Der vierte und zugleich letzte Vorweihnachts-Newsletters, der am Tage der Wintersonnenwende erscheint, lässt sich ausdrücklich Zeit und bietet relativ lange Auszüge aus den aktuell angebotenen Büchern. So lässt sich zum Beispiel die Weihnachtsgeschichte der etwas anderen Art „Stille Nacht“ von Lutz Dettmann aus seinem Sammelband „Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann?“ eigentlich nur komplett verstehen. Dieses Buch ist zugleich der sechste der insgesamt sechs Deals der Woche, die im E-Book-Shop www.edition-digital.de jeweils eine Woche lang (Freitag, 21.12.18 – Freitag, 28.12.18) zum Sonderpreis zu haben sind.

Auf ungewöhnliche Weise warb Joachim Nowotny schon vor knapp 30 Jahren in „Adebar und Kunigunde“ für Umweltschutz und ein besseres Verhältnis zwischen Menschen und Tieren. Und seine Anmerkungen sind noch immer höchst aktuell.

In seinen „Bitterfelder Geschichten“ erlaubt Erik Neutsch tiefe Einblicke in die frühe DDR – ein Journalist recherchiert in der Produktion.

Mit dem Leben und Schaffen des berühmten Malers Adrian Ludwig Richter (1803 bis 1884) macht Ingrid Möller in ihrem Roman „Der Traum vom Glück ohne Ende“ vertraut.

Außerdem sind zwei Titel von Martin Meißner im Newsletter zu haben, die in der DDR von 1976 und1977 spielen – „Die Schlacht auf dem Kapaunsee“ und „Die Feuerfontäne“. Gutes Anschauungsmaterial. Und literarisch betrachtet spannende Dialoggestaltung. Und damit zurück zum ersten Deal dieser Woche:

Erstmals 1990 erschien im Kinderbuchverlag Berlin ein neues Buch von Joachim Nowotny für Kinder ab 10 Jahre, die sich für den Schutz der Tiere und ihrer Umwelt interessieren, mit dem neugierig machenden Titel „Adebar und Kunigunde. Eine Erzählung für neun Abende mit einer Nachricht, die den ersten ermöglicht, und einer Hoffnung, die über den zehnten hinausreicht“, das auch knapp30 Jahre später immer noch hockaktuell ist: Seit jeher soll es Menschen geben, die mit Tieren reden. Kunigunde, zum Beispiel, weiß nicht nur rätselvolle Sprüche, sie kann sich auch mit Mijnheer Adebar verständigen. Der Storch hat nämlich Sorgen. Er muss ein neues Nest bauen. Wohin aber? Doch nicht etwa auf den Leitungsmast! Da gibt es Konflikte mit den Menschen. Wir haben es jedoch nicht mit einer herkömmlichen Tiergeschichte zu tun. Neun Abende gibt es Nachrichten über Stürme und sanften Frühlingswind, über Alarm und Kurzschluss, über Feiern und Entscheidungen – und schließlich auch Auskunft über einige Hoffnungen für unsere Zeit. Und so geht es los:

„Zuerst: Von Menschen und Tieren

Weil es leicht vergessen wird, soll es hier noch einmal gesagt sein: Immer wieder gibt es Menschen, die mit Tieren, die sonst keineswegs in ihrer Nähe leben, einen ungewöhnlich vertrauten Umgang pflegen. So hörte man erst kürzlich von einem sibirischen Bahnwärter, der in den dienstfreien Stunden für sein Leben gern Schach spielt, und zwar mit einem Bären aus der Taiga. Die Nachricht von dem Mädchen aus Sumatra, das den wilden Orang-Utans zeigt, wie man Klimmzüge und Überschläge nach der Regel turnt, ist auch noch nicht alt. In Australien sind es ausgerechnet die älteren Frauen, die sich in einigen Gegenden des Kontinents mit den Kängurus im Weitsprung messen, obwohl freilich immer die letzteren gewinnen. In der Nähe gewisser Häfen des Mittelmeeres finden an Abenden, in denen der Vollmond scheint, Pfeifkonzerte statt, die gemeinsam und abwechselnd von den Matrosen der Küstenschiffe sowie von den dort heimischen Delfinen bestritten werden. Im hohen Norden lieben es manche Kinder, vom Unterricht wegzugehen, um sich dem Wanderzug der Elche anzuschließen. Und in der Nähe des Südpols erschien jüngst eine Frau auf dem Standesamt, die einen Pinguin zu heiraten wünschte. Das Tier trug bereits den dafür erforderlichen Frack.

Besonders verbreitet ist der vertraute Umgang zwischen Mensch und Tier in Afrika. In den weiten Savannen verraten die jungen Frauen den Antilopen mithilfe spezieller Triller, wo sich der Löwe aufhält. Und die Jäger unter den Männern lassen sofort die Flinten sinken, wenn ihnen der im Dienste des Wildschutzes stehende Schakal begegnet. Ausgerechnet die kleinsten Menschen dieses Erdteils führen mit Vorliebe lange Dispute mit den Giraffen, wobei meist die zunehmende Heiserkeit den Streit beendet, denn selbst wenn sich die einen hinknien und die anderen auf die Zehenspitzen stellen, bleibt die Entfernung von Mund zu Ohr so groß, dass man sich nur schreiend verständigen kann.

Und nun: Von einem Menschen und einem Tier

Am Rande eines Flusstals weit unterhalb des Äquators lebt ein alter Mann, der sich am liebsten mit den Vögeln unterhält. Sie hält er für weit gereiste Geschöpfe, umso mehr, als er selbst das Tal kaum verlassen hat. Seine Frau ist seit Langem tot, seine Söhne und Töchter sind in die Stadt gezogen. Am Tage arbeitet er vor seiner Hütte unter einem großen Affenbrotbaum als Mattenflechter. Am Abend aber drückt ihn die Einsamkeit. Da nennt er den Baum Bruder Baobab und versucht, ihn in eine Unterhaltung zu ziehen. Doch der zottige Riese antwortet nicht.

Der Alte geht hinunter zum Fluss und hofft dort auf ein kurzweiliges Gespräch. Trifft er freilich auf einen Vogel aus der Familie der grauen Schuhschnäbel, dann wartet er vergebens. Der stelzbeinige Griesgram starrt unbeweglich in den Schlamm und schweigt beharrlich vor sich hin. Anders die Flamingos. Sie schwatzen unentwegt. Doch sie meinen nur sich selbst und machen damit ihrem eleganten Auftreten keineswegs Ehre. Deshalb geht ihnen der Alte aus dem Wege und sucht nach anderer Gesellschaft. Kürzlich hatte er mehr Glück. Es war in jenem Monat, in dem südlich vom Äquator die Regenzeit zu Ende geht und der kurze Frühling beginnt …

Der erste Abend und eine aussichtsreiche Bekanntschaft

Endlich konnte der Mattenflechter wieder einmal trockenen Fußes das flache Ufer erreichen und Ausschau halten. Im Flachwasser stakte ein Vogel auf langen roten Beinen. Auch sein spitzer Schnabel war rot, während das Federkleid schwarz und weiß abgesetzt erschien. Offenbar hatte er sich eben gesättigt; nun zupfte er kurz das Brustgefieder und sah dem Alten gelassen entgegen. Der setzte sich in respektvoller Entfernung auf seine Hacken. Da man sich erzählte, dass Störche zwar über einigen Humor verfügen, andererseits aber sehr auf die Einhaltung gewisser Umgangsformen achten, benötigte der Alte ein paar tiefe Atemzüge, ehe er endlich das Gespräch begann: „Seid gegrüßt, Verehrtester“, sagte er, „ist das nicht ein schöner Abend?“

„Das will ich meinen“, antwortete der Storch, „doch mit wem habe ich die Ehre?“

„Ich heiße Gulamo“, erwiderte der Alte, „und meine Hütte steht oberhalb des Flusses unter einem alten Baobab.“

„Dann habe ich sie wohl überflogen, ehe ich hier niederging“, sagte der Storch. „Aber erlaubt mir, dass ich mich meinerseits vorstelle: Ich gehöre zur Familie der europäischen Weißstörche, man nennt mich auch Adebar.“

„Ade … wie?“

„Nun“, sagte der Storch, „das war zu erwarten. Nicht nur Euch macht dieser Name Schwierigkeiten. Die Vögel benötigen ja dergleichen nicht, wir Störche erkennen uns am Klappern. Aber die Menschen, in deren Nähe wir leben, wollen nun einmal alles benennen. Nur was sie benannt haben, lässt sie ruhig schlafen. Deshalb will ich es gern noch einmal wiederholen: Dort, wo meine Brutheimat liegt, nennt man unsereins gern Adebar. Es spricht sich ganz leicht, wenn man es einmal fehlerlos gesagt hat.“

„Ade …“, versuchte Gulamo.

„A – de – bar!“

„Badear?“

„So ähnlich. Noch einmal!“

„Aderab?“

„Schon besser!“

„Adebar.“

„Na also“, lobte der Storch, „jetzt habt Ihr’s. Wie ich schon sagte: Es ist ganz leicht, wenn man’s kann.“

Gulamo war anderer Meinung. Er stützte den Kopf mit den Händen und fand, dass das Mattenflechten auf jeden Fall leichter war als das Einüben fremder Wörter. Doch das behielt er vorerst für sich. Er wollte dem Gespräch eine andere Wendung geben.

„Demnach gehört Ihr zu den weit gereisten Herrschaften“, begann er. „Und da ich Euch hier noch nie gesehen habe, seid Ihr wohl erst vor Kurzem in Eurem Winterquartier angekommen. Wollt Ihr mir nicht erzählen, was Ihr unterwegs erlebt habt?“

„Nun«, antwortete der Storch, „das wäre ebenso leicht getan: Anfang September haben wir uns wie üblich auf der Wiese vor dem See versammelt. Dann sind wir losgeflogen, zunächst übers flache Land, dann über einige Gebirge und Meerengen. Zuletzt folgten wir den Windungen eines großen Flusses hinunter nach dem Süden. Als wir in diese Gegend kamen, zerstreuten wir uns, denn gesellig leben wir gewöhnlich nur auf dem Zug.“

„Das hieße: Ihr wollt fürs erste bleiben?“

„Wenn es das Nahrungsangebot erlaubt, bis zum nächsten Jahr. Dann beginnt in unserer Brutheimat der Frühling, und wir ziehen zurück.“

„Wohin? Wenn ich fragen darf?“

„Nach Europa.“

Gulamo kratzte sich den Kopf. Schon wieder ein schweres Wort. Aber musste er es lernen? Genügte ihm nicht schon sein geheimnisvoller Klang? „Es ist wohl ziemlich groß, dieses Eu …?“, fragte er weiter.

„Nicht unbedingt“, antwortete der Storch. „Doch genau weiß ich es kaum zu sagen. Ich komme immer nur ungefähr bis zu seiner Mitte. Genauer gesagt: Etwas oberhalb davon. Dort gefällt es mir am besten.“

Gulamo zog eine Schulter hoch. Was sollte das nun wieder heißen! Die Mitte war die Mitte. Wenn er sie beim Mattenflechten etwas oberhalb davon suchen würde, was ergäbe das für Muster? „Es ist wohl ein seltsames Land, dieses Eu …?“, fragte er.

Der Storch beugte den Kopf nach hinten, legte den Schnabel auf den Rücken, zeigte einen gebogenen Hals und sagte aus dieser unbequemen Lage heraus: „Seltsam? Das mögen andere entscheiden. Doch aufregend ist es schon.“

Da sprang Gulamo auf und lief dem Vogel entgegen. Der schlug mit den Flügeln und nahm Anlauf.

„Nicht doch, Verehrtester!“, rief Gulamo, „ich wollte Euch nicht zu nahe kommen! Aber ich höre nun mal für mein Leben gern aufregende Geschichten.“

Doch der Storch war schon in der Luft. „Kommt morgen Abend wieder zum Fluss. Dann will ich Euch mehr erzählen«, rief er von oben herab.“

Erstmals bereits 1961 veröffentlichte Erik Neutsch im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) seine „Bitterfelder Geschichten: Eine Reihe von Geschichten um das Chemiekombinat Bitterfeld hat Erik Neutsch in diesem Buch zusammengetragen und später alle in „Heldenberichte“ noch einmal veröffentlich. Es geht um einen Arbeiter, der einen Fernseher hat, aber keine Antenne zu kaufen bekommt, und so zum Dieb wird. Ein junger Arbeiter heiratet eine Frau mit Kind, was damals durchaus nicht normal war. Es geht um das Verhältnis der erfahrenen Praktiker zu den Theoretikern von der Hochschule, um blinden Ehrgeiz, Ehrlichkeit, um die Unterstützung der Arbeiterklasse bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, … Neutsch stellt in seinen „Bitterfelder Geschichten“ sein großes Erzähltalent unter Beweis. Außerdem dürfte es für alle diejenigen, die sich für das Berufsleben in der DDR interessieren, eine unerschöpfliche Quelle sein. Wir begegnen dem Erzähler nach einem Umzug von einem Einzel-Zimmerchen mit einer sprechenden Pritsche in eine kollektivere Unterkunft mit drei Arbeitern.

„Die Straße

Ich hatte mir in einem Gästehaus der Stadt ein Zimmer besorgen lassen, ein Zimmerchen, eine enge Mansarde, weiß getüncht, die herausragenden Balken des Dachstuhls als Borde eingerichtet, mit einem butzenhaften Fenster, durch das ich auf weiter nichts als auf den mit intimer Wäsche behängten Balkon eines Nachbarhauses blicken durfte, und mit einem bei leisester Berührung knarrenden Stahlrohrbett.

Nachdem ich dieser ständig lamentierenden Pritsche drei Nächte lang meine Hochachtung gezollt hatte, bin ich kurzerhand ausgezogen. Was sollte ich hier… Mich lockte doch nicht die Einsamkeit, mich lockte das pralle, das bunte Leben. Und so quartierte ich mich in einer der Baracken ein, die die Werkleitung für alle diejenigen hatte errichten lassen, die nicht in der Nähe des Kombinats zu Hause sind. Ab heute schlafe ich in einem Raum mit vier Betten, gemeinsam mit drei Arbeitern.

Mit Sack und Pack betrat ich das neue Schlafgemach. An den Händen hingen mir die schweren Koffer, angefüllt mit der Wäsche und der Kleidung für vier Wochen, darin auch ein halbes Dutzend Bücher und Manuskriptpapier. Unter die Arme geklemmt trug ich drei Wolldecken und die dazugehörigen Bezüge, die ich in der Ausgabe des Wohnlagers erhalten hatte. Die Arbeiter blickten kaum auf, als ich in dem Rahmen der Tür stand, sie taten jedenfalls so, musterten mich aber, den Neuling, aus den Augenwinkeln vom Kopf bis zu den Füßen. Das heißt, der eine von ihnen befand sich während meines Einzugs gerade auf Spätschicht, er betrachtete mich erst nachträglich, um so aufmerksamer freilich, denn er glaubte, ich schliefe, als er kurz vor Mitternacht heimkam. Die beiden anderen also belauerten mich geduldig, genossen das Vorrecht der Alteingesessenen, stumm bleiben zu dürfen: Sie hatten schon mehr als nur mich kommen und gehen sehen. Ich war ja derjenige, der zuzog; folglich mußte ich als erster das Wort ergreifen, mich vorstellen, sagen, daß ich in ihre Gemeinschaft aufgenommen werden wollte.

Nun gut! Wenn euch durchaus an eurem Privileg gelegen ist, ich will es euch nicht streitig machen. Ich grüßte und nannte meinen Namen. Ich sagte, daß mich die Partei hierhergeschickt habe, damit ich für einen Monat in einer Fabrik körperlich arbeite, von den Menschen lerne und ihnen helfe.

Der eine der beiden hockte am Tisch, er schnitt mit einem schartigen Dolch Scheiben von einem halben Laib Brot, schmierte die Butter fingerdick, biß ab und befreite eine Bratwurst von ihrer zähen Pelle. Er kaute mit vollen Backen, klopfte mit dem Horngriff des Messers auf die Holzplatte und knurrte etwas vor sich hin. Mit seinen harten, stahlblauen Augen sah er mich entschuldigend an: Du siehst doch, ich hab einen vollen Mund. Der andere lag in einem Trainingsanzug auf seinem Bett, stützte sein schmales, doch rundes Kinn auf den Handteller und las in einem Buch, Jorge Amado, wie ich erkannte. Auch er erwiderte meinen Gruß, schaute aber erst gar nicht von seiner Lektüre auf, was andererseits bedeutete: Verzeih, ich bin gerade an einer spannenden Stelle. Ärgerlich packte ich meine Koffer aus, schichtete die Sachen säuberlich im Spind übereinander und begann, mein Bett zu bauen. „Ihr seid aber gar nicht lustig“, erklärte ich, sprach’s mehr für mich, gegen die Wand.

Da knarrte in meinem Rücken eine Matratze. Ich fühlte einen dumpfen Schlag gegen meinen Nacken. Ich drehte mich um, die Leseratte hatte mit dem Kopfkissen nach mir geworfen. Wenigstens ein Lebenszeichen meiner stummen Brüder, dachte ich. Ich nahm das Kissen und schmiß es zurück, mein frischbezogenes Bettzeug gleich hinterher, mit doppelter Munition sozusagen. Mein Freund am Tisch ging in volle Deckung, denn der Bursche auf dem Bett zielte schon wieder nach mir. Als die Geschosse kamen, fing ich sie auf und schleuderte sie erneut durch das Zimmer. Hin und her wogte die Kissenschlacht, bis eins der weißen Laken auf ein Glas mit Marmelade fiel und es zu Boden riß. Dort zerschellte der Behälter, die Konfitüre lief aus und besudelte das Linnen mit roten Flecken. Es war meine erst empfangene Kopfkissenhülle. Am nächsten Tag lieferte ich sie in der Verwaltung ab, beteuernd, ich hätte über Nacht plötzlich Nasenbluten gekriegt. Die Frau hatte Humor und

antwortete: In Ihrer Nase wachsen wohl Himbeeren, junger Mann …

Jedenfalls hatten wir unseren Spaß gehabt. Und wir hatten uns angefreundet. Die Leseratte lachte aus vollem Halse. Der Eßwütige lachte ebenfalls, verschluckte sich aber an den Brotkrümeln und hustete.

Und nun erfuhr ich auch, wer meine Zimmergefährten sind. Der eine, der mit dem Buch, heißt Herbert Lester. Er stammt aus dem südlichen Eichsfeld, ist vierundzwanzig Jahre alt und arbeitet jetzt im Chlorbetrieb des Kombinats als Reparaturschlosser. Er hat sich hier anheuern lassen, wie er sich seemännisch ausdrückte, da er bis vor kurzem noch bei den Seestreitkräften diente, weil ihn der hohe Lohn im Chemiepott reizt. Der andere nennt sich Achim Czillat. Nach dem Abitur trat er der Nationalen Volksarmee bei und bekleidet jetzt den Rang eines Leutnants. Er ist ein Jahr älter als Lester. Er befindet sich wie ich für einige Monate im körperlichen Einsatz im Chlor. Der dritte, der nicht anwesend war, ist Schlosser und montiert augenblicklich die neuen Elektrolysebäder. So waren wir nun alle gemeinsam Angehörige derselben Fabrik, in der Chlor produziert wird, Natronlauge und Wasserstoff und die nur ein winziger Teil in dem riesigen Chemiekombinat ist, das am Rande einer Stadt im Mitteldeutschen liegt.

Hier also habe ich begonnen, meine Geschichten aufzuschreiben, in Gesellschaft meiner Freunde. Das Fenster ist weit geöffnet, in seinen Scheiben spiegelt sich orange die sinkende Aprilsonne. Der herbe und würzige Duft umgepflügter Erde steigt herein, manchmal vermischt freilich mit dem Geruch nach Schwefel, wenn der laue Wind ihn vom Werk herübertreibt.

Vor meinen Augen schlängelt sich ein Pfad durch die grünen, sprießenden Saathalme eines Ackers. Die Barackenbewohner haben ihn ausgetreten, sie benutzen ihn, den weiten Bogen der gepflasterten Straße meidend, wenn sie abends in die Stadt einkehren, deren Häuser sich jetzt grau und schattig, als läge über ihnen schon die Dämmerung, gegen den leuchtenden Himmel abheben. Der getrampelte Feldweg steuert schnurstracks auf die Eisenbahnüberführung zu, die den Stadtkern mit dem Kombinat verbindet. Vom höchsten Punkt dieser Brücke aus erhält man eine weitläufige Aussicht auf die Fabrik und das Land ringsum. Linkerhand paffen die Schornsteine des Kraftwerkes schwarze Qualmwolken gegen das Abendrot. Ganz in der Nähe sieht man die Führerkabine des Kranes auf den Schienen über dem Salzlager des Chlorbetriebes hin und her gleiten. Rechterhand erhebt sich behäbig breit das Kulturhaus der Chemiearbeiter, ein Theaterbau mit allem Komfort.

Fern stehen am Horizont die langen Schlotzeilen und die Destillierkolonnen der benachbarten Chemiebetriebe, schwelen die Trockner der Brikettfabriken, ragen die Eisengestänge der Absetzer auf den Kippen der Braunkohlengruben. Vor allem nachts ist der Anblick von dieser Brücke aus überwältigend. Endlos scheint das Meer der Lichter, das von den tausend Signallampen an den Gleisen bis weit zu den roten fünfzackigen Sternen reicht, die in der Finsternis von allen Werken leuchten. Wie oft habe ich hier gestanden, habe mich über die Brüstung gelehnt und das Panorama pulsender Industrie, die vielleicht fünfzig-, sechzig-, was weiß ich, vielleicht achtzigtausend Menschen und mehr beschäftigt, in mich hineingesaugt. Und wie oft werde ich hier noch stehen und hinabblicken auf die bewegte Straße und mich selbst einreihen in die lange Kolonne, die in das Werk strömt.“

In zweiter, erweiterter Auflage veröffentlichte Ingrid Möller als Eigenproduktion der EDITION digital „Der Traum vom Glück ohne Ende. Aus dem Leben des Malers Adrian Ludwig Richter“ – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Adrian Ludwig Richter (1803-1884) war der Sohn eines Dresdner Kupferstechers. Als Kind schon beobachtet er die Erwachsenen um sich herum, hört ihren Gesprächen zu und grübelt dabei, wie sein eigener Lebensweg einmal aussehen mag. So mühsam plagen wie sein Vater möchte er sich nicht. Ein großer Held möchte er werden, einer der Kriegshelden, die alle Welt rühmt. Er schwärmt für Napoleon, den er in Dresden hoch zu Pferd sieht. Zum 10. Geburtstag wünscht er sich, ein Schlachtfeld mit eigenen Augen zu sehen. Der Schock ist so groß, dass er sich in die Welt der Märchen flüchtet. Später – zum Maler und Kupferstecher ausgebildet – sucht er sein Glück in der Ferne, besonders in Rom, wo er viele deutsche Kollegen trifft. Zurückgekommen in die Heimat, wächst sein Ruhm. Doch zufrieden mit sich ist er selten. Sein Lebensweg führt über Höhen und Tiefen, Irrtümer und Selbstzweifel. Falsche Einschätzungen müssen über Bord geworfen werden. Er schafft eine friedliche Gegenwelt in seinen Bildern und zahlreichen Druckgrafiken, die in Alben „Fürs Haus“ weite Verbreitung fanden und besonders die Kinder begeisterten. Seine Lebenserinnerungen verraten viel über ihn, auch wenn er sie nicht mehr zu Ende bringen konnte.

Das Richter-Buch von Ingrid Möller beginnt ziemlich heldenhaft:

„Das Heldengedicht

Stille herrscht in dem engen Raum. Nur das Kratzen auf der Kupfertafel und das Brummen einer Fliege sind zu hören. Beides in unterschiedlichen Abständen. Adrian Ludwig hört beides nicht. Mit aufgestützten Ellenbogen ist er ganz in sein Schulbuch vertieft. „Vater“, sagt er leise nach einem langen Schweigen, „die erste Strophe kann ich schon. Soll ich sie mal aufsagen?“

Karl August Richter nimmt die Mütze ab. Beim Arbeiten hat er sie immer auf, damit ihm die Haare nicht ins Gesicht fallen. Wenn er sie abnimmt, bedeutet es, dass er bereit ist, eine Pause einzulegen. Bedächtig legt er die Radiernadel aus der Hand und nickt Adrian Ludwig aufmunternd zu. „Gut. Ich höre!“

Der Junge klappt das Buch zu. Gerade und gewichtig stellt er sich vor den Vater hin. Vor Eifer ist sein Kopf ganz rot. Er gibt sich Mühe, seiner piepsigen Stimme männliche Festigkeit zu geben.

„Schlachtfeld! –––

Wo der Todesengel würgte,

Wo der Deutsche seine Kraft verbürgte,

Heil’ger Boden! dich grüßt mein Gesang!

Frankreichs stolze Adler sahst du zittern,

Sahst des Wüthrichs Eisenkraft zersplittern,

Die sich frech die halbe Welt bezwang.

Euch! Ihr Namen der gefall’nen Helden –“

Adrian Ludwig beißt sich auf die Unterlippe. Wie ging es doch bloß weiter?!

„Euch – ihr Namen der gefall’nen Hel–den –“, wiederholt er leise.

„Eben wusste ich es noch.– Das dürft Ihr mir glauben!“

Kläglich klingt seine Stimme jetzt, ganz unheldisch. Er hat sich vor seinem Vater blamiert. Schlaff und hilflos hängen ihm die Arme herab, wie gebrochene Flügel. Die Augen betteln um Nachsicht. Er ist den Tränen nahe.

Der Vater schweigt und sieht seinen Sohn nachdenklich an. „Das habt ihr wirklich auf?“ In seiner Stimme liegt Wehmut.

„Ja!“, sagt Adrian Ludwig voll Eifer. „Es ist doch ein sehr schönes Gedicht, nicht wahr! Ich versteh selbst nicht, warum ich es nicht weiter behalten habe. Unser Lehrer sagt, es hat ein Mann geschrieben, der Theodor Körner heißt und Dresdner ist wie wirrer ist ein richtiger Held, der im größten Kampfgetümmel kein bisschen Bange hat.“

Der Vater winkt den Jungen zu sich heran und sieht ihm in die klaren unschuldigen Augen. „Ach Junge“, sagt er traurig, „weißt du überhaupt, wovon du da sprichst?“

„Natürlich!“, strahlt der Kleine, „Von der großartigsten Sache der Welt – vom Krieg!“

Der Vater zuckt zusammen. „Dann erklär mir doch mal, was du über den Krieg weißt!“

Adrian Ludwig ist froh, dass der Vater ihn nicht getadelt hat und gibt sich nun alle Mühe, die Scharte wieder auszuwetzen. „Viel weiß ich vom Krieg. Es fängt damit an, dass plötzlich ein Komet am Himmel steht. Ein Stern mit einem sooo langen Schweif.“ Er umschreibt mit dem Arm einen Kreisbogen. „Nachts geschieht das natürlich, wenn es ganz dunkel ist. Und wenn die Leute den Kometen sehen, wissen sie, dass ein Krieg kommt.“

„Und weiter?“

„Dann nähen die Schneider hübsche bunte Uniformen. Die Schmiede hämmern Säbel und machen Schießeisen. Die Pferdezüchter bringen den Tieren bei, im Pulverdampf keine Angst zu haben. Alle Männer eilen zu den Waffen und warten gespannt darauf, dass der Feind kommt.“

„Und wie erkennen sie den Feind?“

„Ganz einfach: seine Uniform ist anders. Und er kann nicht richtig sprechen.“

Wie – nicht richtig sprechen?“

„Na, nicht deutsch. Er redet Kauderwelsch – sagt unser Lehrer.“

„Aha! Und dann?“

„Dann ist alles ganz einfach, wie bei den Zinnsoldaten: Es werden Schlachtenordnungen aufgestellt. Der Feldherr im langen Rock auf dem besten Pferd gibt das Kommando – und schon geht es los! Zu Fuß und zu Ross stürmen sie aufeinander los. Die Säbel rasseln. Das Pulver dampft. Die Schüsse knallen. Peng! Peng! So hauen sie die Feinde in Stücke und schreien vor Begeisterung.“

Aus dem Gesicht des Vaters ist jeder Anflug von Lächeln gewichen. Entsetzt betrachtet er seinen Sohn. „Meinst du wirklich, sie schreien nur vor Begeisterung?“

„Natürlich!“, sagt Adrian Ludwig stolz, „Warum denn sonst?!“

„Vielleicht, weil sie selbst verwundet sind und ihre Schmerzen nicht aushalten können!“

Der Junge schüttelt lachend den Kopf. „Niemals, Vater, sie sind doch Helden! Sie sind jederzeit bereit, fürs Vaterland zu sterben und der Tod auf dem Schlachtfeld ist der ehrenhafteste Tod.“ Als der Vater immer noch nicht überzeugt zu sein scheint, sagt Adrian Ludwig mit Nachdruck: „Vor lauter Begeisterung merken die überhaupt

keine Schmerzen!“

Karl August Richter seufzt. Was für ein Bild vom Leben wird den Kindern da bloß in die kleinen Köpfe gepflanzt! Adrian Ludwig ist noch nicht einmal zehn! Wie nur soll solch Unkraut wieder aus den Köpfen kommen? Nur durch die brutale Wirklichkeit? Ein schrecklicher Gedanke!

„Ob wir das alles wohl auch mal erleben, Vater? Hier in Dresden? – Vielleicht haben wir ja das Glück. Unser Lehrer sagt: Die Franzosen sind so frech, denen ist glatt zuzutrauen, dass sie überall hinkommen, also auch hierher.“

Der Vater packt Adrian Ludwig an den Schultern und schüttelt ihn. „Wach auf, Junge! Menschen sind keine Zinnsoldaten! Wünsch dir um Gottes willen nicht, das je zu erleben! Mal nicht den Teufel an die Wand!“

Adrian Ludwig stutzt. Wie kann das sein: Der Lehrer sagt es so, und der Vater ganz anders. Wie soll man sich da zurechtfinden? Er schwankt, wem er mehr glauben soll.

Das Gespräch ist beendet. Der Vater hat seine Mütze wieder aufgesetzt, greift zur Radiernadel undziseliert die Häkchen ins Kupfer, die in der Summe dann die Baumkronen in den Landschaftsbildern ausmachen. Eine mühevolle Arbeit. Tag für Tag. Solange Adrian Ludwig zurückdenken kann, saß der Vater so da.“

Erstmals 1976 brachte Martin Meißner im Kinderbuchverlag Berlin „Die Schlacht auf dem Kapaunsee“ an die Öffentlichkeit: Ab und zu braucht jeder einen Sieg. Das sagt Thomas Martelok zu seinem Freund Jochi. Jochi ist es gewohnt, in der Schule gut abzuschneiden. Die Rückgabe jeder Kontrollarbeit ist für ihn ein kleiner Sieg. Bei Thomas sieht es anders aus. Seine Stärken aber sind Körperkraft, Ausdauer und Geschicklichkeit, die er außerhalb der Schule beweisen kann. Besonders, wenn sein großer Tag gekommen ist. Wenn die Seeschlacht auf dem Kapaunsee tobt. Einmal im Jahr stehen sich die Jungen der Dörfer Siedenstave und Böddenthin gegenüber, um sich mit Trögen und Holzfässern auf dem Wasser des Kapaunsees zu bekämpfen. Sieger ist das Dorf, das die Flotte der anderen an das eigene Ufer zurückgedrängt hat. Hundert Jahre und mehr ging das schon. Mit wechselndem Erfolg. Nun aber gibt es zwischen den Bauern in den Dörfern einen handfesten Streit, an dem Thomas‘ Vater maßgeblich beteiligt ist. Was man in dieser dramatischen Lage nicht braucht, ist die Schlacht auf dem Kapaunsee. Für Thomas eine herbe Enttäuschung. Die Schlacht auf dem Kapaunsee ist ein Kinderbuch aus den frühen siebziger Jahren. Bauernhöfe sind längst zu Genossenschaften zusammengeschlossen und die Arbeit wird mehr und mehr wie in der Industrie organisiert. Dabei prallen eine hergebrachte Lebensweise und Vertrauen auf Technik und moderne Arbeitswelt aufeinander. Keines von beiden kann punkten. Gewinner sind Freundlichkeit der Leute und ihr Humor. Und jetzt stellen Sie sich einfach mal vor, es sei schon wieder Frühling:

Der erste Ritt

Fope Fope Bastian

Lat de Koh int Gras gahn

Lat se nich so wiet gahn

Lat se bald werrer kam

Hinner Genthin

Da liet ’n fett Swin

Noch ’n büschen näger

Da liet ’n fettn Jäger

Piff – paff – du bist aff

Abzählreime schallen wieder durch das Dorf. Es ist Frühling. Frühling ist auch, wenn die Pferde endlich auf die Weide können. Dann beginnt für Thomas Martelok die große Zeit. Auch für die anderen Jungen aus Siedenstave. Besonders aber für Thomas, denn sein Opa, Gumpert Martelok, versorgt die Pferde der Genossenschaft. Und so ist es kein Wunder, dass Thomas der erste Reiter ist im Dorf.

„Sei vorsichtig!“, ruft Großvater ihm nach. „Nach dem Winter, da gehen sie stramm!“

Aber Thomas ist es nur recht. Wie ein Windstoß treibt er durch das Dorf. Ohne Zaumzeug sitzt er dort oben und ohne Sattel. Er hält sich in der Mähne fest, und der Wallach fliegt dahin, als ob er keinen Reiter tragen müsste. Vorsicht, Leute, denkt Thomas, macht Platz, hier kommt ein Reiter. Ein paar Tauben stieben auf. „Macht Platz, Leute!“, ruft er den Tauben nach, als die Schar in der Luft auseinanderspritzt. Dann liegen die Gehöfte hinter ihm, zuletzt die Gebäude des neuen Rinderstalls, etwas abseits, als bildeten sie ein eigenes Dorf. Die Silos, hoch und silbern wie die Weltraumraketen auf der Startrampe. Wie sich das alles bewegt hier draußen! Die Pappeln, die vom Wind geschüttelt werden, die Wolken, die wie ausgefranste Teppiche über die Immenmöhler Forst wegsegeln, und die Traktoren am Hellepötz. Vor allem aber die Bäume und die Telegrafenmasten am Weg, die vorbeipeitschen an Reiter und Pferd. Bis am Bornbrook der Ritt zu Ende ist.

Auf dem Rückweg hat Thomas es eilig. Es wäre gut, wenn mich einer gesehen hätte, denkt er, als er über einen Koppelzaun steigt, um den Weg abzukürzen. Am besten natürlich Jochi. Es wäre gut, wenn er mich gesehen hätte. Aber Jochi Lasbeke hat ihn nicht gesehen. Er sitzt im Wohnzimmer und kaut an seinem Füllfederhalter. Vor ihm liegt der angefangene Aufsatz: „Wie topfe ich eine Zimmerblume um – Vorgangsbeschreibung“. Jochi kann alles, was mit der Schule zusammenhängt, aber solche Aufsätze sind ihm ein Gräuel. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als eine Blume umzutopfen. Und so ist er froh, als draußen der Doppelpfiff ertönt und Thomas vor dem Fenster steht.

„Du hockst wohl schon lange in der Stube?“, fragt Thomas, als sie sich auf die Teichmauer unter die Trauerweide setzen.

„An die zwei Stunden, denke ich“, sagt Jochi und macht sein zerknittertes Gesicht, das ihn wie einen vergrämten alten Mann aussehen lässt. „Das Blumenumtopfen!“

„Dann hast du wohl nicht ein einziges Mal aus dem Fenster gesehen, so die Straße hinunter? Nur für einen Augenblick.“

Thomas sieht seinen Freund fragend von der Seite an. „Nein, ich habe in einer Broschüre gelesen, die lag bei meiner Großmutter auf dem Boden. ‚Jerchelmanns Haus- und Gartenfibel. Unsere Zimmerpflanze – unsere Lebensfreude.’"

„Ich bin geritten heut. Zum ersten Mal wieder. Auf dem Wallach“, gibt Thomas stolz

bekannt.

„Du hast es gut“, sagt Jochi verzagt. „Du reitest, und ich lese in Jerchelmanns Haus- und Gartenfibel.“

Thomas ist inzwischen aufgestanden, greift ein paar Zweige der Trauerweide, die wie lange Schnüre auf die Wasseroberfläche des Teiches herabhängen, und betrachtet die sprossenden Blätter. „Am schönsten ist es auf einem Pferderücken“, sagt er auf einmal. „Da siehst du was von der Welt, und du kriegst Lust, was Ordentliches zu unternehmen. Wenn man so auf der Erde langgeht, dann ist man wie eine Ente. Zu Fuß gehen kann jede Ente. Aber reiten nicht. Dazu gehört was.“

Jochi fährt sich mit der ganzen Hand über das Gesicht, als wische er das Unbehagen über zehn Aufsätze fort. „Wenn du auf dem Pferd sitzt, dann spinnst du dir immer was zurecht. Dann denkst du, du bist Siegfried oder so ’n anderer Held. Möchtest dann ein alter Ritter sein, mit Rüstung und mit einer großen Lanze.“

„Nein, das nicht, aber was Ordentliches unternehmen. So etwas, wo die Leute sagen: Ja, der Junge von Marteloks, das ist ein großartiger Mensch. Ein Ritter möchte ich nicht sein. Aber so wie er.“

„Wie wer möchtest du sein?“, fragt Jochi erstaunt.

„Wie mein Vater möchte ich sein. Er hat als junger Bursche den Bauernstein aus dem Dorf geschleift, dass den Leuten fast die Augen aus dem Kopf gefallen sind. Wenn der eine Arbeit macht, dann sieht es aus, als ob es gar keine ist. Im Dorf gilt seine Meinung etwas. Alfred Martelok hat es auch gesagt, heißt es, und dann ist die Angelegenheit erledigt. Du musst lange die Purnitz hinabwandern, bis du an Dörfer kommst, wo sie Vater nicht kennen. Ich glaube, so einer wie mein Vater war früher ein Held.“

„Ich denke, solch eine große Rüstung hatten die gar nicht“, sagt Jochi und schaut prüfend zu Thomas, wie er diesen Scherz wohl auffasst. Er leidet es gewöhnlich nicht, dass man über seinen Vater einen Spaß macht.

„Nein, so eine Rüstung gab es nicht“, sagt Thomas, und sie lachen beide, dass der Teich beinahe Wellen schlägt.

Es ist Frühling, Abzählreime hallen aus dem Dorf, auf dem Weg zum Bornbrook jagt der erste Reiter dahin. Es ist Frühling, hoch oben in der Luft singt eine Lerche ihr tausendstrophiges Lied. Über den Acker am Witten Berg geht ein Mann. Groß und mit breiten Schultern, ein richtiger Riese. Er hat ein rotes Gesicht, und in seinen dichten Haaren zaust der Wind wie in einem Büschel Dünengras. Mit langen Schritten stürmt er vorwärts, in Stiefeln, so groß, wie man sie in keinem Laden gesehen hat. Seine Jacke steht offen, und ihre Schöße schlagen, als wären sie die Schwingen eines riesigen Vogels.

Der Mann ist Thomas‘ Vater, der Vorsitzende der Genossenschaft, Alfred Martelok. „Hier hast du bald ausgespielt“, sagt er und fährt ein paar Mal mit dem Arm durch die Luft. Es sieht aus, als weise er jemand aus dem Raum. Er meint den Wind, der vom Boden kleine Sandwolken hochstiebt, sie einen Moment auf der Stelle dreht und dann zum nahen Kieferngehölz treibt. „Hier wirst du bald nasse Füße kriegen!“, ruft er und lacht dabei. Am Weg bleibt er stehen.

Dort, wo die langen Rohre aus Asbest liegen, die vor kurzem erst abgeladen worden sind. Prüfend hebt er ein Rohr an. „Hm“, sagt er. Und nach einer ganzen Weile: „Na ja.“ Dann schaut er zu der Lerche hoch, die mit zitterndem Flattern in den Aprilhimmel steigt. In weiten Schraubenlinien zieht sie höher und höher, bis sie kaum noch zu erkennen ist. Warum mir wohl die Lerche der liebste von allen Vögeln ist, denkt er. Vielleicht wegen ihres Gesanges, wegen dieser hellen kräftigen Töne mit den tausend und aber tausend Strophen, deren Melodie bei anderen abgelauscht scheint. Vielleicht auch deshalb, weil sie der Mumme so gern hatte.

Mumme war der Großvater von Alfred Martelok. Eigentlich hieß er Mombert Luer. Aber im Dorf nannten ihn alle nur Mumme. Sogar seine Frau und später die Enkelkinder auch. Großvater oder Opa sagte niemand zu ihm. „Sieh dir die Lerche an, Junge, wie sie unendlich hochfliegt“, hatte der Mumme manches Mal gesagt, wenn er mit einem Wurzelstock rang oder einen Findling auf den Wagen gerollt hatte und Alfred mit großen Augen dabeistand.

Hier auf diesem Acker am Witten Berg war es gewesen. Ein Brachland damals noch. Holundergebüsch wuchs darauf, und von den umliegenden Feldern wurden hier die

Lesesteine aufgehäuft. Richtige Berge mit der Zeit. Mumme machte diesen Boden urbar, denn er besaß nur wenig Land und wollte aus seiner bitteren Armut heraus. Sein Herz war voller Hoffnung gewesen. Er glaubte an diesen Acker, der da unter den Steinhaufen und unter dem Holundergebüsch lag. Bei dieser Arbeit war er Alfred wie ein Riese vorgekommen, viel stärker als alle anderen Bauern im Dorf.

Eines Tages war es endlich geschafft. Kein Stein mehr und keine einzige Wurzel. Umgepflügt sah der Acker aus, als hätte er tausend Jahre nichts als reiche Frucht getragen. „Haltet dieses Land in Ehren“, hatte Mumme damals feierlich gesagt. Dabei hatte er seinen Enkel Alfred fester angesehen als seinen Schwiegersohn Gumpert Martelok, so als traue er es dem Jungen am ehesten zu. „"Es ist ein besonderes Land. Ein besonderes Land, weil ich es mit meinen eigenen Armen unter den Steinhaufen und unter dem Gestrüpp hervorgeholt habe.“ Aber es war auch jetzt kein besonderes Land. Nach der Aussaat war Mumme jeden Tag hinausgegangen. Doch das Korn blieb kniehoch, und die Kartoffeln verbrannten in der Junisonne. Jahr für Jahr. Doch immer, wenn er traurig vom Witten Berg zurückkam, sagte er: „Es ist ein besonderes Land. Ihr werdet es sehen. Eines Tages werdet ihr sagen, es ist ein besonderes Land.“ Er hatte recht. Mumme konnte es einfach nicht glauben, dass die Arbeit eines Menschen umsonst sein sollte. Mit seiner großen Hoffnung war er gestorben. Heute nun soll sich diese Hoffnung erfüllen. Alfred Martelok schaut zufrieden auf die Asbestrohre. Eines nimmt er in die Hand, als wolle er es jemandem zeigen. Wenn Mumme das noch erlebt hätte, denkt er, der hätte sich riesig gefreut.

„Das sind aber sehr schöne Rohre“, sagt auf einmal jemand hinter ihm. Es ist der Vater des Vorsitzenden, Gumpert Martelok. „Wie sie so sind“, sagt der Sohn kurz.

Gumpert Martelok steht neben seinem Rad, einem sehr alten Modell mit einem eckig nach oben gebogenen Lenker. Gesundheitslenker wird er von den Jungen genannt. Vorn ist eine unförmig dicke Lampe angebracht, mehr eine Art Scheinwerfer, der jedem Raupenschlepper zur Ehre gereicht hätte. Der Sattel besitzt sehr stabile Sprungfedern und statt des Leders ein weiches Polster. Das ganze Rad sieht eigenartig komfortabel aus. Man wird den Eindruck nicht los, es wäre eher zum Schlafen eingerichtet als zum Fahren.

„Nun wird das Land am Witten Berg wohl ein blühender Garten“, sagt der Alte und macht dabei ein genüssliches Gesicht.

„Wir werden gut ernten, wenn das Wasser darauf kommt“, antwortet der Sohn.

„Es gibt Leute im Dorf, die meinen, du willst mal wieder deine Stärke beweisen. Aber es werden teure Kartoffeln, wenn man den Regen selber macht.“ Bei den letzten Worten hebt Gumpert Martelok sein Fahrrad behutsam in die andere Richtung. Dann rollert er sich kräftig in Fahrt, schwingt das rechte Bein über den Sattel und radelt sehr gerade sitzend davon.

„Besserwisser“, knirscht Alfred Martelok und schaut, als hätte er eine unreife Pflaume verschluckt. Aber er hat keine Zeit, sich lange über den Alten zu ärgern, denn unten auf dem Purnitzweg rollt eine weitere Fuhre mit Bewässerungsrohren heran. Während der Vorsitzende den Traktoristen einweist, wo abgeladen werden soll, bleibt die Zugmaschine plötzlich stehen. Er winkt mit beiden Armen, weil er glaubt, der Mann hätte sein Zeichen nicht verstanden. Aber das hilft nichts. Der Motor heult ein paar Mal auf, als wolle er um Hilfe rufen. Aber die Maschine rührt sich nicht von der Stelle.

Als Alfred Martelok heran ist, rafft der Traktorist gerade Schilf vom Purnitzufer zusammen und wirft es vor die Räder. Dann schwingt er sich auf den Sitz und gibt Gas. Der Traktor ruckt kurz an, aber dann drehen die Räder wieder durch, obwohl der Hänger schon abgekoppelt ist. Große Klumpen Morast schleudern nach hinten weg. Dabei sinkt die Maschine immer mehr ein. Gleich liegen die Achsen auf. „Es hat keinen Zweck!“, ruft der Vorsitzende. Sehr laut, damit er den Lärm des Motors

übertönt. Dann zieht er seine Jacke aus und wirft sie auf den Hänger. Er geht nach vorn zum Kühler, wischt seine Hände an der Hose trocken und greift zu. Dabei wirft er den Kopf zurück wie ein kleiner Junge vor dem Zweikampf mit einem anderen. Als wolle er sagen: „Los doch! Komm du nur! Versuch es doch mal, ob du mich unterkriegst! Mit so einem, wie du es bist, nehme ich es zweimal auf!“ Ein Stöhnen wie ein großes Tier. Ein Schwung. Und der Traktor steht in einer anderen Richtung. Der Traktorist staunt mit aufgerissenen Augen. Als Alfred Martelok ihn so verwundert stehen sieht, muss er lachen.

Wie ein lebender Kran", sagt der Traktorist nach einer ganzen Weile.

Nun fassen die Räder wieder, und die Zugmaschine kommt frei.“

Ein Jahr später als „Die Schlacht auf dem Kapaunsee“ erschien ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin „Die Feuerfontäne“ von Martin Meißner: Das sagenumwobene Dorf Holligau im Mecklenburgischen gerät in Unruhe. El Campo, sein sowjetischer Kollege Jegor Iwanowitsch und andere Spezialisten bohren nach Erdgas. Die Einwohner Holligaus beobachten das lärmende Treiben der einziehenden Technik anfangs nicht gerade wohlwollend. So hat es der Junge Lüder Belling nicht leicht. Einerseits möchte er die lieb gewordenen Flecken um Holligau — vor allem die Reiherkolonie — vor den rauen Bohrleuten schützen. Andererseits: diese Fremden wollen ebenso wie Lüder und Vater Hotopp den einäugigen Riesen vom Buerkamp bezwingen. Und da ist auch noch die Großmutter, die dem ganzen Treiben auf dem Buerkamp mehr als skeptisch zuschaut … Am Anfang ist über eine Ankunft zu berichten, eine Ankunft im Alltag natürlich auch, aber vor allem eine Ankunft im „Ländlichen Raum“, wie es heute heißt:

Ankunft in Holligau

Lüders erster Tag in Holligau endet mit einem Missgeschick. Vor seiner Abreise hatte die Mutter von nichts anderem als der Schule dort in dem fernen Dorf gesprochen, in dem sie zukünftig wohnen wollten. Die Nachtruhe dagegen hatte sie mit keinem Wort erwähnt. So enthält der Campingbeutel zwar die Hefte und all die Sachen für den Unterricht, aber an den Schlafanzug hatte keiner gedacht.

Die Großmutter weiß Rat. „Ziehst du solange ein Nachthemd vom Großvater an“, sagt sie. „Es ist Barchent. Der Opa hatte es gern ein bisschen angeraut.“ Als Lüder dann in seinem Zimmer steht und es übergezogen hat, findet er sich nicht sofort. Er sucht sich in der Scheibe des Fensters, in der die verschiedenen Einrichtungsgegenstände zu erkennen sind. Endlich entdeckt er sich. Er muss dieser große weiße Fleck zwischen Tür und Ofen sein, denn das ist das einzige, was sich hier bewegt. Er löscht schnell das Licht. Aber es dauert eine ganze Weile, ehe er sein Bett erreicht. Mehrmals tritt er hinten auf das Hemd. Im Bett weiß er sich zwar in Sicherheit, aber der Schlaf will nicht kommen. Vielleicht liegt es an der Stille hier. Er vermisst das Quietschen der Straßenbahn und dieses ferne ungenaue Rollen der Stadt. Vielleicht halten ihn die vielen Eindrücke dieses Tages wach. Oder es kann das ungewohnte Nachthemd sein, das ein wenig kratzt.

Er muss zuerst an Tante Irmelin denken, die nun ihre Wohnung für sich allein benutzen kann. Anfangs wollte er es nicht glauben, dass sie die feste Absicht hatte, zu heiraten. Es schien ihm nicht mehr als einer ihrer kühnen Pläne zu sein, die sie in regelmäßigen Abständen vor der Mutter und ihm ausbreitete, dann aber niemals in die Tat umsetzte. Denn genauso wenig, wie sie es verwirklichte, die Fahrerlaubnis für motorgetriebene Binnenwasserfahrzeuge zu erwerben oder eine Nutriazucht einzurichten, käme sie dazu, eine Ehe zu schließen. Umso überraschter war Lüder, als eines Tages tatsächlich ein Mann erschien. Und als er wieder gegangen war, sagte Tante Irmelin zur Mutter: „Ich heirate nun. Du siehst dich nach einer eigenen Wohnung um. Oder besser noch, du ziehst nach Holligau, wo ihr genau wie bei mir eure Ordnung habt.“

Über diesen Umzug aufs Dorf nun dachte der Junge mal so und mal so. Mitunter kam es ihm wie ein anderes, neues Leben vor. Sehr verlockend. Wie ein tiefer trüber See würde die Vergangenheit sein, und er allein entschied, was er heraufholte. Für die Schule beispielsweise würde er sich neue Hefte einrichten. Vor allem wollte er es zukünftig vermeiden, das Merkbild vom Sklavenhalterstaat ins Biologieheft und ins Rechtschreibheft den Blutkreislauf der Lurche einzuzeichnen, wie es ihm leider bisher passierte. Tante Irmelin würde er nicht sehr vermissen. Dagegen den Heiko schon. Er hatte Lüder zum Bahnhof gebracht und noch ein paar Tipps gegeben, wie er sich auf dem Dorf verhalten soll. „Und die Pferde, du“, waren seine Worte des Abschieds, „vor den Pferden brauchst du keine Angst zu haben. Sie treten nie auf einen Menschen drauf. Die Kühe überrennen und zertrampeln einen. Aber ein Pferd nicht.“ So gut kannte sich Heiko auf dem Lande aus.

Ehe ihn der Schlaf überfällt, denkt Lüder noch über die Mutter nach. Ob sie froh ist, dass wir zur Großmutter gezogen sind? Vielleicht findet sie es gut, dass sich Tante Irmelin nun einen Mann nimmt, bei dem sie alles bestimmen kann und der ihre kühnen Pläne anhören muss …

Begegnung mit einer Sirene

Mit Heikos Belehrungen über das Dorf kann Lüder die ersten Tage wenig beginnen. Denn er begegnete bisher weder einem Pferd, um ihm zu vertrauen, noch einer stampfenden Rinderherde, um sich vor ihr rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Vielleicht war es auch besser, dass er klein anfing und zuerst einen toten Vogel fand. Den legte er in Großmutters Speisekammer, weil es der einzige Raum des Hauses war, der über Nacht verschlossen wurde und sogar vergitterte Fenster besaß. Nicht auszudenken, wenn es ein Pferd gewesen wäre, denn der Großmutter gefiel schon

der Vogel nicht.

Zuerst dachte sie wohl, es wäre eine Gans, die ihnen jemand gebracht hatte, weil nun ein Esser mehr im Hause war. Bis sie dann das leichte Gewicht spürte und den Irrtum gewahr wurde. „Der Kranich verschwindet mir sofort“, ordnete sie an. „Und nicht nur aus dem Haus, sondern vom ganzen Gehöft. In der Stadt mögen sie die wilden Tiere in den Kühlschrank legen. In Holligau nicht. Jedenfalls nie und nimmer auf Bellings Hof.“

Lüder kam sich die erste Zeit in seiner neuen Heimat wie ein Weltumsegler vor. Er durchstreifte die Felder und Wiesen und ging an den Rändern der Wälder entlang. Auf einem dieser Entdeckungszüge hatte er den toten Vogel gefunden, dem durch eine Falle beide Beine abgeschlagen waren. Er trug ihn heim, und nicht umsonst schloss er ihn in den sichersten Raum des Hauses ein. Der Fund kam ihm sehr bedeutsam vor, und er hoffte, dieser Besitz könnte ihm noch gute Dienste tun.

Als er nun gezwungen ist, sich wieder von ihm zu trennen, nimmt er aus der Futterküche einen Sack, tut den Vogel hinein und schlendert mit ihm erst mal ohne ein rechtes Ziel die Dorfstraße entlang. In der Höhe des Spritzenhauses hört er plötzlich einen eigenartigen Gesang. Er geht der Stimme nach und kommt auf einen Bauernhof, dessen großes Tor weit geöffnet ist. „Man kann es nicht sehen, hab Krallen statt Zehen. Flieg über Feld und Hügel, denn ich besitze auch Flügel. O Liebster, hör den Gesang. Komm her, sei nicht bang.“

Die schauerlichen Töne kommen von einem Balken unter dem Schirm. Das ist eine

Überdachung vor dem ehemaligen Kuhstall, die zum Unterstellen der Getreidefuder diente.„Wer singt denn da?“, fragt Lüder.

„Ich bin die Sirene“, erklärt das Mädchen, das er nun in schwindelnder Höhe kauern sieht.

„Sirene?“

„Ja. Eine Frau mit einem herrlichen Gesang, der den Männern die Sinne raubt.“

„Die kenne ich nicht. Und das bist du?“

„Ja. Das bin ich. Und dies hier sind die Knochen meiner Geliebten. Ich sitze auf einem ganzen Berg davon.“ Dabei zeigt das Mädchen ein abgenagtes Hühnerskelett nach unten.

„Du gehst mit ihnen nicht zimperlich um“, sagt Lüder. Dann stellt er sich seinerseits dem Mädchen vor.

„Für mich bist du kein Belling“, unterbricht sie ihn aber gleich. „In meinen Augen bist du kein anderer als Odysseus.“

„Der wird wohl auch abgenagt?“, erkundigt sich Lüder zaghaft.

„Nein, der entgeht mir. Er fährt mit seinem Schiff an meinem Felsen vorbei. Aber vorher müssen sich seine Gefährten ihre Ohren mit Talg zustopfen, damit sie den herrlichen Gesang nicht hören können. Ihren Anführer Odysseus jedoch binden sie an einem Mast fest, damit er meine Stimme vernimmt, aber nicht zu mir gelangen kann.“

„Gut, ich binde mich fest“, sagt Lüder. Dann nimmt er ein Heureep von der Stalltür und schnürt sich an die Leiter, die in der Luke zum Boden lehnt.

Von Neuem erklingt die Stimme der Sirene: „Odysseus, sei mein, lass dich nicht stören von Totengebein. Mach dich los von dem Maste da. Schau meine Schulter, so schön wie Alabaster. O Liebster, hör den Gesang.

Komm her, sei nicht bang.“

„Freunde, bindet mich noch mit Ketten!“, ruft Lüder, der sich in den Seilen schrecklich windet. „Der Gesang raubt mir den Verstand!“

Geschickt lässt sich das Mädchen von dem Balken herunter, um den Jungen zu befreien. Er hat sich selbst so gründlich gefesselt, dass er von allein kaum wieder loskommt. „Du warst besser als der echte Odysseus in der Sage von Homer“, lobt ihn das Mädchen und lacht.

Lüder winkt bescheiden ab.

„Aber sehr groß bist du nicht“, stellt sie fest, als sie neben ihm steht.

„Gibbonaffen sind größer“, gibt Lüder zurück. „Aber sie können nicht so gut nachdenken wie ich.“

„So war es nicht gemeint“, lenkt das Mädchen ein. „Wenn du willst, können wir öfter zusammen spielen.“

„Einverstanden“, sagt Lüder. „Wenn du mir versprichst, dass Odysseus nicht doch noch gefressen wird.“

Aber den Vogel schenkt er ihr nicht mehr, wie er es schon vorhatte, als er mit den Fesseln rang. Er wirft sich den Sack wieder über die Schulter und beschließt, das tote Tier dort hinzutragen, wo er es gefunden hat. Vielleicht lässt er es auch auf dem Wasser des Flusses davontragen.

Kein Zirkuswagen

Die Großmutter lebte in Lüders Erinnerung bislang vor allem dadurch, dass sie bei ihren Besuchen in der Stadt dauernd an seiner Körpergröße und der Hautfarbe etwas auszusetzen hatte. Ihre Worte erweckten bei dem Jungen immer den Eindruck, in diesem fernen Dorf wüchsen die Kinder bis an die Dächer und in den Gesichtern sähen sie aus wie die Einwohner von Betschuanaland. „Wir Bellings waren alles stattliche Kerle“, sagte sie gern. Und die Frau schien sich selbst dazuzuzählen. Inzwischen hatte Lüder die Holligauer gesehen, und somit gab er auch die seltsamen Vorstellungen von ihnen auf.

Dafür hatte er eine ihrer Beschäftigungen kennengelernt, die nicht weniger merkwürdig war, als bis an die Dachrinnen in die Höhe zu schießen. Als Lüder von der Schule kam, traf er die Großmutter auf dem Hof an. Sie hatte einen langstieligen Rechen in der Hand und lief damit schreiend hinter einem Huhn her, das ihr halb rennend, halb fliegend auszuweichen versuchte. Sie trug ein Kopftuch und einen langen Rock, der ihr wild flatternd um die Beine schlug, sodass sie selbst einem großen Vogel glich. „Schneid ihr doch den Weg ab!", rief sie Lüder zu und erhob die Harke gegen ihn, als wollte sie sich mit dem gleichen Geschrei statt auf das Huhn nun auf den Jungen stürzen.

Er stellte seine Schultasche hin und baute sich zwischen der Scheunenwand und einem runden Holzdiemen auf, wohin sich das gejagte Tier geflüchtet hatte. Lüder fürchtete sich bei der Vorstellung, die Henne könnte mit vorgestreckten Krallen und weit aufgerissenem Schnabel auf ihn zufliegen. Zum Glück war sie inzwischen so verängstigt, dass sie sich Schutz suchend flach auf den Boden duckte. Die Großmutter huschte heran und nahm sie in Gefangenschaft. Dem Jungen würgte es in der Kehle bei dem Gedanken, dass aus dem Huhn Frikassee bereitet werden sollte. Noch dazu der Mutter zur Ehre.

Da Lüder die Großmutter am Tag seiner Ankunft bei genau derselben Beschäftigung antraf, zwang sich ihm die Vorstellung auf, große Ereignisse kündigten sich bei den Holligauern dadurch an, dass sie die Jagd nach einem Huhn aufnahmen. Als die Großmutter die Beute ins Haus getragen hatte, rannte der Junge vor das Dorf. Er stellte sich auf die kleine Anhöhe mit der siebenstämmigen Birke und dem Lesesteinhaufen, von wo man den Verlauf der Straße ein gutes Stück durch die Felder verfolgen konnte, bis  sie weit hinten im Forst verschwand.

Lange hielt er die Hand über die Augen, um nach einem Fahrzeug Ausschau zu halten, das groß wie ein Zirkuswagen aussehen musste. Vielleicht kamen sie nicht über jede Brücke und mussten eine Umleitung nehmen, dachte er, als immer noch nichts zu sehen war. Es konnte sein, die Last war zu schwer. Er hoffte, sie kämen vor der Dunkelheit an, damit man im Dorf das große Möbelauto noch sah.

Am Ende war er aber froh, dass es dunkel geworden war. Denn vor dem Haus der

Großmutter stand ein LKW, den er gar nicht für voll genommen hatte. Die Sachen waren mit einer Plane bedeckt. Wie konnten ihm nur die Worte von Tante Irmelin entfallen sein? „Fühlt euch wohl bei mir. Betrachtet alles wie euer Eigentum, wenn es euch auch nicht gehört.“

Der Großmutter waren unsere wenigen Möbel dennoch zu viel. „Es ist doch alles reichlich da“, sagte sie immer wieder. „Die Truhen sind bis oben voll. Und das Silber und das Meißner Porzellan.“ Am liebsten hätte sie es wohl gesehen, wenn der Fahrer alles wieder mitnahm. Besonders schien sie der Rauchtisch zu stören. Sie ließ ihn nicht wie die anderen Sachen zunächst im Flur abstellen, sondern nahm ihn dem Fahrer des Lkws aus der Hand und trug ihn auf den Hausboden. „Vielleicht kauft ihn mal einer ab“, sagte sie.

Als die Mutter in Lüders Zimmer kommt, um den Schlafanzug zu bringen, sitzt er am Tisch und liest den Brief von Heiko, den der sicherheitshalber dem Möbeltransport mitgegeben hat. Lüder bereitete es große Mühe, des Papiers habhaft zu werden, denn Heiko hatte sich ein kompliziertes System der Versiegelung ausgedacht. In einer Kondensmilchdose ist der Brief kunstvoll verschlossen. Ein sehr hoher Aufwand, findet Lüder, für den Inhalt dieser Schrift, deren größtes Geheimnis darin besteht, dass Heiko noch einmal einen Hinweis auf die Gefährlichkeit der Rinderherden gibt.

Die Mutter lässt die Tür einen Spalt weit offen und sieht sich um, als erwarte sie, dass ihr die Großmutter folgt. „Hier der Schlafanzug“, sagt sie und legt ihn aufs Bett. Sie bleibt noch einen Moment unschlüssig stehen. Lüder schaut sie an.

Wie groß sie wirkt, wenn sie allein ist, überlegt er. Und er erinnert sich an ihre Eigenart, neben anderen fast unsichtbar zu werden. „Großmutter hat viel von Tante Irmelin“, sagt er nach einer Weile.

„Aber ein Unterschied ist doch“, erwidert die Mutter. „Großmutter ist mehr wie das Barchenthemd.“

„Das Hemd ist sehr rau.“

„Aber es hält auch warm.“

„Das ja. Aber warum hat Großmutter den Rauchtisch auf den Boden gebracht, wo du ihn gern in der Wohnung behalten hättest?“

Die Mutter antwortet darauf nicht. Sie hebt nur ein wenig ihre Schultern an. Als sie gegangen ist, bedauert der Junge, dass die Großmutter das Loch im Pulli schon gestopft hatte, das von seinen Streifzügen stammt. Nun sah die Mutter keinen Grund, an ihn heranzutreten, um den Schaden genau zu betrachten und dabei wie aus Versehen über sein Haar zu streichen. Einfach so tat sie es ja nie.

Lüder wollte ihr noch sagen, dass sie den Rauchtisch wieder vom Boden holen und ihn solange in sein Zimmer stellen könnten. Aber so war es meistens. Es fiel ihm erst immer etwas ein, wenn sie fort war oder wenn ein anderer im Wege stand.“

Erstmals 2017 hatte EDITION digital sowohl als gedruckte Ausgabe wie als E-Book „Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann?“ von Lutz Dettmann veröffentlicht – und natürlich gerade in diesen Tagen höchst aktuell: Weihnachten – Fest der Familie, strahlende Kinderaugen unter dem Weihnachtsbaum, Besinnlichkeit, für viele Menschen aber auch Symbol für Konsumterror, Völlerei und eine Zeit der Einsamkeit. Lutz Dettmann macht die Vielfalt der zahlreichen, oft widersprüchlichen Seiten der Weihnachtsfeiertage für den Leser erfahrbar. Die abwechslungsreichen Kurzgeschichten führen den Leser vom Mecklenburg der Gegenwart, in der ein erbarmungsloser Dekorationskrieg zweier Nachbarfamilien ein überraschendes Finale hat, bis in die Schützengräben von Flandern, wo er hautnah dabei ist, wie in der Heiligen Nacht des Jahres 1914 aus Feinden Freunde werden. Lutz Dettmanns Geschichten regen zum Nachdenken an und sind – genau wie die Vorweihnachtszeit – manchmal skurril oder auch trivial. Eines haben sie alle gemein: Sie vermitteln diese besondere Weihnachtsstimmung. Fast alle Weihnachtsgeschichten, über Jahre für die Familie geschrieben, finden in diesem Buch erstmals ihren Weg in die Öffentlichkeit. Die dem Buch beiliegende DVD enthält den Kurzfilm „Fröhliche Weihnachten“ (Regie: Till Endemann), der nach der in diesem Band enthaltenen Erzählung „Alle Jahre wieder“ gedreht und 2010 im MDR erstausgestrahlt wurde. Dafür hatte Lutz Dettmann auch das Drehbuch geschrieben.

Aber in der für heute ausgesuchten Geschichte geht es um einen ganz anderen Fall und um einen Landarzt, der sich nach Ruhe sehnt:

Stille Nacht

Dr. Friedrich Christ war ein ruhiger und ausgeglichener Mann. Bis vor fünf Jahren hatte er in der Landeshauptstadt gewohnt und dort eine florierende Arztpraxis geführt. Doch als der Doktor fünfzig wurde, stellte er fest, dass er nun in einem Alter sei, in dem auch er zählte und nicht nur seine Patienten. Um es kurz zu machen: Als der Doktor einige Monate später in einer Ärztezeitung las, dass eine Landarztpraxis frei werden würde, setzte er sich in seinen alten DKW und fuhr hinaus aufs Land. Der alte Landarzt stutzte zwar, dass sein potenzieller Nachfolger gerade einmal 15 Jahre jünger sein würde als er. Doch er fand ihn sympathisch und beide wurden schnell handelseinig.

Des Doktors Frau brauchte nicht lange überredet zu werden, denn sie hatte schon lange bemerkt, dass ihr Mann in der Großstadt nicht mehr glücklich war. So wurden die vielen Bücher eingepackt, der Tochter und dem Sohn ein langer Brief geschrieben und hinaus ging es aufs Land. Der alte und der neue Landarzt praktizierten noch eine kurze Zeit gemeinsam, denn ganz einfach ist es nicht auf dem Land für einen neuen Arzt, auch wenn er schon 50 ist. Aber der neue alte Doktor sprach Platt und bewies den Leuten auch, dass er was konnte, und irgendwie deckte er auch noch einen alten Zweig seines Stammbaumes auf, der dort in Bargeshagen vor 100 Jahren gelebt hatte. Der alte Arzt setzte sich beruhigt zur Ruhe und zog zu seiner Tochter nach Greifswald.

Dr. Christ fühlte sich wohl, weitab vom Großstadttrubel in seiner kleinen Praxis, mit dem kleinen Häuschen und dem großen Garten. Und wenn er nicht einen Schnack mit den Nachbarn machte, verbrachte er seine Mußestunden im Garten, las und beobachtete seine Frau beim Jäten und Ernten. Am Sonntag saß Dr. Friedrich Christ inmitten seiner Gemeinde und machte seinem Namen alle Ehre. Eigentlich hätte er glücklich und zufrieden bis ins Rentenalter leben können.

Doch – wie schon gesagt – unser Doktor war ein ausgeglichener Mann – war – bis vor einigen Monaten. Dann nahm das Unheil seinen Lauf. Unruhig wälzte sich Doktor Christ von der einen auf die andere Seite. Der Schlaf wollte einfach nicht wiederkommen – obwohl es erst fünf Uhr war. Fast schmerzhaft klang der Gong des alten Regulators aus dem Wohnzimmer herauf. Neben ihm schlief seine Frau den Schlaf der Gerechten. Fast war er wütend auf sie, obwohl sie doch nicht dafür konnte, dass er nicht schlief.

Dafür konnte nur eine bestimmte Kreatur etwas, und diese schmetterte ihren Laut schon wieder in die dunkle Nacht, seit fast zwei Stunden. „Dieses Miststück von Hahn!“ Der Doktor vergrub seine Ohren in das tiefe Kissen. Doch gedämpft klang das KIKERIKI noch immer an seine Ohren, als ob die Hühnerfedern mit dem Hahn unter einer Decke steckten. „Heute gehe ich noch einmal rüber zu Lehmann und red mit ihm! Der Hahn muss weg. Das Vieh ist doch verrückt! Stockdunkel, von der Sonne nicht eine Spur und krähen tut das Aas wie im Sommer. Verdammt, wir haben Oktober! Oktober!“

Die Hand seiner nun erwachten Ehegattin ließ ihn verstummen.„Mann, versuch zu schlafen! Kein Wunder, dass du mit deiner schlechten Laune die Patienten zur Frau Doktor treibst.“ Da war es – das zweite Übel, dass ihn nicht ruhig schlafen ließ: Die junge Frau Doktor, die im Nachbardorf vor einigen Wochen eine Praxis eröffnet hatte. In Scharen liefen die alten Kerle mit dem kleinsten Zipperlein zu ihr und ließen vor ihr die Hosen runter! Wenn es so weitergehen würde, hätte er nur noch die alte Meyersche als Kundin. Die wog vier Zentner und konnte darum nicht in das Nachbardorf zur Konkurrenz gelangen.

Doch mit der hübschen Doktorin konnte er leben. Der Hahn war das größere Übel. Die Frau Kollegin war ja noch nett zu ihm, aber der Lehmannsche Hahn war eine Ausgeburt der Hölle. Wieder wälzte sich der arme Doktor von einer Seite auf die andere, sehnte den Morgen herbei und versuchte, seine Sinne vor dem permanenten Geschrei des Hahns zu schützen. Alles war friedlich gewesen! Die Praxis lief gut, auch ohne Überstunden. Im Dorf hatte es keinen Streit gegeben. Man grüßte sich, erzählte am Gartenzaun, mit Nachbar Lehmann hatte er auch mal ein Bier getrunken oder einen Korn, wenn er ihn in seiner Werkstatt besucht hatte. Mit Westphal ebenfalls.

Doch dann war er gekommen – der Hahn. Und alles änderte sich. Denn dieser Hahn war anders. Egal, ob Sonne oder nicht Sonne, ob morgens, mittags oder nachts.

Dieser Hahn krähte immer. Die Nachbarn des Lehmannschen Hahnes regten sich auf, aber nur hinter dem Rücken seines Besitzers, denn Lehmann gehörte zum alten Dorfadel. Da gehört sich kein offener Konflikt, denn es gibt eine dörfliche Hackordnung. Nur der Landarzt, dessen Haus, wohlgemerkt mit der Schlafzimmerseite, an den Lehmannschen Hof grenzte, regte sich auf. Dr. Christ interessierte keine Rangordnung, er brauchte seinen Schlaf, denn er musste ausgeschlafen praktizieren. Doch es half kein Reden!

„De Hahn bliwwt buten!“ („Der Hahn bleibt draußen.“), vermerkte Bauer Lehmann, „De Hahn is besser as en Hund. Lat´n Se mal den Hahn in Ruhe. De will ok vertellen!“ („Der Hahn ist besser als ein Hund. Lassen Sie mal den Hahn in Ruhe. Der will auch erzählen.“) Bauer Lehmann spuckte aus, drehte sich um und ließ den schlafgestörten Doktor am Zaun zurück. Der raufte sich die graue Wolle, schimpfte Zeter und Mordio hinter dem unbeeindruckten Lehmann und beobachtete ohnmächtig, wie dieser im Oktobernebel verschwand, während das Monster von Hahn sein KIKERIKI triumphierend in den diesigen Morgen ausstieß. Dieser Schlachtruf war für den Landarzt eine Kriegserklärung. Vorbei mit dem freundlichen „Morgen ook!“ am Gartenzaun, kein Nachbarsbier, kein Ausleihen der Sense.

Es herrschte Krieg! Tag für Tag, Nacht für Nacht schmetterte der braungelbweiße Hahn sein KIKERIKI in den Himmel. Vergaß sich der Doktor dann nach der zwanzigsten Tonfolge und drohte über den Zaun und schrie, so höhnte der Hahn noch einmal zehn KIKERIKI hinterher. Der Doktor konnte nicht mehr. Er stellte Fehldiagnosen in der Praxis, verpasste Hausbesuche. In einigen Monaten müsste er seine Praxis dichtmachen, würde selber Patient in einer bekannten Nervenklinik werden, die sich unweit der Landeshauptstadt befindet.

Seine Frau hörte den Hahn angeblich gar nicht. Alle Beruhigungsversuche ihrerseits scheiterten. Dann, nach Wochen, wurde auch sie gereizt. Misstöne schummelten sich in das früher doch so harmonische Eheleben, denn auch sie konnte nur noch schlecht

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