Vor 100 Jahren, am 27. April 1920, wurde der Beschluss gefasst, eine „neue Stadtgemeinde Berlin zu gründen“ (Groß-Berlin-Gesetz). Der Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin (AIV) nimmt dies zum Anlass, mit Partnern von Oktober bis Dezember dieses Jahres eine Ausstellung über die städtebauliche Entwicklung nach diesem historischen Ereignis im Kronprinzenpalais Unter den Linden zu veranstalten. Aber auch, um die Ergebnisse des Internationalen Städtebaulichen Ideenwettbewerbs für Berlin und Brandenburg 2070 zu präsentieren, der zurzeit bearbeitet und im Juli entschieden wird.

Dipl.-Ing. Tobias Nöfer, AIV-Vorsitzender: „Denn auch heute stehen wir – wie vor 100 Jahren – vor wichtigen Fragen und strukturellen Änderungen: die Frage nach der Zukunft der Mobilität, des Wohnens und Arbeitens im urbanen Raum oder nach der Zukunft von Freizeit und Sport in der Metropole – fast alle Bereiche sind einem gesellschaftlichen und damit städtebaulichen Wandel unterworfen. Wir brauchen daher eine Zukunftsperspektive, um die drängenden Probleme lösen zu können, denn sie auszusitzen, können wir uns nicht leisten. Die Zukunft kommt nicht über uns – sie wird heute von uns gestaltet.“ Dazu die aktuellen AIV-Statements:

Bauwirtschaft in der Pandemie

Viele Branchen sind durch die Krise unmittelbar beeinträchtigt – noch nicht aber die Bauwirtschaft. Noch laufen die Baustellen, aber ein Einbruch ist mit Zeitverzögerung auch hier möglich und – wenn nicht gegengesteuert wird – wahrscheinlich. Die Baubranche ist auch im neuesten Gutachten der Wirtschaftsweisen eine der wichtigsten wirtschaftlichen Säulen unseres Landes – gerade in der Krise und danach. Deshalb muss jetzt alles Notwendige getan werden, sie zu unterstützen und überflüssige Hemmnisse abzubauen.

Genehmigungspraxis jetzt umstellen

Wir unterstützen daher die in Berlin jüngst diskutierte Idee, bei den meisten Genehmigungsvorgängen auf das Verfahren der so genannten Genehmigungsfiktion umzusteigen. Das bedeutet, wenn in einer bestimmten Zeit auf einen Baugenehmigungsantrag von Seiten der Genehmigungsbehörde nicht geantwortet wird und keine Argumente gegen den Antrag vorgebracht werden, gilt dieser als genehmigt. Was bisher bei Vorhaben bis zu einer bestimmten Größe und bestimmter Art innerhalb von Bebauungsplänen gilt, muss auf Sonderbauten und Vorhaben außerhalb von Bebauungsplänen erweitert werden: die automatische Genehmigung nach vier Wochen. Außerdem müssen endlich allen am Verfahren beteiligten Ämtern verbindliche Fristen zur Bearbeitung auferlegt werden, nach deren Ablauf die Zustimmung erteilt ist. Dass zum Beispiel Stadtplanungsämter Vorgänge monate- wenn nicht jahrelang folgenlos liegenlassen, muss aufhören. Folgenlos deshalb, weil jeder weiß, dass eine Untätigkeitsklage beim Verwaltungsgericht viele Jahre dauert und deshalb außer Ärger nichts bringt. Recht haben und Recht bekommen klaffen hier skandalös weit auseinander.

Bauämter in Corona-Zeiten

In der vergangenen Woche hat der Berliner Senat das Gegenteil von Beschleunigung beschlossen: die Berliner Bauordnung wurde so geändert, dass bisherige Fristen in der Pandemie „angemessen verlängert“ werden. So soll verhindert werden, dass Genehmigungen wegen derzeit für unvermeidbar gehaltener Fristüberschreitungen anfechtbar werden. Diese Regelung ist kontraproduktiv, denn Ämter werden dazu verleitet, wieder in unendliche Bearbeitungszeiten zurückzufallen, mit denen man mit Reformen schon so oft aufräumen wollte. Die Genehmigungsfiktion bei Fristablauf könnte die Genehmigungsbehörden dazu veranlassen mehr Personal einzustellen und Vorgänge zu straffen.

Amtspersonen an die Schreibtische

Die Beamten, besonders diejenigen, die in Einzelbüros sitzen, in Corona-Zeiten nach Hause zu schicken, ist für Antragsteller und Steuerzahler nicht nachvollziehbar. Alle, die isoliert arbeiten können, müssen jetzt arbeiten. Es muss alles unternommen werden, damit es gerade aktuell nicht zu einem Stillstand bei den Genehmigungsverfahren kommt. Um die Bauwirtschaft am Leben zu erhalten brauchen wir Baugenehmigungen und schnellere Bebauungsplanverfahren. 

Außerdem sind Mitarbeiter der Verwaltungen in der derzeitigen Krise meist nicht in der Lage, im Homeoffice tätig zu sein, da sie technisch nicht entsprechend ausgerüstet sind – und daher zurzeit gar nicht arbeiten. Hier muss die Digitalisierungsoffensive intensiviert, vielfach aber auch erst noch gestartet werden, damit die gesamte Arbeitsweise der Ämter erfasst und damit auch beschleunigt wird. So wäre es wesentlich effizienter, Beratungen für Bauvorhaben von speziellen Beratungsbeamten durchführen zu lassen, die Bauherren und Architekten über den Bildschirm planungs- und baurechtliche Fragen zu Grundstücken erörtern – gerne gegen Gebühr!

Nicht nur Verfahren, sondern auch Vorschriften und Gesetze ändern

Um Genehmigungsverfahren qualifizierter und schneller abarbeiten zu können, sollten wir uns auch über Gesetzesänderungen Gedanken machen. Die Bauordnung der Länder und die Planungsgesetzgebung des Bundes müssen auf Möglichkeiten durchforstet werden, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen. Die Einführung des „urbanen Gebietes“ in die Baunutzungsverordnung 2017 war schon ein wichtiger, wenn auch kleiner Schritt in die richtige Richtung – denn sie erlaubt in urbanen Zusammenhängen ein besseres Miteinander von Wohnen und Gewerbe und eine höhere Dichte, wodurch die vorhandene Infrastruktur intensiver genutzt wird. Nun muss aber über vieles andere nachgedacht werden, wie z.B. die Änderung der Gebäudeklassen, um mehr Bauvorhaben genehmigungsfrei oder mit schnelleren Verfahren errichten zu dürfen. Oder die Einführung von „Prüfarchitekten“, die – wie heute schon Prüfstatiker oder Brandschutz-Prüfer – in hoheitlichem Auftrag Bauanträge prüfen und deren Genehmigung vorbereiten. Man kann auch darüber nachdenken, ob der Gesetzgeber den Bauherren mehr Eigenverantwortung zutraut, indem vorhabenbezogene Bebauungspläne im Genehmigungsverfahren vereinfacht werden und Bürgerbeteiligung nicht ausufert

Zentrales Bauamt einführen

Die Effizienzoffensive sollte nicht vor grundsätzlichen strukturellen Änderungen zurückschrecken. So sollte über die Einrichtung eines zentralen Berliner Bau- und Stadtplanungsamtes nachgedacht werden. Die Bezirksämter arbeiten nach wie vor nach dem Bezirksfürsten-Prinzip. Von Bezirk zu Bezirk ist man mit unterschiedlichen Auslegungen der Gesetze und Verordnungen konfrontiert. Genehmigungsverfahren, speziell die Entwicklungsvorhaben, werden oft nach dem Parteienproporz entschieden. Das Kompetenzgerangel zwischen Bezirk und Senat tut das Übrige. Die Bezirke sollten daher ihre Kompetenzen bündeln und eine zentrale Beratungs- und Service-Einrichtung schaffen, die die Entscheidungen über Planungsvorgänge herbeiführt.

Stadtfeindlichkeit im Namen der Hygiene ist von gestern

Kaum wird in Zeiten der Corona-Krise aus Gründen der Hygiene Mindestdistanz zwischen den Menschen empfohlen, wird dies auf die Städtebaudebatte übertragen und ein alter Streit schwelt wieder auf. So wird beispielsweise an die Zeit der Moderne vor 100 Jahren erinnert, in der auch wegen der Hygiene ein Umbau der Städte in weit voneinander entfernt stehende Einzelbauten begann. Oder es werden Empfehlungen wie „weitläufige Stadtlandschaften zu gestalten“ ausgesprochen – was nach allem, was uns heute an Entwicklungs-Sackgassen beschäftigt, wie der überbordende Verkehr oder der jahrzehntelang mit Füßen getretene Klima-, Umwelt- und Landschaftsschutz, gefährlicher Wahnsinn wäre, denn es würde zu weiteren Zersiedelungen und Flächenverbrauch führen. Nach dem 2. Weltkrieg wurde diese Doktrin in vielen Städten der Welt – so auch in Berlin – so gründlich umgesetzt, dass wir über die Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg von einer Epoche der „zweiten Stadtzerstörung“ sprechen müssen. Heute stehen wir vor dem nächsten Stadtumbau: hin zur urbanen, dichten und trotzdem durchgrünten, biodiversen, energiesparenden und damit fußgängerfreundlichen Stadt, in der der individuelle Autoverkehr auf menschliche Geschwindigkeiten zurückgefahren wird. Denn: Auch der Zugverkehr hin zu den „weitläufigen Stadtlandschaften“ frisst Energie.

„Wenn die Corona-Krise etwas Gutes hat, dann, dass wir sehen, wie enorm flexibel und kreativ wir als Gesellschaft sind. Wir sollten die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen aus der Corona-Krise nutzen, neu zu denken. Wenn wir eine effiziente Bautätigkeit in Berlin haben wollen, dann müssen zuerst die Verfahren auf den Prüfstein und direkt danach die Gesetzgebung“, so Nöfer in seinem Fazit.

Über den Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg e.V.

Der AIV hat das Ziel, die Berliner Baukultur zu fördern. Seine wichtigste Aufgabe sieht der traditionsreiche und zweitälteste Verein Berlins somit darin, Stellung zu aktuellen Planungsvorgängen zu beziehen. Er nimmt damit maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklungen in wichtigen städtischen Bereichen der Hauptstadt. Der AIV analysiert und kommentiert Etappen und Projekte; er stellt Diskussionsansätze für die zukünftige Stadtentwicklung vor und ist somit ein wichtiger und kritischer Begleiter der Bau- und Kulturgeschichte Berlins. www.aiv-berlin.de.

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