Bei einer seltenen, tödlich verlaufenden neurologischen Erbkrankheit ist ein Therapiedurchbruch gelungen. „Eine neue Gentherapie bremst das Fortschreiten der spinalen Muskelatrophie Typ 1 (SMA) so wirkungsvoll, dass Kleinkinder, die unbehandelt vor dem zweiten Geburtstag an den Folgen einer fortschreitenden Muskelschwäche sterben, sogar das freie Gehen erlernen können“, berichtet Professor Volker Mall. Der Neuropädiater stellte heute bei der Neurowoche, dem größten deutschsprachigen Kongress für Neuromedizin in Berlin, wegweisende Forschungsergebnisse vor. Bei der Behandlung der Multiplen Sklerose (MS) im Kinder- und Jugendalter berichtet Mall von einem Paradigmenwechsel: „Jugendliche MS-Patienten leiden vor allem unter den ‚unsichtbaren‘ MS-Symptomen wie Depressionen, Fatigue und kognitive Defizite. Sie müssen anders behandelt werden als Erwachsene, bei denen Sehstörungen, Empfindungsstörungen und Lähmungen im Vordergrund stehen.“ Die Neurowoche findet vom 30. Oktober bis 3. November 2018 in Berlin statt und vereint den Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) sowie die Jahrestagungen der Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP) und der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN) unter einem Dach.

Die spinale Muskelatrophie Typ 1 (SMA) ist eine seltene genetische Erkrankung, bei der Nervenzellen im Rückenmark absterben, was zu Muskelschwund und allgemeiner Schwäche führt. SMA Typ 1, der häufigste und schwerste Subtyp der Krankheit, beginnt im Säuglingsalter und endet tödlich durch Ersticken und Atemlähmung. SMA zählt zu den häufigsten genetisch bedingten Todesursachen im Säuglings- und Kleinkindalter. Bisher gab es keine ursächliche Therapie.

Zwei neue Gentherapien erzielen hervorragende Ergebnisse bei der Behandlung von SMA

„Das Wissen um die genetischen Ursachen neurologischer Erkrankungen wächst derzeit rasant. Damit eröffnen sich neue Ansätze für Therapien, die direkt in Krankheitsmechanismen eingreifen“, sagt Professor Volker Mall, Ärztlicher Direktor für Sozialpädiatrie an der Technischen Universität München und Tagungspräsident der GNP. „Mit neu entwickelten Gentherapien ist es in jüngster Zeit gelungen, das Fortschreiten der spinalen Muskelatrophie zu verlangsamen, die Krankheitssymptome zu reduzieren und die Lebensqualität der betroffenen Kinder zu verbessern.“

Hierfür stehen aktuell zwei Wirkstoffe zur Verfügung, die einen molekularen Mechanismus nutzen, um an der Ursache der Erkrankung anzusetzen. Der Wirkstoff Nusinersen, ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid, blockiert die Boten-RNS und bewirkt, dass die krankhafte Genveränderung im Erbgut keine Wirkung entfalten kann. „Ein Nachteil der Therapie ist, dass das Medikament einmal monatlich ins Nervenwasser injiziert werden muss“, so Mall.

Beim zweiten Wirkstoff ist ein spezielles Virus (Adeno-assoziertes Virus Serotyp 9) der Träger der komplementären DNA, die das SMN-Protein kodiert. Diese gesunde DNA kann die Blut-Hirn-Schranke passieren, und das gesunde SMN-Protein wird in den Zellen mit dem geschädigten Erbgut trotzdem hergestellt. Mit diesem Präparat ist nur noch eine einmalige intravenöse Behandlung nötig.

„Beide Therapien erzielen ähnlich gute Ergebnisse“, berichtet Mall. „Aktuelle Studien zeigen, dass die behandelten Kinder eine deutliche Verbesserung der motorischen Funktionen erreichen können bis hin zum Erlernen des freien Gehens, insbesondere wenn die Behandlung vor dem siebten Lebensmonat begonnen hat.“

Gesellschaft für Neuropädiatrie fordert: SMA ins Neugeborenenscreening aufnehmen

Aufgrund der positiven Studienergebnisse wurden die Wirkstoffe allen Patienten mit SMA Typ 1 schon vor der Zulassung zur Verfügung gestellt. „Nun ist es wichtig, dass die spinale Muskelatrophie rasch in das Neugeborenenscreening aufgenommen wird“, fordert Volker Mall. „Auf diese Weise können wir eine erfolgreiche Behandlung der betroffenen Säuglinge möglichst vollständig erreichen.“

Multiple Sklerose: psychische Belastungen erkennen und behandeln

Multiple Sklerose ist nicht nur eine Erkrankung des Erwachsenenalters. Rund fünf Prozent aller etwa 240.000 Patienten erkranken bereits vor dem 16. Lebensjahr. Im Vergleich zu Patienten, die erst im Erwachsenenalter erkranken, besteht mit dem frühen Erkrankungsalter ein höheres Risiko, deutlich früher eine bleibende Behinderung davonzutragen. Aktuelle Studien zeigen darüber hinaus, dass jugendliche MS-Patienten ein erhöhtes Risiko haben, an einer Depression und/oder einer Fatigue zu erkranken.

Forscher aus den Universitätskliniken München (TUM, Projektleitung), Basel und Köln haben mehr als 100 MS-Patienten zwischen zwölf und 18 Jahren untersucht und deutliche Auffälligkeiten im psychischen und kognitiven Bereich festgestellt. Die Ergebnisse zeigten, dass jugendliche
MS-Patienten im Vergleich zu gesunden Altersgenossen doppelt so häufig an einer Depression erkrankten, das Risiko für eine milde Fatigue verdoppelte sich ebenfalls, das für eine schwere Verlaufsform der Fatigue war sogar neunfach höher. Insgesamt wiesen 28,8 Prozent der untersuchten Jugendlichen kognitive Defizite mit Einschränkungen der Wortflüssigkeit, des Arbeitsgedächtnisses, des verbalen Kurzzeitgedächtnisses und der exekutiven Funktionen auf. „Diese Ergebnisse erfordern einen anderen Blickwinkel auf unterschiedliche Therapieoptionen“, konstatiert Mall. „Wir müssen neben den somatischen Symptomen die psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen stärker berücksichtigen“, so Mall weiter. Aus diesem Grund hat die Forschungsgruppe nun einen Screeningtest zur Erfassung von kognitiven Defiziten, von Fatigue und Lebensqualität für den täglichen klinischen Gebrauch entwickelt.

Literatur

Fachlicher Kontakt bei Rückfragen

Prof. Dr. med. Volker Mall
Tagungspräsident der Gesellschaft für Neuropädiatrie
Ärztlicher Direktor, Lehrstuhlinhaber für Sozialpädiatrie, kbo Kinderzentrum München GmbH
Heiglhofstraße 63, 81377 München, Tel.: +49 (0)89 71009-233/318
E-Mail: volker.mall@kbo.de

Fachliche Ansprechpartner zum Thema Muskelerkrankungen/spinale Muskelatrophie

Prof. Dr. med. Ulrike Schara
Präsidentin der Gesellschaft für Neuropädiatrie
Leitende Ärztin Neuropädiatrie, Entwicklungsneurologie und Sozialpädiatrie
Universitätsklinikum Essen (AöR), Klinik für Kinderheilkunde I
Hufelandstraße 55, 45147 Essen, Tel.: +49 (0)201 7232508/-2176
E-Mail: ulrike.schara@uk-essen.de

Prof. Dr. med. Wolfang Müller Felber
Ärztlicher Leiter Motorik-Haus; Co-Direktor Integriertes sozialpädiatrisches Zentrum im Dr. von Haunerschen Kinderspital
Lindwurmstr. 4, 80337 München, Tel.: +49 (0)89 552734-0
E-Mail: Wolfgang.Mueller-Felber@med.uni-muenchen.de

Prof. Dr. med. Janbernd Kirschner
Komm. Ärztlicher Direktor, Universitätsklinikum Freiburg, Klinik Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin
Mathildenstr. 1, 79106 Freiburg, Tel.: +49 (0)761 27043150
E-Mail: Janbernd.Kirschner@uniklinik-freiburg.de

Fachliche Ansprechpartnerin zum Thema Multiple Sklerose im Kindes- und Jugendalter
Dr. med. Karin Storm van’s Gravesande
Lehrstuhl für Sozialpädiatrie, kbo Kinderzentrum München gGmbH
Heiglhofstraße 63, 81377 München
E-Mail: karin.storm@gmx.de

Kongress-Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
c/o albertZWEI media GmbH, Oettingenstraße 25, 80538 München
Tel.: +49 (0)89 46148622, Fax: +49 (0)89 46148625
Pressesprecher: Prof. Dr. med. Hans-Christoph Diener, Essen
E-Mail: dgn@albert-zwei.de

Die Gesellschaft für Neuropädiatrie e.V. (GNP)
Die Gesellschaft für Neuropädiatrie ist eine wissenschaftliche Fachgesellschaft für die drei deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz. Sie vertritt die Neurologie des Kindes- und Jugendalters. www.neuropaediatrie.com

Präsidentin: Prof. Dr. med. Ulrike Schara
Stellvertretender Präsident: Prof. Dr. Matthias Kieslich
Schriftführer: Dr. Andreas Sprinz
Schatzmeister: Prof. Dr. Thomas Lücke

Geschäftsstelle: Haubensteigweg 19, 87439 Kempten, c/o ZiNK – Zentrum für interdisziplinäre Neuropädiatrie,
Tel.: +49 (0)831 96076177, Fax: +49 (0)831 96076197, E-Mail: info@neuropaediatrie.com

Über Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V.

Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN) sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren rund 9000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org

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Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
Past-Präsident: Prof. Dr. med. Ralf Gold
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