Zu den wichtigsten Änderungen in der neuen DIN EN ISO/IEC 17025:2018, die die Labors derzeit umtreibt, gehört der risikobasierte Ansatz (RBA), der die Betrachtung und Abwägung von Risiken und Chancen fordert. Wir haben Klinkner & Partner-Experten gebeten, ihre Erfahrungen zu diesem Thema mit uns zu teilen und Tipps für die Praxis zu geben.

Susanne Kolb und Annette Loock kennen als DAkkS-Begutachterinnen sowie als Beraterinnen für die Akkreditierung nach ISO/IEC 17025 und ISO 15189 die Anforderungen an die Umsetzung der neuen Norm genau. Thomas Muckenheim ist als Qualitätsingenieur und leitender Auditor im Zentralen Qualitätsmanagement des Forschungszentrums Jülich tätig und verfügt über langjährige Erfahrung in Audits. Jan Schuboth ist DGQ-Qualitätsbeauftragter/ Qualitätsmanager und interner Auditor. Dr. Roman Klinkner ist Geschäftsführer der Dr. Klinkner & Partner GmbH und Leiter eines akkreditierten Kalibrierlabors, das die DAkkS-Begutachtung zur Umstellung auf die neue Norm bereits im Oktober 2018 erfolgreich absolviert hat.
 
Was sind für Sie selbst die wichtigsten „Learnings“ aus dem risikobasierten Denken?

Kolb: Viele Labore haben Ihre eigenen Beispiele bzgl. z.B. des Risikos zur Unparteilichkeit, die auch in der Risikobetrachtung dargestellt werden müssen. Durch die Erstellung der Risikobetrachtung werden teilweise die Abläufe im Labor noch besser kennengelernt und sie wird für die Einleitung von Verbesserungsmaßnahmen genutzt. Auch gilt sie als wunderbares Argumentationstool für alles, was im Labor anders – als üblich – gemacht wird, z.B. verlängerte Kalibrier- oder Überprüfungsintervalle.

Loock: Aus meiner Sicht ist der risikobasierte Ansatz der ISO 9001 und nun auch der ISO/IEC 17025 Anstoß für die Unternehmen, die Dinge ins Visier zu nehmen, die wirklich unter den Nägeln brennen. Ein Beispiel: Die Forderung, dass zur Erfüllung der Norm zu allen Normkapiteln Informationen über die tatsächliche Umsetzung der Anforderungen im internen Audit eingeholt werden müssen, wird ersetzt durch die gezielte Betrachtung der Normkapitel, die im Zusammenhang mit den geänderten oder mit instabilen Unternehmensprozessen im Sinne der Normanforderungen stehen.

Muckenheim: Der Ansatz, Risiken und Chancen zu betrachten, liefert strukturierte Informationen über die Situation innerhalb des Labors und im Umfeld des Labors. Es hilft, viele Themen aus dem „Bauch“ auf eine objektive Ebene zu heben, und bei der Priorisierung von Problemen. Der Ansatz weitet den Blick und hilft bei der strategischen Ausrichtung des Labors und des Qualitätsmanagementsystems. Das Thema stellt den Motor für den KVP-Prozess dar und wirkt sich auch positiv auf die Mitarbeiter im Labor aus nach dem Motto: „Endlich werden auch unsere Themen und Probleme wahrgenommen und behandelt.“.

Dr. Klinkner: Für mich gibt es 4 wichtige Learnings:

  1. Unbedingt vermeiden, dass ein formaler Mehraufwand entsteht, dem keine reale Verbesserung des Chancen-Risikoverhältnisses gegenüber steht. Dazu weniger auf den DAkkS-Begutachter und auf Kleinstrisiken schauen als auf die eigenen Interessen.
  2. Meist gehen Chancen mit Risiken einher. Bei der Ergreifung von Chancen ist sorgfältige Risikobetrachtung unabdingbar. Wichtig ist, schon bei der Planung daran zu denken.
  3. Viele Maßnahmen eines QM-Systems wie Dokumentation, Schulung, Validierung, Regelkarten, Kalibrierung, etc. dienen der Risikosteuerung. Ein akkreditiertes Labor fängt also nicht bei null an und sollte das auch so kommunizieren.
  4. Der risikobezogene Ansatz kann auch verwendet verwenden, um sich von überzogenen Maßnahmen zu befreien. Oft klagen Labore über „historisch gewachsene“ und übertriebene QM- und QS-Maßnahmen an der falschen Stelle. Eine Risikobetrachtung kann so etwas auch als Leerleistung und Ressourcenverschwendung identifizieren und damit beenden.

Was sind nach Ihrer Erfahrung die größten Probleme mit dem RBA, auf die Sie in der Praxis treffen?

Kolb: Kein Know-how oder keine Vorstellung davon, wie die Risikobewertung aufzubauen ist. Der Umfang ist oft unklar. So wurde ich von Laborseite schon mal gefragt, ob nun 5 Risiken bewertet werden sollen oder 40, und ob der Begutachter die fehlende Betrachtung bestimmter Risiken kritisiert. Oftmals werden keine Maßnahmen für mittlere und hohe Risiken formuliert, die Wirksamkeit der durchgeführten Maßnahmen wird nicht überprüft und dokumentiert, das Risiko nach der Maßnahmendurchführung wird nicht mehr neu bewertet. Die Chancenidentifizierung und Bewertung wird vergessen.

Muckenheim: Die größte Problematik sehe ich in der risikolastigen Einstellung in Deutschland. Probleme löst man gerne, auch akribisch, Chancen kommen dabei häufig zu kurz. Ein weiteres Problem ist eine ehrliche, möglichst objektive Wahrnehmung bei der Betrachtung der Situation im Labor. Führungskräfte neigen oft zu einer sehr pessimistischen Betrachtungsweise, um daraus Ressourcen gewinnen zu können. Im Gegensatz dazu wird die Situation oft unangemessen positiv bewertet, weil man ja sonst einen schlechten Führungsjob geliefert hätte. Wie so oft im Leben liegt die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen. Hier sind Workshops mit mehreren Mitarbeitern und der Leitung hilfreich.

Loock: Die Betrachtung von Risiken und Chancen ist ein Blick in die Zukunft. Auch wenn wegweisende Informationen zur Verfügung stehen, bleibt die Auswahl der jeweiligen Risiken und Chancen eine Wette auf zukünftige Ereignisse. Diese Wette kann gewonnen oder verloren werden. In den Entscheidungen steckt viel Arbeit, denn Informationen müssen gesammelt und bewertet werden. Stellt sich der Erfolg nicht ein, weil auf das falsche Pferd gesetzt wurde, ist die Arbeit umsonst gewesen. Die entscheidenden Personen verhalten sich deshalb oft zögerlich.

Worauf sollten akkreditierte Labore besonders achten?

Kolb: Das Risiko bezüglich der Unparteilichkeit liegt bei den Begutachtungen stark im Fokus, hier sollten laboreigene Beispiele aufgeführt sein und das Thema Risiko der Unparteilichkeit darf nicht nur generell bewertet werden. Das Labor benötigt eine Festlegung, ab welcher Risikohöhe Maßnahmen eingeleitet werden. Das Risiko zur Unparteilichkeit muss laufend – und das bedeutet nicht regelmäßig und nicht jährlich, sondern bei jeder Änderung – bewertet werden und dies muss auch dokumentiert werden, z.B. über einen fixen Tagesordnungspunkt in den Besprechungen. Bei jedem Ereignis muss ggf. die Risikobewertung aktualisiert werden.

Schuboth: Meiner Meinung nach sollten akkreditierte Labore weiterhin und mehr denn je auf die interessierten Parteien und deren Anforderungen achten. Denn, wenn hier etwas nicht passt, so kann es zu Unzufriedenheit und Stress kommen.

Muckenheim: Nach meiner Erfahrung sind die Risiken in den analytischen Verfahren gut berücksichtigt und behandelt. Risiken im IT-Bereich zur Datensicherung scheinen von gesteigerter Bedeutung zu sein. Auch die Auswertungen der Kompetenzsituation und Entwicklung, aber auch Daten aus Fehlerstatistiken werden gerne zur Risikoidentifikation durch den Auditor herangezogen. Situationen, die tatsächlich ein Risiko abbilden, sollten auch in der Risikobetrachtung Berücksichtigung finden. Folglich sollten auch nach der Bewertung der Situation ggf. Maßnahmen geplant und im Management Review bewertet werden.

Loock: Eine gute Auswahl beim Umgang mit Risiken und Chancen basiert auf Fakten. Gut dokumentierte Ereignisse, wie bspw. Geräteausfälle, nicht eingehaltene Konzepte oder Kundenvereinbarungen bieten eine gute Basis. Vor der Auswahl steht die Analyse von Informationen. Eine einmalig überschrittene Temperaturkontrolle als einziges „nichtkonformes“ Ereignis macht es für diejenigen Personen schwierig, die mögliche Risiken benennen sollen. Das Unternehmen sollte alle Beteiligten dazu animieren, Auffälligkeiten und Beobachtungen zu dokumentieren, damit Tendenzen eine Chance haben, entdeckt zu werden.

Welche Risiken müssen nach Ihrer Einschätzung NICHT betrachtet werden?

Kolb: Risiken sind laborabhängig. Es sollten nur die Risiken betrachtet werden, die einen Einfluss auf die Prüf- und Kalibrierergebnisse haben. Wirtschaftliche Risiken oder Arbeitssicherheitsrisiken sind für die 17025 nicht zu betrachten. Je nach Relevanz des Prüf- oder Kalibrierverfahrens ist eine Betrachtung der einzelnen Schritte des Verfahrens nötig – dies ist aber nicht für jedes Labor und jedes Verfahren nötig.

Dr. Klinkner: Hier sehe ich die Leitung in der Verantwortung, eine Entscheidung zu treffen: Pflicht für ein nach ISO/IEC 17025 akkreditiertes Labor ist die Betrachtung der in der Norm explizit genannten Risiken z.B. für Unparteilichkeit, Zuverlässigkeit der Ergebnisse und „Lieferfähigkeit“. Das umfasst aber sehr viele Risiken nicht, die aus unternehmerischer Sicht ebenso relevant sind wie z.B. finanzielle, Umwelt- oder Sicherheitsrisiken. All diese Risiken müssen im Rahmen einer Akkreditierung nicht thematisiert werden, das liegt im Ermessen der Leitung. Ebenfalls außen vor bleiben können die vielen Kleinstrisiken des Alltags, die überall auftreten und deren Akzeptanz nach den Regeln des gesunden Menschenverstands üblich ist.

Loock: Bei dieser Frage sollte man sich immer vor Augen führen, dass der Umgang mit Risiken und auch Chancen dem Unternehmen nutzen sollte. Die Beschäftigung mit nicht zielführenden Risiken und Chancen bedeutet wiederum ein Risiko für das Unternehmen, weil die Ressourcen für das Tägliche geschwächt werden. Oberstes Ziel ist es, die Validität der Ergebnisse zu sichern und die Kunden sowie rechtlichen Anforderungen zu erfüllen und Betriebsunterbrechungen zu vermeiden. Diese Themen sollten bei der Wahl der zu betrachtenden Risiken und Chancen im Fokus stehen. Der einmalige Kundenwunsch, den das Unternehmen nur mit hohem Aufwand erfüllen könnte, ist keine Chance und nach Erklärung des Aufwandes im Kundengespräch sicher auch kein Risiko im Sinne der Kundenzufriedenheit.

Wann sehen Sie eine Dokumentation als erforderlich an und wie kann die schlank gehalten werden?

Kolb: Alle identifizierten Risiken müssen in der Risikobetrachtung stehen und bewertet werden. Nach durchgeführten Maßnahmen müssen diese auf Wirksamkeit geprüft werden und dies muss dokumentiert werden.

Schuboth: Die Labore und Unternehmen sollten sich verstärkt mit dem Reifegrad Ihrer Organisation und Ihren Mitarbeitern beschäftigen. Je höher der Reifegrad ist, umso schlanker kann eine Dokumentation gestaltet werden.

Muckenheim: Die Norm fordert eine systematische Erfassung und Betrachtung von Risiken und Chance und ggf. die Einleitung von Maßnahmen zur Abstellung oder Verminderung. Risiken zu Geräten oder Methoden sollten aus meiner Sicht in Geräte- und Methoden-SOPs berücksichtigt werden, sie sind u.a. Zweck der Regelung in diesen Dokumenten.

Loock: Die Norm ISO/IEC 17025 fordert, dass ein Qualitätsmanagementsystem Maßnahmen zum Umgang mit Risiken und Chancen behandelt und die Norm 9001 fordert, dass die Organisation Maßnahmen zur Behandlung von Risiken planen muss. Eine formelle Methode für das Risikomanagement oder ein dokumentierter Risikomanagementprozess wird in beiden Normen nicht gefordert. Einige Laboratorien beschreiben die Maßnahmen im Umgang mit möglichen Risiken und Chancen in ihren Prozess-, Arbeits- und Verfahrensanweisungen. Eine separate Matrix mit identifizierten Risiken und Chancen sowie den geplanten Maßnahmen kann auch als Nachweis dienen, dass die Organisation sich mit dem Thema beschäftigt.

Können Sie schon über Erfahrungen aus DAkkS-Audits berichten? Wenn ja, über welche?

Kolb: In den bisherigen Begutachtungen meiner Kunden nach der „neuen“ Norm wollten die Begutachter immer eine ausführliche Beschreibung im QMH oder in einem eigenen Vorgabedokument zum laboreigenen Umgang mit Risiken und Chancen sehen. In dieser Beschreibung werden die Anforderungen und die Umsetzung des Normkapitels 8.5 der ISO/IEC 17025:2018 dargelegt. Zusätzlich muss darin die Vorgehensweise wie die laboreigenen Risiken/Chancen identifiziert, bewertet und dokumentiert werden, beschrieben werden, z.B. Identifizierung der Risiken/Chancen über ein 5 M-Ishikawa-Diagramm oder eine Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse (FMEA) und Dokumentation in einer Risiken/Chancen-Tabelle. Die Labore können natürlich das – z.B. über die ISO 9001 oder IATF 16949 – vorliegende Verfahren zum RBA nutzen und, um die Laborrisiken und Chancen erweitern. Wichtig ist, dass der Fokus der ISO/IEC 17025 (valide reproduzierbare Prüf-/Kalibrier-Ergebnisse) deutlich wird und die laboreigenen Risiken/Chancen der „kompletten“ ISO/IEC 17025 betrachtet werden. Ein Fokus auf das Risiko zur Unparteilichkeit ist aber in den Begutachtungen deutlich zu spüren. Ein Tipp: Die Laborrisiken nicht zu allgemein beschreiben, die Begutachter wünschen die Auflistung und Bewertung der laborspezifischen Risiken (mit eigenen Beispielen, die in der Risiko/Chancen-Tabelle aufgelistet und bewertet werden). Und wie sollen die Risiken bewertet werden? Die qualitative Betrachtung der Risiken und Chancen (d.h. Darlegung der Risiken über eine Art „Ampel“ mit niedrigen, mittleren und hohen Risiken – ohne Risikowerte!) ist in den bisherigen Begutachtungen meiner Kunden sehr gut angenommen worden. Viel Wert legen die Begutachter auf die Neubewertung der mittleren/hohen Risiken nach dem Abarbeiten der festgelegten Maßnahmen zur Risikominimierung. Abweichungen werden geschrieben, wenn die durchgeführten Maßnahmen zur Risikominimierung nicht „dokumentiert“ auf Wirksamkeit kontrolliert werden. 

Loock: Der Umgang mit Risiken und Chancen findet in Unternehmen routinemäßig auf der betriebswirtschaftlichen Ebene statt. Die Verantwortlichkeit liegt hierbei in der kaufmännischen Abteilung. Neu für die Unternehmen ist, dass sich der Umgang auf die Laborprozesse bezieht. Die Verantwortlichkeiten sind hierbei oft noch nicht klar festgelegt und die entsprechenden Personen auch nicht vernetzt. Die Synergieeffekte zwischen betriebswirtschaftlicher und QM-System-Perspektive könnten durch die neue Normforderung „Umgang mit Maßnahmen zu Risiken und Chancen“ erhöht werden. Ein Beispiel: Ein häufiger Ausfall eines Brutschranks wird zunächst als Risiko identifiziert und kann durch die Anschaffung eines neuen Gerätes dauerhaft behoben werden. Beseitigt das Laboratorium also die Ursache des Risikos nachhaltig, dann ergibt sich die Chance zufriedener Kunden durch pünktliche Ergebnislieferung.

Klinkner: Wir hatten eine Anweisung zum Thema Risiken und Chancen erstellt und diese dem Begutachter vorgelegt. Darin haben wir die Regeln und Maßnahmentypen für die Risikoidentifizierung, -bewertung und -steuerung beschrieben. Konkret haben wir Soziogramme erstellt zur Beurteilung der Risiken der Unparteilichkeit und eine Risikoliste in die Managementbewertung aufgenommen, auf deren Basis eine SWOT-Analyse erstellt und jährlich aktualisiert wurde. Die Maßnahmen zur Risikosteuerung wurden ins vorhandene Maßnahmenmanagement eingebunden. Kombiniert mit einer Schulung und Sensibilisierung des Personals und der Aufnahme des Themas in die regelmäßigen Laborbesprechungen traf die Vorgehensweise beim Begutachter auf volle Zustimmung.
 
Haben Sie Tipps für hilfreiche Literatur oder sonstige Quellen?

Kolb: Eine FMEA oder die Ishikawa-Methodik sind gute Werkzeuge zum Aufbau der Risikobewertung.

Schuboth: Gute Quellen sind vor allem in der Praxis zu finden. Der Austausch mit anderen Akteuren, auch aus anderen Branchen, kann sehr effektiv und effizient sein.

Loock: Eine spannende Analyse zum Umgang mit Risiken und Chancen aus Sicht eines Wirtschaftspsychologen bietet Daniel Kahneman in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“, das beim Siedler Verlag 2012 erschienen ist.

Wir danken unseren Experten herzlich für die ausführlichen und interessanten Antworten!

http://www.klinkner.de/…
Quelle: Dr. Klinkner & Partner GmbH (04/2019)

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