Von Mark Twain stammt die wunderbare Bemerkung, das Vorhersagen schwierig seien – vor allem, wenn sie die Zukunft beträfen. Dennoch geht es auch in diesem Newsletter mit den aktuellen sechs Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 23.11.18 – Freitag, 30.11.18) zum Sonderpreis zu haben sind, um Zukunft und Zukunftsvorstellungen – so zum Beispiel in der Auswahl früher und später Gedichte „Im Mantel von Allerleirauh“ von Elisabeth Schulz-Semrau und im letzten Angebot dieser Woche, dem längst zu einem Klassiker der DDR-Literatur gewordenen Roman „Spur der Steine“ von Erik Neutsch, dessen E-Book-Variante übrigens nicht nur eine Woche lang, sondern sogar den gesamten Monat November zu einem günstigeren Preis zu haben ist. Balla-mäßig gewissermaßen …

Mit viel Heiterkeit erzählen Hildegard und Siegfried Schumacher in ihrem Kinderbuch „Andy, Chef der Familie“ aus Sicht eines 10-jährigen Jungen, was passiert, wenn die zeitweilige Abwesenheit der Mutter neue Antworten auf alte Fragen verlangt: Wer bitte kümmert sich dann wie um die kleine Schwester, die Nachzüglerin?

Um einen dramatischen Moment im Leben einer nicht mehr ganz jungen Frau, die eine erschreckende Diagnose zu hören bekommt, geht es in dem Filmszenario „Die Beunruhigung“ von Helga Schubert.

Verschiedene Kindergeschichten enthält der Band „Streit um Legohr, sieben Löffel Pudding und andere Kindergeschichten“ von Günter Saalmann.

Aber nun zum ersten Angebot des neuen Newsletters, der schon ziemlich weit hineinreicht in die Weihnachts- und Weihnachtsgeschenke-Zeit:

Erstmals 1980 erschien die Druckausgabe von „Der Tag, an dem Sir Henry starb“ von Maria Seidemann im Eulenspiegel Verlag Berlin: Drei alte Damen treffen sich in einem Café: Verbindendes und Trennendes in ihrem Leben wird deutlich. – Ein Mann hat anlässlich eines Staatsfeiertages eine Auszeichnung bekommen: Wie benimmt er sich danach? – Ein Mädchen sorgt für den kleinen behinderten Bruder und durchbricht in seinen Wünschen und Träumen alle Konventionen und Zwänge des Elternhauses. – Eine junge Frau, von vielen als asozial verleumdet, findet ihren Weg zu einem sinnvollen, erfüllten Dasein … Um Menschen in der DDR geht es in diesen und anderen Geschichten Maria Seidemanns, um ihre Träume und Enttäuschungen, um Relikte aus früheren Entwicklungsabschnitten und um Prozesse des Werdens und der Veränderung durch Umwelteinflüsse. Maria Seidemann, die mit diesem Band als Prosaistin debütiert hatte, findet in oft unscheinbaren Vorgängen poetische Markierungen. Einher geht damit ein unterschwelliger feiner Humor, mit dem sie die menschlichen Verhaltensweisen vor ihrem konkreten gesellschaftlichen Hintergrund zu deuten versucht. Und doch bittet die Autorin bei aller verhaltenen Ironie um Nachsicht für die Verletzbarkeit derer, über die gelacht wird. Charakteristisch für die Erzählhaltung von Maria Seidemann ist ihre starke Affinität zur Malerei, die sich gleichermaßen in ihrer Themenwahl und einem sinnlich-bildhaften Stil ausdrückt. Schauen wir also hin, wie die Autorin ihre Geschichten malt. Hier die erste davon, in der schon das zwölfte Wort des ersten Satzes „Farben“ lautet:

Kloster am Berge

Unvermittelt erhob sich der Berg aus der herben, grünen Landschaft. Die Farben seines Gipfels mischten sich mit dem Blau des Himmels, das in jenem Sommer von seltener Kraft war und auch des Nachts nicht abstumpfte. In seiner Flanke barg der Felsen ein Kleinod von robuster Schönheit: das Kloster. Dorthinauf führte ein Sträßlein in endlos steilen Serpentinen, wie ein Fremdkörper schien es der Haut des Berges aufgeklebt.

Lange schon lebten hier keine Franziskaner mehr. Das Kloster beherbergte eine Bibliothek, eine Bildersammlung und einen weltberühmten Mosaiksaal. Man musste von der Liftstationzu Fuß herüberkommen oder auf einem der landesüblichen braunen Esel heraufreiten.

Wir kamen im Juli. Bis in den Herbst hinein sollten wir Gäste im Kloster sein mit keiner anderen Verpflichtung als der, einander in befruchtenden Gesprächen kennenzulernen, Impulse zu geben und zu nehmen.

Während der Fahrt vom Flughafen schlief ich. Salzmann weckte mich sanft, ich erblickte den gewaltigen Berg und die Esel, die bereits von unseren Gefährten beladen wurden. Alle hatten sie ungewöhnlich viele Manuskripte mitgebracht, die Eseltreiber stöhnten, doch endlich war alles verstaut. In beschaulicher Karawane ritten wir den Felsen empor. Nach jedem Serpentinenschwung eröffnete sich die Ebene weiter, der Fluss, Felder, Tagebaue, Städte, Gebirge, das Meer in Ebbe und Flut, die Erde mit ihren Völkern und die Sonne, die um sie kreiste – all das lag unter unseren Augen und wartete, erkannt und beschrieben zu werden. Beeindruckt reichte ich meine Hand hinüber zu Salzmann, der neben mir ritt. Vor uns bewegte sich im Rhythmus gemächlichen Eseltrabes eine Reihe bedeutender Köpfe, auf, ab, auf, ab, dem einen Ziele zu.

Endlich nahm uns das Refektorium auf. Außer Salzmann kannte ich nur Lore Blum, obgleich ich sicher war, noch viele andere kennen zu müssen, ihre Gesichter hatte ich in Zeitungen und auf dem Bildschirm gesehen, ihre Bücher gelesen, doch zu meiner Verlegenheit waren mir die Namen ausnahmslos entfallen.

Das Unbehagen bei dem Gedanken, wie Salzmann und ich in dieser erlesenen Runde bestehen sollten, löste sich bald in der harmonischen Umgebung. Eine Wolke von Freundlichkeit hüllte das Kloster ein, Küche und Keller füllten uns mit Wohlbehagen. Es wurde tagtäglich gelesen und ausgetauscht, gelobt und ermuntert. Auf allen Gesichtern lag bukolische Heiterkeit, ich merkte, wie auch Salzmann die Anspannung der letzten schweren und unschöpferischen Wochen abwarf, und fühlte mich glücklich unter Gleichgesinnten. Nur die strengen, wenngleich warmen Züge der Lore Blum zeigten kein Lachen, kein Lächeln, bis zum Ende des siebten Tages, und da war doch das Schlimmste schon fast geschehen.

In der Nacht, die dem fünften uneingeschränkt glücklichen Tage folgte, erwachten die Klosterinsassen von einem Erdstoß, der die starken Mauern schwanken ließ. Ein armdicker Riss zerstörte den Fußboden des Mosaiksaales. Während wir uns verwirrt im Refektorium sammelten, brach in der Bibliothek ein Feuer aus, das wir nur mit beinahe übermenschlicher Anstrengung löschen konnten. Als wir nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes ins Freie traten, bot uns die Natur einen veränderten Anblick: Ein Stück des Berges war in die Tiefe gebrochen und mit ihm die Liftstation samt den ersten beiden Serpentinen. Zunächst waren wir alle bestürzt. Doch die unberührte Weite und Schönheit der den Berg umgebenden Welt ließ die Beunruhigung bald vergessen. An Salzmanns Arm wandelte ich wie die anderen zurück ins Refektorium, wo an diesem Tage der Lyriker mit dem rassigen Pferdeprofil, dessen Name mir schon wieder entfallen war, sein neues Poem vortrug, aus dem zu hören seit Langem alle begierig waren.

Salzmann fragte die dunkel blickende Lore Blum, ob sie sich nicht der allgemeinen Freude darüber anschließen wolle, dass das Feuer gelöscht und wir alle unversehrt seien. Lore Blum antwortete, sie habe in ihrem Leben noch einiges vor. Bestätigend lachte Salzmann, mir aber kroch Kälte in den Nacken, und ich betrachtete den Berg in Sorge.

In der nächsten Nacht stürzte der gesamte Gipfel hinab und zerschellte in schartige Brocken, die den Berg an seinem Fuße umlagerten. Im verbleibenden Stumpf klaffte ein breiter Spalt, sodass wir in die einzigartige Lage kamen, durch den Berg hindurch den unveränderlich klaren, starkfarbenen Himmel anschauen zu können.

Ein Riss jedoch ging auch durch unsere Mitte, die schöne Eintracht zerbrach. Lore Blum erklärte laut, sie werde den Berg sofort verlassen, wer den Mut zu leben habe, möge ihr folgen. Gewichtige Stimmen mahnten zur Besonnenheit, die günstigen Bedingungen dieses Treffens gelte es unter jedem Umstand zu erhalten.

Hier geschah es plötzlich, dass Lore Blum zum ersten Male lachte, es war ein ungutes Lachen und passte doch beängstigend glatt in ihr Gesicht, als hätte es lange dort versteckt gelegen. Eine Gruppe um einen grobknochigen Alten, der mit rollendem Akzent sprach und die kräftigen Hände seine Worte unterstreichen ließ, verlangte, die im Kloster befindlichen Kunstschätze, sämtlich mehrere Jahrhunderte alt, nicht unbeaufsichtigt einer entfesselten Natur auszuliefern. Zu meiner Überraschung tat Salzmann den Mund auf und fragte, was aus unser aller Manuskripte werden solle, die wir im Falle einer Flucht wegen ihres Gewichtes zurücklassen müssten. Er gebrauchte das Wort Flucht als erster. Der Lyriker mit dem rassigen Profil bot an, die Papiere ihm zu sicherer Verwahrung anzuvertrauen, er hätte einflussreiche Verwandte. Da lachte Lore Blum wieder.

Der bekannten, stets bernsteingeschmückten Dramatikerin – mir fiel erst jetzt auf, dass sie grün gefärbtes Haar trug – gelang es, Ängstliche und Aufgeregte zu besänftigen, gewiss würde man uns schon in der nächsten Stunde abholen, mit Hubschraubern, mit einer Rutschbahn oder wie auch immer. Auf jeden Fall würden wir erfahren, wie wir uns weiter zu verhalten hätten, wir dürften nur jetzt nicht Mut und Vertrauen verlieren.“

Erstmals 1976 veröffentlichten Hildegard und Siegfried Schumacher im Kinderbuchverlag Berlin ihr Buch „Andy, Chef der Familie“: Andy ist noch nicht 10 Jahre alt, als seine Mutter für ein halbes Jahr nach Moskau zum Studium geht. Fast 150 Hinweise der Mutter schreibt er in sein Heft, denn Mutti hat ihn zum Chef über Vati und die zweijährige Schwester Anke erklärt. Vati ist Kreisschulrat und kommt meist sehr spät von der Arbeit nach Hause. Was gibt es da nicht alles zu erledigen? Anke muss in die Krippe gebracht und pünktlich abgeholt werden und auch so immer betreut werden. Die Wohnung und die Wäsche ist zu reinigen, täglich steht der Einkauf an, dazu die Essenzubereitung und der schreckliche Abwasch. Andy weiß oft nicht, wo ihm der Kopf steht, obwohl er sich mit Vati in die Arbeit teilt und „neue Methoden“ erfindet. Dazu kommen natürlich aber auch noch die Schule und das Fußballtraining. Spannend und mit viel Humor schreiben die beiden Autoren über den Eifer des Jungen, manche Panne und – hilfsbereite Freunde. Besuchen wir also Andy, der von sich selber spricht:

„1. Kapitel

Andy, sagte ich mir, irgendwas geht los, und zwar bald! Ich brauchte nur meine Eltern anzusehen. Vati hat ein lustiges Gesicht. Er lacht gern. Doch nun fehlten die zwei feinen Falten, mit denen er aussieht, als ob er heimlich grinst, die Mundwinkel hingen ihm herab wie ein Schnauzbart, der traurig ist, und seine Stirn glich einer Hindernisstrecke.

Muttis Gesicht ist mehr nachdenklich. Mir kam es noch nachdenklicher und länger vor. Und warum schimpfte sie nicht, als ich den Mülleimer in der Küche umstieß? Nein, sie stöhnte nur und fegte wortlos alles auf. Selten gelingt es mir, Mutti zu verflunkern. Aber ich schaffte es zweimal, mit ungeputzten Schuhen zur Schule zu traben. Alarm, sagte ich mir da, Alarm!

Ich sprach mit Anke darüber, als ich sie am Nachmittag von der Kinderkrippe abholte. Anke ist zwei, knapp acht Jahre jünger als ich, und ich hole sie fast immer ab. Darin bin ich Fachmann. Die Stütze der Familie, wie Vati sagt. Anke soll ein Nachkömmling sein, so hörte ich es einmal von Mutti. Eher trifft es für sie zu, finde ich, denn Mutti hat Mühe, hinter Anke herzukommen, wenn die etwas auf dem Kieker hat.

Ich hielt Anke fest an der Hand, damit sie mir nicht auskneifen konnte. Viele Autos fahren durch Freibach.

„Anke“, sagte ich, „bei uns zu Hause schiebt sich was zusammen.“

„Dadadada“, sagte Anke.

„Hm“, machte ich. „Du hast es also auch bemerkt.“

„Dada“, sagte sie.

„Bist ein kluges Kind.“

„Papa“, sagte Anke.

„Wieso Papa?“, fragte ich. „Kann genauso gut mit Mutti zusammenhängen. Abwarten, Anke.“

„Dada.“

Wir waren uns einig, und ich versprach ihr, weiter ein offenes Auge zu haben. Als wir zu Hause anlangten, stand Vatis Trabi schon auf dem Hof, es war erst vier durch, und das kommt nicht öfter vor als Bananen im Konsum.

Vati arbeitet wie Mutti in Falkenwalde, unserer Kreisstadt. Sie liegt genau fünf Kilometer von Freibach entfernt. Vati ist der Chef aller Schulen. Kreisschulrat nennt er sich. Sonst kommt er später nach Hause, weil er auf vielen Sitzungen herumsitzen muss. Unsere Mutti fährt dann mit dem Bus, oder sie stoppt ein Auto. Für dreiunddreißig sieht sie noch sehr hübsch aus. Sie braucht nie lange zu warten. Mutti gibt Russisch und Deutsch an der erweiterten Oberschule in Falkenwalde. Meist hat man es schwer, wenn die Eltern Lehrer sind. Oje, oje, rutscht mal eine Drei unter die Zensuren, gleich ist Theater da! Ein Glück, dass Vati und Mutti nicht so verrückt denken.

Ihnen ist ein richtiger Junge lieber als ein Musterkind. Aber das glauben die meisten Lehrer von einem Schulratvater nicht, und das ist mein Unglück. Ich brauch nur einmal schief dazusitzen oder die Backen aufzublasen, schon spricht es sich herum. „Andy, nimm dich zusammen“, sagt Vati dann. Dabei zucken die Falten um seinen Mund, als müsste er lachen. Wirklich, Vati ist ein menschlicher Vater.

An diesem Nachmittag saßen Mutti und Vati im Wohnzimmer am Tisch. Kein Heft, kein Buch, keine Akte. Sie saßen nur da und guckten sich an, es war ganz still, und ich las es ihnen vom Gesicht ab, dass sie ratlos waren.

„A-a!“, sagte Anke. Diese zwei Buchstaben sind für uns ein Signal. Wir sind sehr stolz, dass Anke sauber ist. Darum stürzte ich gleich los und holte den Topf einfach ins Wohnzimmer. Wie oft sieht man seine Eltern schon ratlos?

Mutti protestierte nicht. Ohne ein Wort befreite sie Anke von überflüssigem Anziehzeug.

Als habe dieser Zwischenfall Vati die Sprache wiedergegeben, sagte er nun: „Andy, nimm Platz!“ Er zeigte auf unsern ledernen Ohrensessel, den er sonst dem Besuch anbietet. Ich lehnte mich zurück und legte die Arme auf die Seitenstützen. Schade, dass meine Füße noch nicht bis zur Erde reichen, wenn ich so breit in diesem Sessel sitze.

Familienberatung. Ich sollte helfen, weil Vati und Mutti nicht weiterwussten. Anke spielte in der Ecke. Sie ist nicht stimmberechtigt.

„Also …“, begann Vati und verstummte. Das wurde ein schwerer Fall. Ich runzelte meine Stirn genau wie er. Es denkt sich besser.

„,Also“, fing er noch einmal an, „das ist …“

„Ja“, sagte Mutti, „so ist das, weißt du.“

Wer soll daraus schlau werden? Ich sagte: „Ihr schleicht wie Mertens Katze um den heißen Brei.“

„Dauernd redet ihr mir dazwischen!“, schimpfte Vati. „Nun lasst mich doch! Das ist nicht einfach!“ Er schlug auf die Tischplatte. So aufgeregt kannte ich ihn nicht. „Also Mutti kann nach Moskau … Studieren … Russisch. Sie braucht es für den Unterricht.“

„Sechs Monate“, sagte Mutti. „Ich möchte ja, aber …“

„Ein ziemlich langer Schulweg“, stellte ich fest.

Da setzte sich Mutti ganz aufrecht hin. „Nein! Nein, ich mach das nicht!“

„Was!“, rief ich. „Das machst du nicht?“ Mich haute es glatt um. Sechs Monate Moskau! Jeden Tag Soljanka essen, über den Roten Platz spazieren, den Genossen Lenin besuchen, Metro fahren. Tag für Tag! Und Moskauer Eis soll einsame Klasse sein! „Unserm Vati“, sagte ich, „dem bringst du eine Flasche echten Wodka mit.“

„Ich kann euch nicht mit allem allein lassen.“

„Anke kann ich auch auf den Topf setzen“, sagte ich, „genau wie du.“

„Dada“, brabbelte Anke in ihrer Ecke.

Mein Angebot veranlasste Vati, Mutti für Moskau zu agitieren. „Siehst du, Andy ist ein vernünftiger Junge. Wir schaffen die Arbeit schon.“

„Klar“, sagte ich, „die schaffen wir, Vati. Bloß du darfst dich nicht vorm Abtrocknen drücken, wie es deine Mode ist.“

„Ach!“, sagte er mit großer Handbewegung. „Wir organisieren uns alles hin.“

„Topp, Mutti, du fährst!“ Und damit war es beschlossene Sache.

Erstmals 2002 legte Elisabeth Schulz-Semrau unter dem poetischen Titel „Im Mantel von Allerleirauh“ eine Auswahl früher und später Gedichte vor. Hier eine Auswahl aus dieser Auswahl:

Der Menschen Glück

Unlängst

verriet jemand

über den Äther

ein Wissenschaftler

wobei sein Lachen

computerhaft kollerte:

Ab 2040 beginnt

die vollkommene Zukunft

Eine Welt aus Computern –

der Wald aus Computern

das Meer aus Computern

die Berge aus Computern

und all’ unsere Mühen

lösen Computer …

Oh Gott dachte ich

Und wo verstecken sie

die richtige Welt?

Und Dich

lieber Gott

klonen sie Dich vielleicht

 

Einem Freund

Immer wieder

male ich

deinen Namen in den Sand,

immer wieder löscht ihn die Welle.

Und täglich

ist ein Gedanke

um dich,

und täglich

deckt die Zeit

Kalenderblätter darüber.

Sindbad der Seefahrer

bist du –

und Kay,

dem die Schneekönigin

das Herz vereiste –

… aber niemals mehr du –

 

Erstmals 1982 legte Helga Schubert im Henschelverlag Kunst und Gesellschaft Berlin das Filmszenarium zu der sehr beeindruckenden DEFA-Produktion „Die Beunruhigung“ (Regie: Lothar Warnecke, Kamera: Thomas Plenert) mit Christine Schorn in der Hauptrolle vor: Dieser Film, der sich an das Szenarium eng anlehnt, lief im Jahre 1982 in Ostberlin fünf Wochen lang im ausverkauften Uraufführungskino und wurde zur Biennale in Venedig eingeladen. Die Autorin erhielt den Szenariumspreis des Spelfilmfestivals in Karl-Marx-Stadt (jetzt Chemnitz) und zusammen mit den Filmemachern den Heinrich-Greif-Preis. Das Original liegt jetzt im Potsdamer Film-Museum. Der Film wurde in den letzten Jahren im Fernsehen und auch beim Frauenfilm-Festival in Toronto gezeigt. Im Mittelpunkt stehen 24 Stunden im Leben einer berufstätigen, alleinerziehenden Frau, die aufgrund einer Krebsverdachtsdiagnose an diesem Tag ihr Leben wie unter einem Mikroskop sieht und es nicht nur privat, sondern auch in politischer Hinsicht befragt. Das Szenarium erzählt diesen dramatischen Tag drei Jahre später in einer Rahmenhandlung, die Hoffnung macht. Die Filmwissenschaftlerin und Dramaturgin des Films, Dr. Erika Richter, beleuchtet in ihrem interessanten Nachwort den Unterschied zwischen Literatur und Verfilmung. Das Szenarium beginnt mit einer ebenso ausführlichen wie aufschlussreichen Vorbemerkung, in unserem Auszug folgen das 1. und das 2. Bild:

„Vorbemerkung

Gezeigt wird ein Tag im Leben einer Frau mitten unter uns. Trotz aller Schwierigkeiten (anstrengender Beruf als Fürsorgerin in einer Familienberatungsstelle, gerade überstandene Scheidung, Verantwortung für den fünfzehnjährigen Sohn, Beziehungen zu einem verheirateten Mann, der dieses Verhältnis und sein Familienleben miteinander vereinbaren möchte) fühlt sie sich stark genug, ihr Leben zu meistern. Sie möchte ihre Unabhängigkeit und Selbstständigkeit besonders in ihrem Privatleben betonen. Am liebsten wäre es ihr, wenn sie niemanden brauchte. Diese Haltung hat sie bisher auch sehr deutlich ihrem Partner gegenüber vertreten; sie möchte niemals als Versager dastehen, vor allem stark und beherrscht sein.

An diesem Tag tritt etwas für sie völlig Unerwartetes ein. Nach einer Routineuntersuchung deutet der Befund auf eine bösartige Erkrankung hin. Es gibt wenig Zweifel, aber es ist am Anfang. Ändert sich etwas in ihrem Leben, in ihrer Einstellung zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen?

Der Film soll zeigen, wie sie mit geschärfter Optik Haltung und Lebensverhältnisse ihrer Patienten, ihrer Kollegen, ihres Sohnes, ihrer Mutter, ehemaliger Mitschüler und schließlich die ihres Partners sieht. Das alles sind für sie Bezugspersonen, mit denen sie sich vergleicht, von denen sie etwas erwartet oder denen sie sich verantwortlich fühlt, an denen sie auch ihre eigene Lebenserfüllung misst. Der Film soll nicht die Bilanz ihres Lebens ziehen, sondern durch die unverhoffte Konfrontation mit dem eigenen möglichen nahen Tod eine tiefe, eine konstruktive Beunruhigung zeigen.

Personen:

Inge Herold, Fürsorgerin in einer Familienberatungsstelle, Ende Dreißig, geschieden

Joachim, ihr Geliebter, Anfang Vierzig, verheiratet, Lehrausbilder in einem Produktionsbetrieb

Lutz, der fünfzehnjährige Sohn Inges, Schüler

Katharina, Richterin, eine ehemalige Mitschülerin Inges

Brigitte, Biochemikerin, eine ehemalige Mitschülerin, Westberlinerin

Dieter Schramm, Ingenieur, ehemaliger Mitschüler

Sekretärin, Kollegin Inges

Fürsorger, Kollege Inges

Rat suchendes Ehepaar in Inges Beratungsstelle

Ältere Frau, Patientin in der Beratungsstelle

Arzt in der Geschwulstklinik

Seine Sprechstundenhilfe

Alte Frau im Wartezimmer

Junge Frau, Mitpatientin

Zwei Verkäuferinnen

Inges Mutter, kurz vor der Berentung, Ende Fünfzig, arbeitet halbtags

Ältere Dame im Café

Kellnerin

Behördenangestellte im Gericht

Pförtner im Theater

Pförtnerin im Gerichtsgebäude

Schauspieler vom „Schweyk“ im Kostüm in der Kantine

Mitfahrerin in der Straßenbahn

Dicke Frau aus der Nachbarwohnung Dieters

Ihr Mann

Ihre große Tochter

Kleinere Kinder dieser Familie

Ines, die kleine Tochter Dieters, vierjährig

Zwei Freundinnen von Lutz

Ein Freund von Lutz

Straßenpassanten, Mitfahrer in der Straßenbahn, Leute im Wartezimmer

Ort der Handlung: Berlin

Zeit: Gegenwart

  1. Bild

Dieses Bild bildet mit dem letzten eine Rahmenhandlung. Die männliche Hauptperson dieser und der letzten Szene ist eine andere als der Partner unserer Heldin in der gesamten Rückblende. Diese Erkenntnis gewinnt der Zuschauer aber erst mit der letzten Szene.

Wintermorgen, zugezogene Gardinen. Licht kommt nur aus dem Wohnungsflur. Geräusche von der Straße, Großstadtlärm, die Hochbahn in der Schönhauser Allee vordem Fenster. Die Sachen eines Mannes und einer Frau auf den Sesseln. Beide liegen im Bett und schlafen, beide etwa Ende Dreißig. Ein Wecker mit einer großen Glocke ertönt. Die Frau stellt den Wecker ab, richtet sich auf, steht im Dunkeln auf und geht ins Badezimmer. Dort zieht sie ihr Nachthemd aus und geht unter die Dusche. Dabei sieht man, dass sie nur noch eine Brust hat. Sie behandelt ihren Körper ganz selbstverständlich, ohne Selbstmitleid, streicht aufmerksam über ihre Narbe am Oberkörper, trocknet sich ab, putzt die Zähne, cremt sich ein und schminkt sich, zieht sich ihre aus dem Zimmer mitgebrachten Sachen an, auch die Brustprothese, und kämmt sich. Dann sieht sie sich noch einmal prüfend an: ein ernstes, lebendiges Gesicht. Sie geht in die Küche, setzt Wasser für Kaffee auf, bereitet eine Tasse zu, schneidet eine Stulle ab und frühstückt im Stehen. Als sie fertig ist, geht sie ans Bett des Mannes. Er ist halb wach, umschlingt sie und zieht sie zu sich. So liegt sie neben ihm im Bett.

Inge Wenn du mich so hast, denke ich immer, mir kann nichts passieren. – Obwohl es heute nur eine Nachkontrolle ist, ich bin so aufgeregt wie bei der ersten Untersuchung. Über drei Jahre habe ich schon geschafft, zwei Jahre schaffe ich auch, und dann brauche ich nicht mehr hin, nicht mehr so oft wie jetzt. Drei geschenkte Jahre!

Er drückt sie an sich.

Rückblende

[*] Bild

Vor drei Jahren. In Inges Wohnung. Morgen. Die gleiche Situation wie im 1. Bild, aber doch deutliche Unterschiede. Trotz der zugezogenen Gardinen ist es hell im Zimmer. Einige Möbelstücke aus dem 1. Bild fehlen, alles hat mehr den Charakter des Zimmers einer Frau, verspielte Ketten an der Decke, Kinderzeichnungen und Plakate an der Wand. Der Großstadtlärm ist unverändert. Inge und Joachim im Bett, nackt, halb zugedeckt. Sie schlafen. Das unangenehme Geräusch eines Sumatic-Weckers. Inge richtet sich auf und stellt den Wecker ab. Dabei sieht man, dass sie noch nicht an der Brust operiert ist. Sie wirkt etwas jünger, verspielter, koketter. Ihre Haare sind kürzer. Der Mann wiederum ist zurückhaltender, abwesender und nicht so zärtlich wie im 1. Bild. Nachdem sie den Wecker ausgestellt hat, lässt sie sich ins Bett zurückfallen, kriecht unter seine Bettdecke und küsst ihn. Er hat die Augen noch geschlossen, macht ein Auge auf und wieder zu, genießt es.

Joachim So möchte ich immer aufwachen.

Inge Meinst du nicht, dass es dir langweilig werden würde? Und genauso wie jetzt mit deiner Frau?

Joachim Komische Frau bist du. Eine andere würde durchdrehen oder mit einem anständigen Selbstmord drohen, wenn ich mich nicht langsam scheiden lasse.

Inge Du musst selber wissen, was du tust. Für mich bist du ein freier Mensch. Und ich bin ein freier Mensch.

Er richtet sich auf und packt sie beunruhigt an den Schultern.

Joachim He, du bist kein freier Mensch. Kommt gar nicht infrage.

Inge Ich bin von niemandem abhängig. Das hab ich mir schwer erkämpft. Auch nicht von dir. Und wenn du einen Teil deines Lebens spießig leben willst, dann ist das deine Entscheidung. Mit mir hat das nichts zu tun. Ich mache genau so lange mit, wie ich will.

Im Gegensatz zu ihren energischen und für Joachim auch glaubhaften Worten ist Inge zu ihm im Bett voller Zärtlichkeit und Sinnlichkeit.

Ich hab den Wecker extra früher gestellt, aber jetzt müssen wir raus.

Sie befreit sich aus seinen Armen und steht auf.

Joachim Du redest wie ein Raubritter. Als ob du ganz stark bist. Als ob du mich als Zutat in deinem Leben hast. Als ob du mich überhaupt nicht brauchst.

Inge hat einen dunklen samtigen Morgenmantel um, lehnt sich an die Zimmertür von innen, sieht ihn blass und ernst an.

Inge Ja, das möchte ich erreichen. Kein Anhängsel, kein Efeu.

Joachim Bis du einmal auf der Nase liegst.

Inge kommt gewaschen zurück und will sich anziehen. Er nimmt sie in die Arme und schnuppert an ihr.

Hm, wie du riechst.

Inge Wo warst du denn nun diese Nacht? Was willst du deiner Frau erzählen?

Joachim Bei dir war hier immer eine richtige Oase. Die ganzen zwei Jahre hab ich mich jedes Mal gefreut, wenn ich es einrichten konnte. Und ich dachte, du auch. Willst du uns das kaputtmachen, oder?

Inge schweigt. Sie geht in die Küche und bereitet das Frühstück vor, drei Teller, drei Messer usw., macht Milch warm, gießt Kaffee auf, Joachim hört man aus dem Bad gurgeln. Sie geht zum zweiten Zimmer und ruft ihren Sohn.

Inge Lutz, auf stehen!

Sie öffnet die Tür, freundlich, geht zu seinem Bett. Der Sohn aber ist missgelaunt. Er ist etwa fünfzehn Jahre alt.

Lutz Ist der etwa immer noch da?

Inge möchte gern vermitteln, bleibt freundlich, muss sich aber zusammennehmen.

Inge Er ist mein Mann, sieh mal.

Lutz stellt seinen Rekorder an, Hardrock, er dreht sich auf die andere Seite.

Lutz Aber du bist nicht seine Frau, das ist der feine Unterschied. Ich könnte das nicht, mit zwei Frauen. Morgen frühstückt er da. Ganz genau so!

Er richtet sich auf.

Inge setzt sich kurz auf den Bettrand, antwortet aber nicht. Lutz angelt vom Bett aus seine Schulmappe, holt sein Mitteilungsheft heraus und reicht es aufgeschlagen seiner Mutter.

Du musst noch eine Mitteilung unterschreiben.

Inge liest.

Inge Warum gibst du mir die erst heute? Da können wir doch gar nicht mehr darüber sprechen.

Die Badezimmertür geht.

Joachim Bad frei.

Lutz springt aus dem Bett und ruft vom Flur aus

Ich habs vergessen. Die Olle in Chemie versteht auch keinen Spaß.

Inge holt aus der Küche das Frühstückstablett und geht damit in ihr Zimmer, wo sich

Joachim gerade rasiert. Er hilft mit der freien Hand decken.

Lutz kommt auch. Seine Nase ist dick mit Schwefelpuder bedeckt. Inge bemerkt das und lächelt, aber dann liest sie erst die Mitteilung vor.

Inge Lutz erhielt heute in der Chemiearbeit eine Fünf, weil er sich einen Spickzettel in Form eines Liebesbriefes angefertigt hatte, in dem mehrere chemische Formeln aufgeführt waren. Vorwurfsvoll

Eine Fünf! Du verdirbst dir doch dein ganzes Abschlusszeugnis. Außerdem ist das Betrug.

Lutz verteidigt sich, Joachim sieht sich den Spickzettel an und schmunzelt.

Lutz Die haben alle abgeschrieben, auch die Chemie-Asse. Und weißt du, wie es die Mädchen machen? Die schreiben alles auf ihre Oberschenkel und ziehen die Röcke an. Und denkst du, da traut sich ein Lehrer, denen die Röcke hochzuschieben? Kommt doch gleich die Sitte!

Inge Der bekommt also die besten Zensuren, der am besten betrügen kann?

Lutz sieht beide an.

Lutz Wie habt ihr eigentlich abgeschrieben?

Inge Ich hatte dazu ein viel zu schlechtes Gewissen. Ich hatte ja schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich andere von mir hab abschreiben lassen.

Lutz Genau genommen macht Spickzettel machen genauso viel Arbeit wie Lernen. Manchmal brauche ich den gar nicht mehr, weil ich das Zeug dabei wiederholt habe und wusste. Richtig blöde!

Joachim Und das habe ich mit meinen noch alles vor mir. – Ich hab übrigens auch manchmal geschummelt. Voriges Jahr bei unserem Klassentreffen haben wir das alles mal zum besten gegeben: alles vorher auf dem Löschblatt, und wenn man die Arbeit abgab, legte man ein neues Löschblatt ins Heft.

Lutz steht auf, weil er zur Schule muss.

Inge Lutz, bei mir wird es heute später, und abends gehe ich ins Theater. Holst du bitte ein? Brot, Wurst, Milch, Getränke!

Lutz zu Joachim Sehr passt es heute nicht, ich hab Training, und dann ist Disco. Kannst du nicht mal?

Joachim spürt den Vorwurf.

Joachim Wenn es irgend geht, helfe ich auch bei euch, aber heute werde ich zu Hause mal wieder gebraucht.

Lutz an der Tür Na, denn!

Lutz schlägt die Tür hinter sich ins Schloss.

Joachim misstrauisch Du nimmst dir jetzt öfter was vor, nicht? Nach dem Dienst und abends?

Inge fast trotzig und betont unabhängig Soll ich zu Hause hocken, wenn du keine Zeit für mich hast?

Joachim Wie weit geht für dich deine Freiheit?

Willst du mir gar nichts mehr erzählen? Willst du mich eifersüchtig machen?“

Zu recht unterschiedlichen Zeiten erstmals veröffentlicht wurden die Texte aus dem Band „Streit um Legohr, sieben Löffel Pudding und andere Kindergeschichten“ von Günter Saalmann: Die Druckausgabe von „Streit um Legohr“ erschien erstmals1981 in Der Kinderbuchverlag Berlin, „Am Katzentisch“ 1991 im Arena Verlag Würzburg und „Sieben Löffel Pudding“ 1978 im Berliner Kinderbuchverlag als Band 131 der „kleinen Trompeterbücher“: In Winkeln veranstalteten die Klassen 4a und 4b eine „Kleine Friedensfahrt“. Achim Schuster hat für das Radrennen fleißig trainiert. Seine Chancen, am Ende auf einem Treppchen des Siegerpodestes zu stehen, sind groß. Doch es kommt alles ganz anders. An der Strecke steht seine Freundin Anne, ihr ist der Esel Legohr weggelaufen. Achim unterbricht das Rennen und hilft, das Tier einzufangen. Um aber das Gesamtergebnis seiner Klasse nicht zu gefährden, lässt er sich zu einem Betrug hinreißen. Schwierig werden die nächsten Tage nicht nur für Achim, sondern auch für Frau Schuster, seine Oma und Lehrerin. Ausgerechnet von ihr wird er eine Ohrfeige bekommen – und alles nur, weil Legohr gerettet werden muss. Ulrike und Jörg klettern heimlich auf einen Baum in der Kirschplantage. Der große Ast ragt weit auf die Straße und wackelt bedrohlich. Da fährt ein Lastwagen vorbei … Bastian ist mit seinen Eltern aus Leipzig in den Westen umgezogen. Wird er neue Freunde finden? Da sind Songül, das türkische Mädchen, aber auch Ossi und Tom – und das kostbare Taschenmesser aus Leipzig. Hier ein kleiner Ausschnitt:

„Trainings-Vorlauf

„Nicht so schnell, Papa!“

„Tempo, Acke! Im Windschatten bleiben!“

Papa trainiert mit Achim für die „Kleine Friedensfahrt“ der vierten Klassen. Das ist das Verrückteste seit Jahren: Papa, der Vorsitzende der LPG, bringt mal Zeit auf für seinen Sohn. Er hat das eigene Rad, sein altes Rennrad, vom Schuppenboden geholt, Luft aufgepumpt, Mama winkte am Hoftor, ab ging’s.

„Tempo!“

Der Himmel wird hell, sie verlassen Triebschs Holz. Die Chaussee neigt sich sanft abwärts, rasch – rasch – rasch, rascheln die alten Birnbäume mit ihren jungen Blättchen. Hinter Papa her!

Linker Hand reckt und streckt sich der Kleeschlag der LPG über den Hang. Der Klee steht kümmerlich dieses Frühjahr. Auf einmal bremst Papa scharf. „Mistvieh, verfluchtes!“

Von rechts trottet Triebschs Esel Legohr über die Fahrbahn. Hat die behaarten grauen Ohren nach hinten gelegt, von seinem Halfter baumelt ein Stück Strick. Achim stemmt sich in den Rücktritt, nimmt hart die Handbremse. Auch der Esel ist stehen geblieben. Blickt erwartungsvoll. Pupst. „Satansbraten“, sagt Papa. „Wolltest wieder in unseren Klee. Hat dich die alte Hexe losgescheucht?“

Legohr blinzelt, hebt die Ohren, legt sie wieder an.

„Großmutter Triebsch ist keine alte Hexe“, rügt Achim seinen Vater. Er benutzt den vornehmen Ausdruck „Großmutter Triebsch“, obwohl er sonst auch nur „alte Triebschen“ sagt, wie alle Leute im Dorf Winkeln.

„So?!“ Papa muss sich zwingen, ruhig zu atmen. Plötzlich ist zu merken, dass er das Radfahren doch nicht mehr so recht gewohnt ist. „So? Eine Hexe ist sie also nicht. Fein, fein. Du Experte, du. Aber ihren Esel – den schickt sie absichtlich in den LPG-Klee, damit er sich den Wanst vollschlägt. Diebstahl nenn ich so was. Hat sie kein Gras vorm Haus?“

Den Krach zwischen Großmutter Triebsch und der LPG gibt es nicht erst seit gestern. Die alte Frau zetert im Dorf herum, das Gras auf ihrer Wiese ist dem Esel nicht mehr zuzumuten! Jedenfalls nicht, solange die Winkelner weiterhin ihr Gerümpel draufpfeffern! Die LPG wiederum erklärt, dafür ist sie nicht zuständig. Das Gerümpel ist Bürgermeistersache. Und die Leute laden ihren Krempel ja auch im Wald ab. Wer soll da anfangen aufzuräumen … Gut, gut, verkündet die alte Triebschen, dann frisst er eben LPG-Klee. Wer hat recht?

Auf der letzten Gemeindeversammlung gab es böse Worte. Papa hat den Bürgermeister beschimpft und die Triebschen eine „verdammte alte Hexe“ genannt. Und sie hat ihm Rache geschworen: „Das wirst du mir büßen, Vorsitzender!“

So jedenfalls erzählt man’s im Dorf, so hat es Achim hinter seinem Rücken in der Schule tuscheln hören.

„Das bisschen Klee“, sagt er zu Papa.

„Und unsere Rinder?“, fragt der bissig. „Ich würde ja nichts sagen, wenn Sommer wär. Wenn wir genug Futter hätten. Die Kälber …“

„Am Kälberstall steht: ‚Betreten verboten’, Papa. Aber den Esel kann man streicheln.“

„Streicheln? Bist wirklich ein Experte.“

Mit einiger Mühe zerrt Papa den Esel von der Straße, zurück auf Triebschs Wiese. Dabei knurrt er diese Melodie, die ihm neuerdings immer dann einfällt, wenn er innerlich kocht: „Das ist, schrummschrumm, die Liebe der Matrosen …“ Beim Singen läuft Papas Gesicht rot an, es ist ein ungesundes, böses Rot.

Triebschs Wiese gleicht tatsächlich einer Schutthalde. Bettenteile, eine zahnlose Egge, Motorradreifen, ein rostiger Kultivator; der Wind bewegt die Stoffbezüge eingebeulter Lampenschirme. Immerhin, bei gutem Willen sieht man auch Grün sprießen …

Am Strick bugsiert Papa den Esel bis hinauf zu Triebschs mickrigem Gehöft. Stiefelt durchs Tor. Achim gibt auf die Räder acht. Von Weitem vernimmt er Weibergezeter, Papas Stimme, die sich manchmal überschlägt, und Legohrs lang gezogenes A-hi-i-i-i, laut wie eine Bushupe.“

Lang, lang ist es nun her. Erstmals 1964 brachte der Mitteldeutsche Verlag Halle (Saale) den schnell berühmten, seinerzeit viel gelobten und viel getadelten Roman „Spur der Steine“ von Erik Neutsch heraus: Geld, Frauen und das Gefühl, ein Herrscher zu sein auf dem Bau: Das vor allem gehört zum Bild vom angenehmen Leben für den unruhig von Baustelle zu Baustelle streunenden Glückssucher Hannes Balla. Er rebelliert, trumpft auf, wehrt sich: gegen die Anweisungen der Bauleitung, die Forderungen der Partei, gegen sein Gefühl für Katrin Klee, die junge Diplomingenieurin, gegen Horrath, den neuen Parteisekretär von Schkona. Und doch beginnt er zugleich an der Gültigkeit der lange gehegten Glücksideale zu zweifeln. Mehr und mehr ist er vor allem von Horrath und der Konsequenz seiner Haltung beeindruckt, von Horrath, der für ihn dem Bezirkssekretär gegenüber eintritt und sich nicht scheut, für das einmal als richtig Erkannte sogar eine Parteistrafe auf sich zu nehmen. So sind Ballas Rebellionen, ja sogar sein Schkonaer Streik nur Stationen der konsequent und mit all ihren Widersprüchen gezeichneten Entwicklung eines Menschen, der zur Erkenntnis seiner selbst und seiner Position in der Republik kommt. Und doch ist das keimende Freundschaftsverhältnis zwischen Horrath und Balla bedroht: Horrath scheint ein Doppelleben zu führen. Er weiß in seine persönlichen Beziehungen keine Ordnung zu bringen. Er vermag sich weder für Katrin Klee, die von ihm ein Kind erwartet, noch für seine Frau Marianne zu entscheiden. Wie wird sich Balla verhalten, wie Horrath? Wie entscheidet die Partei, nachdem bekannt wird, dass Horrath sie bewusst irregeführt, dass er geheuchelt, kein Vertrauen zu den eigenen Genossen gehabt hat? Erik Neutschs Buch führt mitten hinein in die Diskussionen um die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der DDR, um Moral, Ökonomie, Kultur. Es stellt Fragen und zwingt den Leser zur ständigen Auseinandersetzung. Mit seinem großen Komplex von Konflikten und überzeugend gestalteten Charakteren wird es zugleich zur erregenden Widerspiegelung der Entwicklungsetappe in den 1960er Jahren. Erik Neutsch erhielt für dieses 1964 erschienene Buch den Nationalpreis für Kunst und Literatur der DDR. Frank Beyer verfilmte das Buch bei der DEFA. Der Film mit Manfred Krug und Eberhard Esche wurde zu den Arbeiterfestspielen im Juni 1966 in Potsdam uraufgeführt und begeistert aufgenommen. Auf Betreiben des Zentralkomitees der SED lief der Film allerdings nur wenige Tage, danach verschwand er im Archiv – bis Ende 1989. Und so beginnt dieses große und sprachgewaltige Kunstwerk:

„ERSTER TEIL

  1. Kapitel

Sechzehn Schornsteine stützen den Himmel über der Stadt, höher aufragend als die höchsten Türme ringsum, sechzehn Fabrikschlote, in einer Reihe, staubgrau und steil, wie sie nirgends noch einmal in Deutschland zu finden sind. Tag und Nacht wälzt sich der Qualm aus den sechzehn Essenschlünden, Tag und Nacht. Er schwärzt im Winter den Neuschnee auf den Äckern, rußt im Frühling über die weißen Blüten der Kirschbaumzeilen an den Chausseen, trübt sogar im Herbst noch die novemberdunklen Flüsse und umflort im Sommer die heiße gelbe Sonne.

Wenn der Wind von Westen herüberweht, was nicht selten geschieht, dann drückt er den Rauch der Fabriken in die Straßen der Stadt, dann bringt er oft Regen mit, einen schmutzigen, klebrigen Regen, der den Ruß aufgesaugt hat und ihn auf das Pflaster, die Dächer, auf die Felder und die Baumkronen legt. Die Sonne brennt danach die Pfützen aus, die der Regen wie Blei in die Dellen schmolz, auf der Erde verdampft die Nässe; und der Ruß, der Schmutz bleiben. Alle Häuser tragen einen dunkelgrauen Putz, die Farben sind abgeätzt, die einstmals roten Dachziegel sind schwarz, die Fensterscheiben immer undurchsichtig wie Milchglas. Auch die Flüsse sind modrig, mit den Abwässern der Werke vollgepumpt, und die Weiße Elster ist nicht mehr weiß, sie ist von sumpfigen Teichen umufert, Überresten der Schneeschmelze, in denen sich die Zweige abgestorbener Bäume sperren.

Vom schornsteinzerspießten Himmel prallt die Sonne im Juli unerbittlich auf das Städtchen Schkona hernieder. Sie wird von einem braunen gleitenden Schleier verdeckt, aus dem sie nur milchig-matt hervorblinkt, aber ihre Strahlen wirken ungemindert. Die Blätter der Bäume sind stumpf, die Kirschen röten sich hektisch, die graugrünen Äpfel und Birnen sind unreif und holzhart. Die Steine glühen, an den Häuserwänden kleben die Fliegen, schwirren nur träge auf, wenn ein Schatten in ihre Facettenaugen dringt und sie scheucht. Der schwarze, zu Pulver gebrannte Staub auf den Straßen flattert in langen Fahnen hinter den Autos her, sickert in die Schuhe der Fußgänger, in jede Ritze der Kleidung, knirscht zwischen den Zähnen. Über allem zieht der Qualm, und die Luft ist geschwängert vom fauligen Geruch der Schwefelgase.

An einem solchen Tage heulten die Sirenen. Sie heulten zu einer ungewöhnlichen Stunde, kurz nach dem Mittag schon. Das Werk dröhnte, die Scheiben aller Hallenfenster zitterten, an den Mauern zerplatzte der vielstimmige Schall. Nirgends gab es einen Winkel, der im Lärmschatten blieb, dem Echo verborgen, dem langgezogenen Schrei, der auf und nieder wellte. Denn von allen Dächern heulten die Sirenen gleichzeitig, gellten auf mit einem plötzlichen Mal, sekundengenau: dreizehn Uhr und vierundzwanzig Minuten. Sonst immer, wenn die Sirenen zum Schichtwechsel riefen, setzten sie nacheinander ein. Von irgendwoher, von einer der fernen Fabriken, erklang dann ein dünnes Zirpen, die Sirenen in der Nähe kündigten sich mit einem Surren an, ehe sie losbrüllten. Immer ähnelte es einem Orchester, das sich allmählich erst einstimmte. Diesmal jedoch war es ein heftiger Schlag, ausgelöst von einem einzigen Befehl, von einem einzigen Druck auf den Knopf: Um dreizehn Uhr und vierundzwanzig Minuten erreichte der Ministerpräsident das Werk, schob sich der Troß der schwarzlackierten, staubüberpuderten Wagen durchs Tor.

Unter den Tausenden, die sich auf den unübersichtlichen, von den Hallen eingezwängten und mit Rohrleitungen überspannten Straßen der Schkonawerke entlangschoben und von den Sirenen zur Eile getrieben wurden, befanden sich auch die Ballas, acht Zimmerleute von den Baustellen, benannt nach ihrem Brigadier. Sie waren in den Strudel der Männer und der Frauen mit den Filzjacken, den öligen Schlosserkombinationen und den Laborkitteln geraten; ihre schwarzen breitkrempigen Hüte, die äußeren Zeichen ihrer Zunft, schwammen über der Menge wie die Blätter von Seerosen auf einem Teich. Von dem buntbeflaggten Gebäude der Kreisleitung herab stieß, nachdem die Stille urplötzlich wie der Lärm hereingebrochen war, eine Bläsergruppe in Blauhemden Fanfarensignale. Trommeln wirbelten, ihr Klang vermischte sich mit dem Getrappel der Füße auf dem Pflaster. Aus allen Hallentoren krochen die Menschen, schwitzten und schluckten hustend den Staub, der bis hoch zu den Fabrikgiebeln aufwallte, winkten und riefen sich Grüße zu, wenn sie einander entdeckten.

Manchmal formierten sich Kolonnen, versuchten im Gleichschritt zu marschieren. Die Drei-Mann-Glieder ruckten jedoch unablässig zusammen und zogen sich, Harmonikabälgen ähnlich, wieder auseinander, weil die vorderen Reihen oft genug gezwungen waren, auf der Stelle zu treten, da kein Durchkommen war, je mehr sich die Menschen dem Platz der Kundgebung näherten. Rote, blaue und schwarz-rot-gelbe Fahnentücher ragten über den Köpfen auf, hingen schlaff an den Stangen herunter, die Luft bewegte sich kaum, sie flirrte nur vor Hitze. Immer wieder wandelten breite, farbige Spruchbänder oder Pappschilder die eine Losung ab: Wir fordern von Genf einen Friedensvertrag für Deutschland… Die Gedanken, die in diesen Tagen die Welt bewegten, waren zum Transparent geworden. Über sie würde auch der Ministerpräsident sprechen.

Wer sich dem Strom der vielleicht zwanzigtausend Menschen entgegenstemmte, hatte es schwer. Die Ballas hatten sich fest an den Händen gepackt und eine Schlange gebildet, die nun, je mehr sich das Gewühl verdichtete, immer heftiger bedrängt wurde. Voran ging der Brigadier, breitschultrig, einen Meter und achtzig groß; er ruderte mit dem freien Arm in jede Lücke hinein, die sich ihm bot, verteilte Püffe, wenn ihm jemand den Weg versperrte, erntete Flüche und Schmähreden. Er arbeitete verbissen, schob das Knie vor, drückte sich mit der Schulter gegen die Wand der Menschen, als gelte es, einen Balken zu heben, und zerkeilte sie. Doch die Anstrengung war umsonst, die Schlange zerriß, ein Brigademitglied nach dem anderen wurde abgetrieben. Jochmann klammerte sich verzweifelt an Ballas Jacke; der Brigadier spürte, wie sich der Zimmermann gegen den Druck wehrte, der auch ihn abzusprengen drohte; die Nähte des Manchesters krachten. Hinter Jochmann waren noch Kleimert und der kleine Nick. Seitab im Gedränge zappelte der Hut Franz Büchners, der Alte schwang sich von Zeit zu Zeit auf die Schuhspitzen, reckte den runzligen Hals, wedelte mit den Armen, damit ihn Balla nicht aus den Augen verlöre, und rief: „Wir treffen uns am Tor, Hannes, wenn alles schiefgeht…“

Sechs Stunden hatten die Zimmerer in der sengenden Hitze geschuftet, hatten vom blanken Morgen an Beton gestampft. Nach der Mittagspause waren dann auch die Bauarbeiter von den Gerüsten geklettert und hatten sich der Menschenflut angeschlossen, die aus den Chemiehallen quoll. Einer aus der Brigade hatte gesagt: „Kundgebung in dieser Glut, Balla, da kriegst du ’nen Knall. Ich wüßte ein schattiges Fleckchen und ein Mittel, das hilft.“

Unmißverständlich hatte er mit Daumen und Zeigefinger an den Hals geschnippt. Nur Jochmann – der noch immer an der Jacke seines Brigadiers hing und sich fast von ihm fortschleifen ließ – hatte die Lippen geöffnet und widersprechen wollen. Balla hatte ihm mit einem gewalttätigen Blick die Zunge gelähmt, hatte genickt und gedacht: Was soll’s… Gegen die Bomben kommt keiner mehr an. Wenn sie diesmal fallen, dann von allen Seiten. Verschont bleiben nur die da oben vielleicht, wenn ihre Bunker tief genug sind. Ob nun auf die Straße gegangen oder nicht, gestorben wird doch. Genieße das Leben bis zum letzten Blutstropfen… Jochmann hatte geschwiegen, hatte keine Antwort gewagt. Balla beherrschte die Brigade, und wer sich ihm nicht auslieferte, der konnte gewiß sein, daß er von ihm den Laufpaß erhielt. Jochmann hatte sich gefügt, das Kommando galt, wie in der Armee, so auch hier. Aber die Baustelle der Zimmerer lag im Südwesten, und sie wollten nach dem Osten, nach Schkona. Sie mußten das Werk durchqueren und sich durch den Strom der Menschen wühlen, Schritt für Schritt, Fußbreit um Fußbreit, und diese Anstrengung brannte ihre Kehlen noch mehr aus.

Die Menge raunte, stampfte, sang und stank. Der Schweißdunst der Leiber mischte sich mit dem durchdringenden Geruch der Gase, die dem Werk entströmten. Balla war jeder Atemzug lästig. Der Staub, den die vielen Füße aufwirbelten, verklebte ihm Augen und Nasenlöcher. Das alles ekelte ihn an, ungestüm warf er sich gegen die Brandung, so daß Jochmann sich mit einem Zerren in Erinnerung brachte. Er hat Angst, dachte Balla, Angst, daß ihn seine Genossen entdecken, und darum läßt er sich nicht von mir abschütteln… Dicht neben sich hörte er jemanden sprechen: „Gespannt bin ich, was wohl Otto dazu sagen wird… Unser Außenminister, zum ersten Mal nimmt er an einer Konferenz der Großen teil…“

Balla sah sich nach der heiseren, ihm vertrauten Stimme um. Im Taumel der vorübereilenden Gesichter erkannte er den Maurer Prokoff. Der hatte seine Drillichjacke ausgezogen, sein schmuddliges Hemd straffte sich über den gebräunten, feuchtglänzenden Muskeln. Als Prokoff den Brigadier der Zimmerer gewahrte, maulte er: „Und du? Machst wieder den Drückeberger, was?“ Balla reckte drohend die Faust, wollte mit ein paar saftigen Worten entgegnen, grinste aber nur verächtlich und behielt seine Gedanken für sich: Prahlhans, nimmt den Mund nur so voll, weil er hingehen muß und seine Partei ihn am Gängelband hat, armer Kerl… Ihre Körper rieben sich aneinander, das Gewog der Menge klemmte sie ein. Balla stand nur noch auf einem Bein und schwankte. Jochmann preßte ihm die harten Knöchel seiner Hände in den Rücken und schob ihn mit aller Kraft weiter. Er senkte den Kopf, versteckte sich vor dem Maurer, verschanzte sich hinter den breiten Schultern seines Brigadiers vor dem Beschuß der Blicke. Balla bedeutete ihm mehr als der Ministerpräsident, Balla war jeder Tag, war das tägliche Brot, denn ohne ihn und seinen Bleistift wäre mehr Luft in den Lohntüten als Geld. Der Brigadier mochte ahnen, was Jochmann dachte, er drehte sich um, blinzelte und lachte übermütig. Büchners tanzender Hut war verschwunden. Balla entsann sich, daß er auf den Alten am Tor warten sollte.

Eine Reihe singender Mädchen, die sich fest untergehakt hatten, stellte sich den Zimmerern quer in den Weg. Balla bemerkte sie zu spät; die Mädchen juchzten, als er ihnen in die Arme lief, wankten hin und her und ließen sich nicht trennen. Dicht vor sich sah Balla den Stoff dünner Blusen, der unter den Achselhöhlen durchfeuchtet war, das leichte Zittern zweier fester Brüste. Er hatte Lust, sie mit seinen Händen zu umschließen, er hätte sich nicht einmal in diesem Getümmel davor gescheut. Aber unnachgiebig stieß ihm Jochmann die Faust ins Kreuz, drängte ihn vorwärts, bis die Kette der Mädchen zerriß. Wiederum wandte Balla den Kopf, schaute der gesprengten Gruppe nach und rannte erneut gegen ein Hindernis. Seine Füße verfingen sich, er stolperte, aber es war unmöglich, in diesem Gedränge zu stürzen, die Leiber hielten ihn auf. Er erhaschte mit seinen Blicken nur noch ein paar geschwungene Nackenbögen, blonde und braune Haare, die bald von grauen

Filzjacken und ölverschmierten Schlosseranzügen verdeckt wurden.

Endlich schwächte der Anprall ab, das Gewühl lichtete sich. Die Ballas erreichten das Tor, der Brigadier klopfte den Staub von der Hose und zählte die Knöpfe nach, ob sie ihm nicht abgerissen worden waren. Er wartete auf Büchner und die übrigen Mitglieder der Brigade.

Die Kundgebung hatte begonnen, aus den Tonsäulen, die die Werkstraßen säumten, erklang eine dunkle und ruhige Stimme: „… Solange verhandelt wird, wird nicht geschossen, und darum ist jede Verhandlung ein Sieg der Friedenskräfte über die Kräfte des Krieges. Unsere Aufgabe besteht darin, den Willen der Verständigung weiter zu stärken. Denn Verständigung ist Friede, und Friede ist die Grundlage für unsere Arbeit, ist die Grundlage zum Aufbau eines neuen Wohlstands, eines neuen glücklichen Lebens. In Genf müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß mit dem deutschen Volk endlich ein Friedensvertrag abgeschlossen werden kann…“

Jochmann schien zu lauschen. Balla wunderte sich, für ihn waren die Worte hohles Getön. Franz Büchner kam mit Elbers und Bolbig, er hatte Galonski verloren, er sagte: „Ich habe gesehen, wie er sich mit jemandem geprügelt hat…“

Als Galonski schließlich erschien, fehlte ihm ein Ärmel an der Jacke. Im selben Augenblick scholl es aus dem Lautsprecher: „Ich sage euch, es wird der Tag kommen, an dem auch mit der Bonner Kriegspolitik endlich Schluß sein wird, wenn die Arbeiter sich zu einheitlichen Aktionen zusammenschließen und den ganzen Spuk, der das Leben der Nation gefährdet, hinwegfegen…“

Beifall rauschte auf, Hochrufe ertönten. Balla dachte: Es ist immer dasselbe. Wenn, wenn… Sie vertrösten einen auf die Zukunft wie die Schwarzkittel aufs Jenseits. Niemand kann’s nachprüfen, man erlebt weder das eine noch das andere…

Sie gingen. Aus den Tonsäulen verfolgte sie die Stimme: „Von unserer Republik geht der Friede für Deutschland aus. Wir bauen bereits die Straße, die in eine lichte Zukunft führt und die früher oder später die gesamte Nation beschreiten wird. Jeder muß Aufbauhelfer sein, mit seiner Arbeit, an seinem Platz. Die Verantwortung, die wir tragen, ist von wahrhaft geschichtlicher Größe. Sie zu erkennen und in ihrem Sinne zu wirken, daran beweist sich eine starke Persönlichkeit, beweist sich, ob der Mensch seine Freiheit errungen hat…“

Balla sagte: „Gibt es denn keinen, der uns davon befreit?“ Er nickte in die Richtung des Werkes, wo die Lautsprecher dröhnten.

Seine Frage blieb unbeantwortet, sie tauchte ein in das träge Geschlurf der Schritte.“

Und haben Sie sich schon entscheiden können, welche Titel Sie für sich selber haben wollen? Und welche Sie verschenken werden? Und wissen Sie schon so ein bisschen, was Sie sich für das neue Jahr, das langsam schon etwas kräftiger anklopft, vornehmen wollen? Sicher gehört doch auch wieder der Wunsch dazu, mehr zu lesen, oder? Viel Spaß dabei, eine gute Zeit mit Balla und seinen Leuten, mit Andy und mit Inge Herold und mit manch anderen Figuren aus den heute vorgestellten Deals der Woche und bis demnächst. Vielleicht treffen wir uns ja in dieser kleinen, aber feinen Buchhandlung …

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