Morus lebte als Familienvater, als humanistischer Schriftsteller, als Verteidiger der römischen Kirche, als Jurist und als exponierter Staatsdiener an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, mitten in einem gewaltigen europäischen Umbruch. Dies alles versuche ich dem Leser auf den folgenden Seiten darzulegen. Die Geschichte Thomas Mores, allein schon als historisch-biographischer Stoff, ist fesselnd und erzählenswert. Aber darüber hinaus ist sie geeignet, uns persönlich zu treffen; sie ist im besten Sinne »aktuell«. Der englische Staatsmann stand nicht nur in einem Kampf der Geister, der Meinungen, der Richtungen; er geriet zudem als Mensch in Konflikt mit der physisch-materialen Macht des Staates, der ihm in Gestalt König Heinrichs VIII., Thomas Cromwells und des ihnen gefügigen »Apparates« begegnete. Der Sache nach ging es um die Scheidung und Wiederverheiratung des Königs und, damit verknüpft, um die Trennung der englischen Kirche von Rom. Will man es allgemein ausdrücken, so ging es um die Emanzipation von Staat und Gesellschaft aus ihrer Einbindung in den mittelalterlichen Ordo, um die Geburt der modernen eigenständigen Nation.
Aber es ging noch um anderes: um den Anspruch der staatlichen Macht nicht bloß auf faktischen Gehorsam, sondern auf aktive Zustimmung. Erstmals sollte es nicht mehr genügen, obrigkeitliche Entscheidungen hinzunehmen, sondern gefordert war, sie ausdrücklich gutzuheißen. Nicht Rebellion wurde verfolgt, sondern bloße Gesinnung: die Nicht-Akklamation als Rebellion. So steht an der Wiege des neuzeitlichen Europa der Kampf um den Freiraum des einzelnen gegenüber der Machtorganisation, die nicht immer nur »Staat« zu heißen braucht. Thomas Morus hat diesen Freiraum für sich sehr bescheiden abgesteckt: religiöse Gründe, besser, sein Glaube haben es ihm unmöglich gemacht, die Scheidung und Wiederverheiratung Heinrichs sowie die Losreißung des christlichen England von der römischen Universalkirche und dem Papst zu bejahen. Sein Gewissen verbot es ihm, entgegen seiner Glaubensüberzeugung zu handeln, das heißt, durch den von ihm geforderten Eid auf »widergöttliche Gesetze« auch nur dem Schein nach zuzustimmen. Diese Unterscheidung, die sehr wichtig ist, wird oft übersehen. Der königlichen Scheidung und Neuverehelichung, der königlichen Kirchensuprematie als einem Unrecht nicht beistimmen zu können war nicht »Gewissens«-Entscheidung, sondern Glaubenskonsequenz; sich jedoch dieser gemäß zu verhalten und sich nicht über sie hinwegzusetzen, das war Gewissens-Gehorsam. Um dieses Gehorsams willen, den er sich nicht abkaufen lassen wollte, auch nicht um den Preis des Lebens, hat er das Schafott bestiegen.
Noch ist in der westlichen Welt unser Freiraum unvergleichlich größer als der Mores. Wir sind nicht auf das bloße Nicht-Zustimmen zu Unrecht oder, allgemein, zu dem, was unseren Überzeugungen entgegenläuft, angewiesen, sondern wir können unsere Standpunkte aktiv vertreten und brauchen – noch – keinen Konsens zu heucheln, der nicht vorhanden ist. Wir wissen aber, dass das nicht überall auf der Welt so ist. Und auch um uns, in den freien und offenen Gesellschaften, wächst die Tendenz zur Uniformität der artikulierten Meinungen: möge jeder »glauben«, was er will – sagen soll er, was gefällt. Die Zwänge, welche die Konformität der Äußerungen und der sichtbaren Verhaltensweisen ohne Rücksicht auf innere Überzeugungen und persönliche Wahrhaftigkeit herbeiführen sollen, nehmen ohne Zweifel weltweit zu, und sie sind keineswegs nur physisch-machtmäßiger Art.
Damit aber gewinnt die »Stunde des Thomas Morus« für uns den Rang von Beispiel und Programm. Macht, die die Totalunterwerfung will, wird niemals fehlen. Wir, die wir ein Halbjahrtausend nach dem tapferen Engländer leben, können uns mühelos vorstellen, ja mehr, wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass sehr wohl wieder einmal eine Stunde kommen kann, da uns nicht nur verwehrt wird, für unsere Anschauungen aktiv einzutreten, sondern da auch das schweigende Festalten an ihnen nicht erlaubt ist. Mehr noch: Es könnte geschehen, dass wir gezwungen werden, ihnen entgegen zu reden und zu handeln.
Einer gegen die Macht – auch diese Formulierung ist absichtlich gewählt. Thomas Morus stand nicht so sehr mit seinen Glaubensüberzeugungen allein, wohl aber in seinem Gewissensgehorsam. Und jeder von uns, der in eine entsprechende Situation gerät, wird sich darin so allein finden wie er. Allein nicht nur, weil das Gewissen ausschließlich Sache des einzelnen ist, sondern auch, weil nur wenige es fertigbringen, ihm zu folgen, das heißt, unter Umständen sogar einen heroischen Treueakt gegen eine überwältigende Mehrheit Andersdenkender oder sich anders Entscheidender zu setzen. Trotzdem möchte jeder im Grunde seines Herzens zu diesen wenigen gehören. Es hängt schließlich von der Gnade ab, es zu können. Eine Gnade, der Thomas Morus treu entsprach, so dass er kraft seines Gewissens seinen Glauben nicht verleugnete und kraft seines Glaubens fähig wurde, dem Gewissen bis in den Tod hinein zu folgen.
Zum Schluss: Mit der »Stunde des Thomas Morus«, die uns betrifft, ist nicht nur die Stunde einer letzten Entscheidung auf Leben und Tod gemeint, sondern auch die Beispielhaftigkeit des großen Briten. Vorbildlich war er in seinem Familienleben, in seinem Umgang mit den Kindern, in seinen Erziehungsprinzipien, in seiner beruflichen Sorgfalt, in seiner geistigen Aufgeschlossenheit für das Neue, in seiner Ehrfurcht vor dem Altbewährten, in seinen menschlichen Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Mäßigung, der Barmherzigkeit, der Tapferkeit und nicht zuletzt in seinem gütigen Humor und seinem trockenen Witz. Kurz: »Stunde des Thomas Morus« meint auch die Stunde der Menschen- und Gottesliebe. Und diese währt eigentlich immer.
Aus: Peter Berglar, Die Stunde des Thomas Morus – Einer gegen die Macht. Köln, 2019, Adamas-Verlag, 6.Auflg., 397 Seiten, hier: 7-9
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