Mehr als sieben von zehn Deutschen wollen vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft 2020 laut einer repräsentativen Umfrage eine aktive und kooperative Rolle Deutschlands in der EU. Über zwei Drittel der Deutschen sehen deutlich mehr Vor- als Nachteile in der EU-Mitgliedschaft. 95,5 Prozent der Deutschen befürworten mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern in konkreten Politikfeldern.

Eine heute in Berlin vorgestellte Studie der Heinrich-Böll-Stiftung und des Progressiven Zentrums stellt auf Grundlage einer aktuellen repräsentativen Umfrage fest, dass eine klare Mehrheit von über 70 Prozent ein aktives und kooperatives Auftreten Deutschlands in der EU wünschen. Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft fordern die Bürgerinnen und Bürger, dass die Bundesregierung vor allem bei den Themen Klima- und Umweltschutz (41,3 %), Migration und Asyl (38,6 %) sowie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie (30,1 %) Fortschritte erzielt. Mit Blick auf konkrete politische Vorhaben liegt die Einführung der EU-Digitalsteuer vorne (39 %), gefolgt von der Erhöhung des EU-Klimaziels 2030 (33,2 %) und der Schaffung einer EU-Armee (27,1 %).

Die Studie „Selbstverständlich europäisch?! 2020“ ist eine jährliche Erhebung zum Selbstverständnis der Deutschen in der EU, die in diesem Jahr um Fragen zur Ratspräsidentschaft ergänzt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass die Deutschen den Nutzen der EU in erster Linie politisch und in zweiter Linie wirtschaftlich sehen: 67,3 Prozent sind der Meinung, dass Deutschland seine politischen Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann. 56,2% glauben, dass Deutschland unterm Strich auch wirtschaftlich mehr Vor- als Nachteile von der EU hat. Die EU-Zustimmung ist nach der Euphorie zu den Europawahlen 2019 damit zwar leicht gesunken, erhält aber klare Mehrheiten.

Eine knappe Mehrheit von 50,9 Prozent hält den finanziellen Beitrag Deutschlands zum EU-Budget nicht für zu hoch. Allerdings befürworten zugleich 95,5 Prozent der Deutschen mehr gemeinsame Ausgaben von Deutschland und den EU-Partnern in konkreten Politikfeldern. Oben auf der Agenda der Bürgerinnen und Bürger stehen dabei die Bereiche Innovationen und Forschung (43,8 Prozent), Klima- und Umweltschutz (40,5 Prozent) sowie soziale Absicherung (34,4 Prozent).

„Die Bürgerinnen und Bürger fordern ein Ende der Lethargie in der deutschen Europapolitik. Die Deutschen erwarten von der Bundesregierung, dass sie während der Ratspräsidentschaft auch dicke Bretter wie die EU-Migrationspolitik bohrt. Für Deutschland ist die Ratspräsidentschaft Chance und Verantwortung zugleich.“, sagt Johannes Hillje, Ko-Autor der Studie und Policy Fellow beim Progressiven Zentrum.

Ko-Autorin Dr. Christine Pütz, Heinrich-Böll-Stiftung, erklärt dazu: „Die Umfrage zeigt, dass eine überwältigende Mehrheit der Deutschen sehr wohl bereit ist, mehr Geld in konkrete europäische Projekte zu investieren. Die Bundesregierung darf sich nicht länger auf die ‚deutschen Steuerzahler‘ berufen und Debatten über die richtige Europapolitik damit im Keim ersticken.
Die Diskussion zum neuen EU-Budget sollte daher nicht über vermeintliche finanzielle Belastungen, sondern von den politischen Zielen hergeführt werden: Es geht um Zukunftsaufgaben, in die es sich zu investieren lohnt. Für Zahlen, erst recht für Ausgaben, lassen sich Menschen nur eingeschränkt begeistern – für konkrete Visionen jedoch sehr stark.“

Dr. Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, sagte: „Die Handlungsfähigkeit Europas hängt in erheblichem Maße vom Handlungswillen Deutschlands ab. Die zuletzt wachsende Kritik vom Partner Frankreich an der europapolitischen Lethargie der Bundesregierung sollte der deutschen Politik ein deutliches Warnsignal sein. Die Ratspräsidentschaft bietet die Chance, den im Koalitionsvertrag versprochenen «Aufbruch für Europa» endlich zu liefern. Deutschland muss seine Passivität überwinden und klare Impulse für konsequentes und effektives gemeinschaftliches Handeln zur Überwindung der multiplen Krisen setzen. Das erwarten nicht nur die EU-Partner, sondern – wie diese Studie zeigt – gerade auch die deutschen Bürgerinnen und Bürger von der Bundesregierung. Die Zurückhaltung und der Stillstand in der deutschen Europapolitik der letzten Jahre darf nicht länger auf die Wähler/innen geschoben werden.

Wie bereits die vorangegangenen globalen Krisen zeigen insbesondere die zahlreichen, noch unabsehbaren Auswirkungen der Coronakrise auf dramatische Weise:  Wir brauchen europäische Handlungsfähigkeit mehr denn je, müssen aber zugleich erheblich mehr dafür tun. Wir appellieren dringend an die Bundesregierung, gerade in diesen gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch höchst fragilen Zeiten ihrer Verantwortung für Europa und damit auch für Deutschland mit aller notwendigen Weitsicht und Entschiedenheit gerecht zu werden.“

Mit der EU-Ratspräsidentschaft zum 01. Juli 2020 steht die deutsche Europapolitik und die Frage nach Deutschlands Verantwortung in der EU verstärkt im Fokus der öffentlichen Debatte. Nicht selten ist sie von Mythen wie dem von Deutschland als «Zahlmeister Europas» geprägt, die den immensen wirtschaftlichen Nutzen und die politischen Vorteile der EU für Deutschland ignoriert und ähnlich hohe Pro-Kopf-Beiträge anderer EU-Partner außer Acht lässt. Die vorliegende Studie vergleicht im zweiten Jahr in Folge solche vermeintlichen Selbstbilder mit den tatsächlichen Einstellungen der Deutschen. In diesem Jahr wurden zudem die Prioritäten der Bürgerinnen und Bürger für die EU-Ratspräsidentschaft untersucht.

Für die Studie „Selbstverständlich europäisch!? 2020 – Der Auftrag für die EU-Ratspräsidentschaft“ hat das Meinungsforschungsinstitut Civey im Januar 2020 online 5.000 Personen befragt. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren.

Die Studie finden Sie als download hier

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