvater schielte dann, den Kopf nach vorne neigend, über den Brillenrand, bis seine Augen die Kundschaft erkannten. Dann strich er wortlos mit den breiten hufigen Händen eine begonnene Arbeit vom Schoß, langte von der Wand einen Riemen, spannte ihn über Fuß und Knie so, dass der kranke Schuh fest dazwischen klemmte, und begann die Reparatur.

Jetzt hatte man Zeit, sich in der Werkstatt ein wenig umzusehen. Rechter Hand und dicht an der Decke war ein kleines Fenster, vor dessen schmutziger Scheibe das Tageslicht wie ein grauer Lappen hing. Ich habe es nie im Leben offen gesehen. Unter dem Fenster, fast völlig in Dunkelheit gehüllt, stand ein schmales Regal voller Schuhe. Die andere Wand, von der Großvater den Riemen genommen hatte, war mit Nägeln und Haken bespickt, an denen lange und kurze Riemen, Messer, Senkel, Zettelchen, Bindfaden und allerlei anderer Krimskrams hing, der im Laufe der Zeit eine dicke Staubschicht angesammelt hatte. Dem Kellerfenster gegenüber und neben einem Fetzen Stoff, der das Loch zu Großvaters Schlafkammer bedeckte, döste einsam ein alter Stuhl, auf dem, einen säuerlichen Geruch verbreitend, einige Rollen Leder auf Vorrat lagen.

Inmitten dieser armseligen Einrichtung stand Großvaters Thron, anderthalb Fuß hoch, aus rohen Brettern zusammengenagelt. Darauf ein dreibeiniger Hocker und ein Tisch, auf dem viele kleine Schachteln und Dosen mit geheimnisvollem Inhalt neben Lederflecken, Bienenwachs, Pechfäden, Zangen und noch mancherlei, was zur Flickschusterei nötig ist, versammelt waren. Über allem aber leuchtete golden von der Decke eine leise summende Petroleumlampe.

Zwischen ihr und dem Großvater hing an einem Draht, etwas tiefer als die Lampe, eine gläserne Kugel, die Mutter, wenn wir zu Besuch kamen, mit frischem Wasser füllte. Wenn dieser riesengroße Tropfen dann von ihrer Berührung lautlos hin und her schwang, huschte aus ihm das Licht der Petroleumlampe in Kurven durch die Dämmerung, bis er sich beruhigte, und sein heller Schein zitternd in Großvaters Schoß verharrte.

Das Schönste aber in der Werkstatt war der Großvater selbst. Er war klein und hockte ein wenig krumm, wie festgewachsen auf dem Dreibein. Unter seiner Nase hing dick wie eine Wurst ein strohgelber, strubbeliger Bart. Und ganz vorn, auf der breiten Sattelnase, die gar nicht zu den eingefallenen Wangen passen wollte, lag die Nickelbrille. In ihren beiden ovalen Gläsern funkelte die glänzende Kugel als lustiges Zwillingspaar. So saß der Großvater den ganzen Tag und bewegte seine Hände und die krummen Daumen mit den großen harten Fingernägeln.

Wenn man nun eine Weile schweigsam auf der Holzkiste verbracht hatte, die Augen voll von der Wunderwelt im Keller und ihrem lichtumhüllten Schusterkönig, dann räusperte sich Großvater, dass sein Adamsapfel hüpfte, und er begann eine Geschichte zu erzählen, irgendeine Geschichte, die keiner zu unterbrechen wagte bis auf den Hammer in Großvaters Rechter, der mit trockenen Schlägen eigenwillig Punkte und Kommata setzte.

Wie Großmutter beerdigt wurde

Großmutter fiel das Treppensteigen immer schwerer. Einmal war sie beim Friseur gewesen und hatte mich, den Bengel, mitgenommen. Während sie unter der Haube saß, wurde mir, das war so üblich, das Haar über beide Ohren geschoren. Glatze also und über der Stirn ein knapper Pony. Auf dem Heimweg, die steilen Stufen in unsere Wohnung hinauf, verhielt sie schnaufend und keuchte wütend: „Werde bloß nicht alt, Junge. Eine Last! Wenn wir oben sind, häng‘ ich mich auf!“

Dergleichen Sprüche waren wir gewöhnt. Und sie nahm auch nicht krumm, dass ich eingedenk meines frierenden Hinterkopfes brummte: „Da hätt’ste aber das Geld für’n Friseur sparen können.“

Eigentlich war Großmutter eine sehr robuste Frau und auf ihre Art eine ganz besondere. Nun ja, sie sah aus, wie alle Omas, sie war nicht sehr groß, ein wenig dick, hatte gewitzte kleine blaue Augen und war ungeheuer neugierig. Wir hatten sie alle sehr lieb. Seit sie in die Jahre gekommen war, wurde der „liebe Tod“, wie sie immer sagte, neben dem Großvater einer ihrer nächsten Gesellen. Mit beiden stand sie sozusagen auf freundschaftlichem Fuße, die Sache mit dem Aufhängen war also nicht so ernst gemeint.

Eines Nachts jedoch stürzte Großvater in das Schlafzimmer meiner Eltern, knipste das elektrische Licht an und weckte uns alle auf. „Schnell, schnell, zum Donnerwetter!“

Großmutter lag in ihrem breiten hölzernen Ehebett. Sie schlief mit weit aufgerissenen Augen. Und Mama machte ihr die Augen zu. Es roch muffig im Zimmer. Großvater stand in der Tür, hielt vor dem Bauch die lange Unterhose zusammen, mit der er sich am Abend neben die lebendige Großmutter gelegt hatte, und sagte zu Mama: „Mach ihr die Zähne rein!“

Am nächsten Tag durfte ich nicht in die Schule. Anfangs war das ziemlich langweilig. Mit Großvater war nichts anzufangen. Er saß auf dem Küchenstuhl und starrte vor sich hin. Mutti hatte verweinte Augen. Auch die Nachbarinnen weinten, sogar Frau Suschke, die sich immer mit Großmutter gestritten hatte. Nach dem Frühstück klingelte der Arzt und am Nachmittag brachte man den Sarg. Die Männer vom Beerdigungsinstitut konnten ihn aber nicht die Treppe hoch tragen, weil die Kurven zu eng waren. Da hat der eine von ihnen die Großmutter auf den Arm genommen und man hat sie im Erdgeschoss in den Sarg gelegt.

Ich durfte jedoch nicht zugucken, weil ich oben auf den starrenden Großvater aufpassen sollte. Danach habe ich die Großmutter allerdings noch einmal gesehen. Und da gab es dieses Gelächter. Sogar Mama hat gekichert. Obwohl sie hinterher sagte, das sei die bloße Nervosität gewesen. Die Sache begann damit, dass wir ein wenig zu früh auf dem Friedhof waren. Großvater, Mama, Papa, Onkel Oskar und ich. Die Kirchengemeinde, der Pfarrer und die Nachbarinnen kamen erst später.

Es war kalt, obwohl die Sonne schien. Wir standen vor der kleinen Kapelle und froren. Onkel Oskar sagte: „Wir gehen rein!“ Aber drinnen war es noch kälter. Großmutters Sarg stand in der Mitte und ringsum und auch auf dem Sarg lagen viele Kränze und künstliche Blumen. Es sah ziemlich schön aus. Und wir haben eine Weile nichts gesagt. Plötzlich stupste Großvater seinen Sohn, nämlich Onkel Oskar an: „Mach sie auf!“

Ich wusste gleich, was gemeint war. Aber Onkel Oskar fragte begriffsstutzig: „Wie bitte?“ Großvater drängelte: „Ich will sie noch einmal sehen. Nu‘ mach schon, eh die anderen kommen.“ Mutti hat zuerst leise protestiert. Aber Onkel Oskar begann, die Kränze vom Sarg zu nehmen. Papa hat mit zugepackt und ich habe auch geholfen, weil mir davon ein bisschen wärmer wurde. Während Papa und Onkel Oskar an den großen Flügelschrauben des Sargdeckels drehten, blickte Mama auf die Uhr und sagte leise: „Beeilt euch!“

Mir wurde, ehrlich gesagt, ein wenig bange, als die beiden Erwachsenen den Sargdeckel vorsichtig anhoben und neben den Kränzen und Blumen gegen die Wand lehnten. Hochkant und nicht sehr geschickt, wie sich gleich darauf herausstellen sollte. Opa trat bis dicht an den Sarg und verstellte mir die Sicht auf die tote Großmutter. Mama legte ihren Arm um meine Schulter und hielt mich fest. Ich habe dennoch geguckt. Aber Großmutter war das nicht. Da lag eine sehr kleine alte Frau, allerdings war ihr Haar onduliert wie das von Oma. Es war so still, dass ich vor den Fenstern die Tauben gurren hörte.

Auf einmal aber gab es einen gewaltigen Plauz. Es war, als hätte jemand mitten in die Stille hineingeschossen. Wir schreckten furchtbar zusammen. Nur die Frau im Sarg nicht. Da war der Sargdeckel umgefallen. Das hat ein Geräusch gemacht, wie wenn ich aus Spaß meine Holzpantinen gegeneinander knalle. Mama wollte gleich mit Onkel Oskar und Papa schimpfen, weil sie den Deckel so blöd hingestellt hatten. Aber weil wir auf dem Friedhof waren, hat sie geschwiegen und nur das Gesicht verzogen. Großvater blieb ganz ruhig. Er schnaubte in sein Taschentuch, als hätte er mit der Nase geweint und sagte: „Na, bringt das in Ordnung!“

Papa und Onkel Oskar wollten den Sargdeckel wieder aufschrauben. Aber da gab es ein Problem. Das obere Brett war in der Mitte über die ganze Länge gerissen. Da war jetzt ein breiter Spalt und man hätte in den Sarg hineingucken können. Bloß, wozu? Onkel Oskar und Papa drückten von beiden Seiten an dem Sargdeckel herum, damit die Schrauben wieder in die Löcher passten. Auf einmal hat sich Onkel Oskar über den Sarg gebeugt und mit den Schultern gezuckt. Es sah aus, als würde er heulen. Aber er hat gelacht.

Wie Papa ihn strafend angucken wollte, hat auch er plötzlich losgeprustet. Großvater strich sich über den Schnauzbart. Ich glaube, hinter der Hand hat er auch ein Lachen versteckt. Und dann hat er auf den fingerbreiten Riss gezeigt und gesagt. „Neugierig war sie ja immer!“ Mamas Arm auf meiner Schulter zuckte. Und wie ich hoch schaute, sah ich, dass sie versuchte, nicht zu kichern. Wir haben dann schnell alle Kränze auf den Sarg gepackt, damit man nichts merkt.

Als die Trauergemeinde mit dem Pfarrer in die Kapelle trat, war sie sehr erstaunt, dass wir ein bisschen außer Atem waren und fröhlich guckten. Später, als alle gemütlich bei Herrn Hottendorf im Restaurant saßen, meinte Frau Suschke, es sei eine sehr schöne Beerdigung gewesen. Mama nickte und sagte: „Wir haben sie uns

noch einmal angeschaut. Sie hat ganz friedlich dagelegen.’‘ Und Großvater brummt

mürrisch: „Wie denn sonst?“

Wie ich vom Weihnachtsmann geohrfeigt wurde

Unser Weihnachtsbaum stand auch diesmal auf Mutters versenkbarer Nähmaschine, und das langweiligste Fest der Welt begann mit dem üblichen Streit. Mutter wollte den Baum mit echten Kerzen schmücken, mein moderner Vater aber schleppte den Karton mit elektrischen an. Es war ein harmloser Streit, den Mutter jedes Mal gewann. Einen Kompromiss freilich musste sie eingehen – neben den Baum gehörte ein Rieseneimer Wasser. Schließlich spielten auf dem Teppich drei reichlich wilde Gören. Gerd, mein Bruder, war Ostern in die Schule gekommen, Schwester Inge war vier Jahre alt und ich, der Älteste, hatte zu Michaelis das zweite Mal Zensuren nach Hause gebracht.

Glücklicherweise, das nebenher, lag zwischen Michaelis und dem Fest so viel Zeit, dass sich die vertrackten Zensuren nicht auf die Geschenke auswirkten. Die Sache mit den Geschenken war ohnedies verzwickt und eigentlich ein zweiter Streitpunkt: Mutter war fürs Praktische – Hausschuhe, dicke wollene Strümpfe, das dazugehörige Leibchen oder einen ellenlangen Schal. Vater hingegen war von der romantischen Art. Er hielt mehr auf Bücher, auf Buntstifte und kreative Stabilbaukästen.

Eigentlich war das Weihnachtsfest bis zur endlichen Bescherung immer eine ziemlich

hektische Angelegenheit. Mutter und Tante Emmi fuhrwerkten in der Küche, Vater und Onkel Oskar tranken in der bullig warmen Wohnstube Weinbrand. Onkel Oskar wollte unbedingt meine Zensuren sehen, und ich hatte die liebe Not, ihn davon abzulenken. Meine Geschwister quengelten, weil sie die Zeit nicht abwarten konnten. Endlich, gegen fünf Uhr am Nachmittag, zog sich Vater mit Onkel Oskar ins Schlafzimmer zurück. Wegen meiner jüngeren Geschwister klebte sich Vater mit Onkel Oskars Hilfe alle Jahre einen gewaltigen Wattebart ins Gesicht, zog seinen alten Bademantel über und spielte hingebungsvoll und mit Brummstimme den Weihnachtsmann.

Neben meinem Pappteller mit Nüssen und von Mutter gebackenen Plätzchen lag in diesem Jahr ein weißer Matrosenanzug mit einem riesigen blauen Kragen. Ich musste mich freuen und wusste doch im gleichen Augenblick, dass ich das Monstrum nie und nimmer freiwillig anziehen würde. Das wurde allerdings auch nicht nötig, da mir der Zufall auf unerwartete Weise zu Hilfe kam.

Ob Vater, in Vorbereitung auf dieses denkwürdige Weihnachtsfest, an Goethes Kindheit und an dessen spätere Ambition für den „Faust“ gedacht hatte, weiß ich nicht zu sagen. Ich traue es ihm aber zu. Jedenfalls hatte er uns Kindern ein fantastisches Kaspertheater gebaut. Die Vorderseite mit der Guckkastenbühne passte genau in die Türfüllung und war so groß, dass wir Kinder uns dahinter verstecken konnten.

Soweit sollte es freilich vorerst nicht kommen. Unser Weihnachtsmann hatte am Nachmittag mit Onkel Oskar dem Weinbrand reichlich zugesprochen. Jetzt quetschte er sich hinter die Bühne, und wenige Augenblicke später tauchten am Vorhang Kasper und ein feuerroter Teufel auf. Mutter und Tante Emmi saßen auf dem Sofa und wir Kinder mit Onkel Oskar auf dem Teppich.

Nun hatte ich, wie gesagt, einen modernen Vater. Der Kasper auf seiner Hand vermöbelte den Teufel nicht in der Manier seines Hohnsteiner Ebenbildes mit einer Pritsche, er drohte vielmehr mit einer gewaltigen Holzpistole – und schoss! Das heißt, er wollte schießen. Es gab aber keinen Knall, sondern eine gewaltige Stichflamme. Der Vorhang fing sogleich Feuer, und unser unsichtbarer Weihnachtsmann schrie „Scheiße! Scheiße!“ Wir alle waren im ersten Schreck aufgesprungen, meine praktische Mutter griff sich den Wassereimer und schwappte seinen Inhalt ohne zu zögern in die sogleich erlöschenden Flammen.

Danach war es einen Moment totenstill. Die Kerzen am Baum brannten lautlos und warm vor sich hin. Endlich tauchte statt des Kaspers hinter den Resten des Vorhangs das Gesicht des Weihnachtsmannes – nein, das rabenschwarze Gesicht meines Vaters auf. An seinem Kinn hingen die verkohlten Reste des Wattebartes, die Augenbrauen waren weg und, wie wir später entdeckten, auch ein Teil seines natürlichen Kopfhaars. Außerdem triefte er von Mutters Wasserschwall und sah überhaupt saukomisch aus. Jedenfalls muss ich das so empfunden habe. Denn ich habe gelacht. Und als gar noch meine vierjährige Schwester mit großen und entgeisterten Augen stammelte: „Mama, der sieht aus wie Papa!“, fiel ich geradezu in einen Lachkrampf, wälzte mich zwischen den Beinen von Onkel Oskar und meinen Geschwistern auf dem Teppich und beruhigte mich erst wieder und zwar schlagartig, als Vater mir mit dem finstersten Gesicht der Welt eine kräftige Ohrfeige verpasste.

Wer kennt nicht den Sturz aus Fröhlichkeit in tiefen Schmerz. Eigentlich hätte ich heulen müssen. Aber dazu kam es nicht. Vater wischte sich nämlich die Bartreste und sein arg strapaziertes Weihnachtsmanngesicht mit dem erstbesten ab, das er in die Hände bekam. Es war die Bluse meines weißen Matrosenanzuges. Da musste ich, trotz brennender Wange, aufs Neue losprusten und rettete mich schnell in die Küche. Von dort hörte ich Mutter zetern, Vater schimpfen, Onkel Oskars fröhliche Stimme und meine Geschwister heulen, als wären sie und nicht ich geohrfeigt worden. Nur Tante Emmi schwieg.

Schließlich gab es ein großes Gerenne und Räumen und Aufwischen und ein paar böse Blicke von Mutter. Aber dann wurde es still in der Stube, und ich wagte mich wieder hinein. Die Familie saß traut am Tisch, Mutter fummelte an Vaters Haar herum und Onkel Oskar an Tante Emmi. Vielleicht wäre das Fest aber doch noch in trüber Stimmung ausgegangen, wenn Gerd nicht, mein Bruder, in die Stille hinein gefragt hätte: „Papa, bist du auch der Klapperstorch?“

Da mussten auch die Erwachsenen lachen und diesmal durfte ich ungestraft mithalten. Später, bei noch einem und noch einem Weinbrand, hat Vater die Sache Onkel Oskar in aller Ruhe erklärt: Roter Phosphor und Kaliumchlorat geben eine explosive Mischung, die herrlich knallt, wenn man darauf schlägt. Voraussetzung ist allerdings, wie überall im Leben, das richtige Verhältnis zueinander. Das aber hatte Vater, angeschickert und aufgeregt, hinter der Bühne verfehlt. Dann knallt das Zeug nicht, es brennt lichterloh.

Der weiße Matrosenanzug übrigens war für alle Zeit unbrauchbar geworden. Und vielleicht war es dieses Weihnachtsfest, dass ich mir im Jahr darauf innigst so einen Chemiebaukasten mit Reagenzgläsern, Lackmuspapier und allerlei geheimnisvollen Ingredienzien, vor allem aber mit Rotem Phosphor und Kaliumchlorat wünschte.“

Erstmals 1991 legte Wolfgang Schreyer in seinem Hausverlag Das Neue Berlin den Kriminalroman „Nebel“ vor: „Wer mit Sprengstoff hantiert, der fliegt leicht selber in die Luft", hatte der Schriftsteller Richard Nebel kurz vor seinem plötzlichen Tod zu dem Kriminalisten Wendt gesagt. Hatte er da vielleicht auch an den Stoff für seinen geplanten Politthriller gedacht? Dann hätte ihm das Wissen um die Gefahr allerdings wenig genützt. Christian Wendt jedenfalls hat Zweifel an einem Unfalltod Nebels und mit einem Mal den Verdacht, dass in dem Land, dem er mit Leib und Seele dient, das staatlich organisierte Verbrechen längst eine feste Größe ist. Christian Wendt, mit Leib und Seele Polizist, schließt ein Verbrechen nicht aus und gerät bei dem Versuch, zwei Herren zu dienen – der Wahrheit und seinem „Staat“ -, in ein Netz von Erpressung und Betrug, Lüge und Mord, von Bestechung und Angst und schließlich in die Fänge jener Organisation, der womöglich auch Nebel zu nahe gekommen ist. Das erstmals 1991 veröffentlichte Buch (das zweite über Kriminalkommissar Wendt) war das erste, dass die 1989/1990er Ereignisse in der DDR noch einmal hautnah miterleben lässt, in der von Wolfgang Schreyer gewohnten Spannung und Detailtreue – wie man gleich zu Beginn des 1. Kapitels von „Nebel“ feststellen kann:

„Eine Woche nach Pfingsten, am Montag, dem 22. Mai 1989, wurde Hauptmann Christian Wendt zu seinem Vorgesetzten bestellt, dem Leiter des Dezernats II (Untersuchungen) der Kriminalpolizei des Bezirkes Rostock. Oberstleutnant Fink eröffnete ihm, er müsse gleich mal für Major Grote einspringen, das Haupt der Pressestelle, und einen Romanautor namens Richard Nebel empfangen. Der sei mit Grote um elf verabredet, und leider habe Grotes Sekretärin übersehen, dass heute dessen Lehrgang begann, die Schulung in puncto Öffentlichkeitsarbeit. Verschieben lasse sich der Termin nicht mehr. Man habe versucht, Nebel noch zu stoppen, doch der hebe nicht ab, sei also schon unterwegs. Und wegschicken könne man ihn schlecht, er komme aus Cumin im Landkreis N., drei Stunden Fahrt für den Mann.

„Worum geht es ihm denn?“, fragte Wendt lustlos. Bei ihm häufte sich die Arbeit, Finks Tisch hingegen war wie üblich spiegelblank, bis auf das Telefon und den Halter für seinen Tagesplan so aufreizend leer, als würde dort ab und zu ein Flugzeug landen … Leute mit leerem Schreibtisch waren Wendt verdächtig. Entweder stopften sie alles in die Schubladen, um souverän zu wirken, oder auch die waren leer, und wozu brauchten sie dann einen Schreibtisch?

„Na, warum schon“, sagte Fink. „Um ein bisschen Fachkram. Damit sie die gröbsten Fehler vermeiden, mit etwas Wissen glänzen und dazu noch erzählen können, wir billigten ihr Zeug. Es legitimiert sie vor ihrem Verlag und den Lesern, glaube ich. Sie kennen doch die Brüder.“

„Ich hab‘ vor Jahren mal einen Drehstab beraten.“

„Ganz abgesehen davon, was so ein Künstler von uns will, wir haben auch ein Ziel dabei. Und zwar ein ernsthafteres als jemand, der darauf aus ist, seinem Affen Zucker zu geben.“

„Nämlich?“, fragte Wendt, obgleich er wusste, was kam.

Ein Lächeln glitt über Finks rundes, straffes Gesicht. Dann sah er wieder gequält drein, als hätte ihm der Chefarzt des Polizeikrankenhauses gerade einen schlimmen Befund mitgeteilt – chronische Fettsucht zum Beispiel. „Der Mann sucht Nervenkitzel, damit verdient er sein Geld. Wir aber informieren ihn über die Wirksamkeit unserer Arbeit, damit das, was er daraus macht, den Eindruck vermittelt: Verbrechen lohnt sich nicht, die Polizei kommt stets dahinter! Genosse Wendt, heutzutage sollten wir jede Chance nutzen, darauf Einfluss zu nehmen, wie man uns in der Öffentlichkeit darstellt. Das ist unser Ziel bei jedem derartigen Gespräch. Ich bin sicher, Sie sind dafür bestens motiviert.“

Wendt sagte nichts. Es gab Aussprüche, die ließen keine Antwort zu. Der Oberstleutnant plusterte sich wieder einmal auf. Er nannte Motivation, was sonst Überzeugung hieß. Verkündete Bekanntes und folgte seiner Gewohnheit, dies durch Klopfzeichen zu unterstreichen, als seien es Worte von hohem Erkenntniswert. Er hatte kurze, kräftige Finger, an den Kuppen stempelartig verdickt. Ihr Pochen gab seinen Mitteilungen stets etwas Endgültiges, die Weihen psychologischer Führungskunst. Mit einiger Menschenkenntnis hätte ihm aber klar sein müssen, dass solches Getue seinem Vortrag die Wirkung nahm. Neben dem Mangel an Denkvermögen und Originalität. Nicht nur Finks Schreibtisch, auch sein Kopf war aufgeräumt – die Prinzipien hübsch darin verteilt, ansonsten eher leer.

„Also, ich verlasse mich auf Sie.“

Das klang abschließend, der Hauptmann stand auf. Öffentlichkeitsarbeit gehörte nicht zu den Aufgaben eines Leiters der Morduntersuchungskommission, doch war Widerspruch zwecklos.

„Wie steht es mit den Schmierereien?“, fragte Fink. „Kommen die Ermittlungen voran?“

Wendt blieb stehen. Auch etwas, was man ihm aufgehalst hatte. Drei Wochen nach den Kommunalwahlen tauchten vereinzelt Parolen auf, nachts an irgendwelche Wände gesprüht (das Kurhaus von Cumin fiel ihm ein). Sprüche wie Gorbi, hilf, die Perestroika forderten oder auf ungelenke Art das Wahlergebnis in Zweifel zogen. Und obwohl sich schon die Genossen der Staatssicherheit darum kümmerten, drängte Fink darauf, denen zuzuarbeiten und einen sichtbaren Beitrag zu leisten durch eigenes Nachforschen, Spurensicherung seitens der Kreisämter, den Einsatz von Fährtenhunden. Festnahmen mit all dem Papierkram, der sich bei ihm staute, als gäbe es nichts anderes zu tun.

 – „Nichts Neues“, meldete er. „Sämtliche Inschriften sind entfernt und zwei der Schmierer gefasst worden.“

„Das reicht mir nicht. Kein befriedigendes Resultat! Das schreckt keinen ab. Bei dieser Dunkelziffer darf es uns nicht wundern, wenn die Sache eskaliert, ich sage Ihnen, wir müssen die Aufklärung intensivieren.“

„Die K-Leiter in den Kreisämtern tun ihr Bestes.“ Wendt nahm wieder Platz und ging, wie gewünscht, ins Detail. Knapp ein Dutzend Fälle, die hatte er parat. Und während er dies vortrug, war ihm, als höre er Jenny, seine Ehefrau, wieder sagen: Ihr denkt, da steckt wer weiß was dahinter, dabei geschieht es spontan, ohne zentrale Weisung, meiner Ansicht nach … Mir ist allerdings klar, warum das nicht in euren Kopf geht. Ihr seid Geschöpfe einer straffen Organisation, der Polizeibürokratie. Da denkt ihr euch den Gegner halt als Mitglied eines ähnlichen Vereins, das macht es irgendwie erträglicher, ja? Es gibt euch die Hoffnung, den Kampf zu gewinnen, wenn ihr das kriminelle Haupt aufspürt, das nach eurer Vorstellung die Befehle erteilt und das Geschehen in der oppositionellen Szene lenkt.

„Sind Sie fertig?“

Wendt merkte auf. Der Ton verriet ihm, er hatte etwas davon einfließen lassen – die Spur eines Zweifels an der Organisiertheit, an der hierarchischen Ordnung beim Feind.

„Nein, Genosse Oberstleutnant. Aber ich mache gern Pause, wenn Sie etwas sagen wollen.“

„Nur ein persönliches Wort zum Schluss.“ Fink senkte die Stimme. „Zufällig sah ich neulich Ihre Gattin draußen auf Sie warten.“ (Unheimlich – als könne er Gedanken lesen.) „Mit einer Plakette am Revers. Sie wissen schon, diesem Gorbatschow-Kopf, und zwar extragroß. Erscheint Ihnen das als passend bei der Frau eines Offiziers in verantwortlicher Position?“

„Ich hab’s ihr nicht ausreden können. Es ist unser bester Freund, hat sie mir gesagt.“

Fink nickte düster, als habe sich ihm ein Verdacht bestätigt. Der Verdacht, man habe die eigene Frau nicht im Griff und sei machtlos gegen solch eine Provokation. Aus seiner Sicht erübrigte sich da jeder Kommentar. „Danke“, sagte er, „das war alles.“

Bis zur Tür spürte Wendt den Blick in seinem Rücken, die Missbilligung. Finks Fischaugen, wässrig grau – nun, die hatte er nie gemocht. Und der Kopf über dem stumpfbraunen Anzug mit Schlips und weißem Hemd – blass, in gesundes festes Fett verpackt; weiß Gott kein angenehmes Gesicht. Ein schwieriger Vorgesetzter, der ihn wenig schätzte. Die Leistung wohl noch, kaum die Person. Eigentlich schon immer und besonders seit der Heirat mit Jenny im April.

Tatsächlich. Fink hatte seine Wahl missfallen. Er ließ ihn merken, was er von der Ehe eines Offiziers der K mit einer Vorbestraften hielt. Jennys Verurteilung wegen der zwei Einbrüche, von ihm selbst aufgedeckt, lag fünfeinhalb Jahre zurück. Für den Oberstleutnant offenbar so etwas wie eine Bombe mit Zeitzünder, der noch tickt. Als könnte sie jederzeit rückfällig werden und den Ruf der Behörde beschmutzen. Und in diesem Moment, hier im Korridor auf dem Weg in sein Dienstzimmer, dämmerte Wendt, die zwanzig Monate Haft, restlos von ihr verbüßt, führten offenbar gegen jede Vernunft zu einem Karriereknick bei ihm. Seit 15 Jahren war er Hauptmann der K und würde es auch bleiben.

Obwohl niemand das zugab, Jennys Delikt wirkte sich auf seine Laufbahn aus. Unter Fink und seinesgleichen stieg er in der Behörde nicht mehr auf … Zwar lag er mit seinen Ergebnissen als Leiter der Morduntersuchungskommission ziemlich vorn, im Urteil vieler Genossen. Um aber befördert zu werden, so wurde ihm angedeutet, hätte er sich in einem Lehrgang qualifizieren müssen. Wie der stramme Major Grote, den er jetzt vertreten durfte.

Mit anderen Worten, man ließ ihn nicht hochkommen. Das folgte allein schon aus den Regeln der formalen Logik. Da er nämlich, Spitzenmann seines Fachs, den Lehrgang selbst hätte abhalten müssen, schien für ihn das Ende der Fahnenstange erreicht. Kein Mensch konnte Vorträge halten und zugleich lernend daran teilnehmen. Alles sprach gegen sein Fortkommen – die formale Logik, das dialektische Wechselspiel von Ursache und Wirkung sowie auch „das Räderwerk der Bürokratie“, wie es in Jennys Sprache hieß. Aber er würde es überstehen. Nicht aus jedem Hauptmann wurde ein Major. Je höher man stieg im Apparat, desto intensiver der Papierkrieg, der einen von den wirklichen Dingen fernhielt. Von der operativen Arbeit, die ihm Befriedigung bot, sooft sich ein Erfolg einstellte. Er liebte seinen Beruf, seine Frau und diese Stadt; würde also auch nicht, wie damals nach der Scheidung von Helga, um Versetzung bitten. Kein Mensch war allzeit auf Rosen gebettet.“

Damit sind wir am Ende des aktuellen Newsletters, der wieder sehr verschiedene Angebote bereithält, die jedoch alle eine Eigenschaft gemeinsam haben. Sie sind lesenswert, machen sie doch mit interessanten Leuten und deren Leben bekannt und laden dazu ein, sich mit diesen literarischen Helden gewissermaßen zu unterhalten.

Und somit im doppelten Sinne des Wortes gute Unterhaltung, viel Spaß beim Lesen, einen schönen Literaturherbst und bis demnächst.

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