Bis dahin war der Weg aber alles andere als einfach. „Als Alparslan mit vier Monaten nicht mehr strampeln wollte, ahnten wir das Schlimmste“, erinnert sich Fatma Alkurt, die Mutter des Jungen. Die Familie aus Nordrhein-Westfalen kennt sich gut mit den Symptomen der SMA aus, das erste Kind war bereits von der Erkrankung betroffen. „Nach der Diagnose wurde Alparslan sofort mit den gängigen Therapien behandelt, aber als wir von den langfristigen Erfolgen von Zolgensma in den USA hörten, haben wir alles daran gesetzt, damit unser Sohn die Gentherapie bekommt.“
Zolgensma wurde von der Novartis-Tochter AveXis entwickelt, die sich seit der Gründung im Jahr 2010 auf Gentherapien spezialisiert hat. Das Medikament verspricht den Muskelschwund bei SMA aufzuhalten, indem es eine funktionsfähige Variante des Gens SMN1 in die Körperzellen einschleust. Dazu wird das Gen in eine spezialisierte Genfähre verpackt, einen adenoviralen Vektor. In der Zelle angelangt, bindet der Vektor an den Zellkern und entpackt dort das therapeutische Gen, welches auf komplexe molekularbiologische Weise in die kindliche DNA eingebaut wird. Der Defekt wird so endgültig repariert.
„Studien in den USA zufolge haben Kinder, die mit Zolgensma behandelt wurden, enorme Entwicklungssprünge gemacht: Ein Großteil der Kinder konnte die Kopfkontrolle wieder erlangen, einige schafften es sogar selbständig zum Sitzen. Das Wichtigste aber ist, dass alle Kinder 24 Monate nach der Behandlung noch am Leben waren“, erläutert Prof. Dr. Bernd Wilken, Chefarzt der Klinik für Neuropädiatrie mit Sozialpädiatrischem Zentrum und Früh-Rehabilitation am Klinikum Kassel. Gemeinsam mit seinem interdisziplinären Team ist er für die gentherapeutische Behandlung von Alparslan verantwortlich. „Seit dem letzten Jahr ist Zolgensma in den USA zugelassen. Ende März hat glücklicherweise auch die europäische Arzneimittelbehörde EMA eine Zulassung in Europa empfohlen. In der Regel folgt die EU-Kommission diesem Vorschlag. Wir erwarten, dass das Medikament in den nächsten Wochen auch bei uns auf dem Markt ist.“
So lange können viele Kinder aber nicht warten, denn die Krankheit schreitet oft sehr schnell voran. Dazu kommt, dass Zolgensma mit einem Preis von ca. zwei Millionen US-Dollar zurzeit das teuerste Medikament der Welt ist. Für die Eltern bedeutet das langwierige Verfahren bei den Krankenkassen, damit diese einen vorzeitigen Start der Therapie genehmigen. Nicht selten muss die Finanzierung vor Gericht erstritten werden. So hat es auch die Familie Alkurt erlebt. „Ende Februar haben wir dann vom Härtefallprogramm der Firma Novartis erfahren. Damit wir sicher sein konnten, dass wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, haben wir uns gemeinsam mit Frau Dr. Schreiber für eine Bewerbung zur Aufnahme in das Härtefallprogramm entschieden“, so Alparslans Vater Yalcin Alkurt.
„Die Bedingungen für eine Aufnahme sind sehr genau geregelt“, erklärt Dr. Gudrun Schreiber, Leiterin des Muskelzentrums am Sozialpädiatrischen Zentrum des Klinikum Kassel. „Um die Behandlung überhaupt durchführen zu können, muss das Krankenhaus als SMA-Zentrum zertifiziert sein. Am Klinikum Kassel behandeln wir im Rahmen unseres Muskelzentrums viele komplexe neuro-muskuläre Erkrankungen. Mittlerweile reicht unsere Fachkompetenz weit über Hessen hinaus – das kam uns in diesem Fall natürlich zugute“. Aber auch bei den erkrankten Kindern gibt es strikte Vorgaben, wer für das Härtefallprogramm infrage kommt und wer nicht. „Es werden nur Kinder unter zwei Jahren mit dem SMA-Typ I zugelassen. Das sind Kinder, deren Symptome kurz nach der Geburt beginnen und die eine sehr geringe Lebenserwartung haben. Darüber hinaus müssen sie bereits einige Zeit mit Spinraza behandelt worden sein“, so Dr. Schreiber. Das Medikament wird aktuell bei SMA eingesetzt und soll den Muskelschwund verlangsamen, im besten Fall stoppen.
Mit diesen Rahmenbedingungen wird der Kreis möglicher Kinder für das Härtefallprogramm sehr klein – und für die Familie Alkurt ging plötzlich alles ganz schnell. „Frau Dr. Schreiber hat uns Ende April angerufen und mitgeteilt, dass Alparslan die Behandlung bekommt – was da an Gefühlen durcheinander wirbelt ist unbeschreiblich“, sagt Fatma Alkurt. Ein paar Tage später kommt das Medikament aus den USA: Eine winzige Ampulle eingepackt in 20 Kilogramm Trockeneis. Die Aufregung ist nicht nur bei der Familie Alkurt groß. In der hauseigenen Apotheke wird das Medikament in die Ampulle aufgezogen und ganz langsam auf die Station F81 getragen. Jetzt soll nichts mehr schiefgehen. Das Team um Prof. Dr. Wilken wartet bereits bei Alparslan im Krankenzimmer. „Die Therapie ist aufsehenerregend, aber die Behandlung an sich läuft eigentlich ganz unspektakulär ab“, erläutert Dr. Katharina Diepold, Oberärztin an der Klinik für Neuropädiatrie. „Alparslan bekommt eine Infusion wie so viele Kinder jeden Tag auch. Nur dass in dieser Flüssigkeit kleinste Bausteine enthalten sind, die seine DNA reparieren. Da ist man dann doch ganz schön ehrfürchtig.“
Eine Stunde später sind 50 ml der Infusion durchgelaufen. Jetzt heißt es erst einmal warten, ob eventuell Nebenwirkungen auftreten. Aber Alparslan verträgt die Therapie gut, die Familie kann ein paar Tage später nach Hause entlassen werden. „Bis wir erste Resultate der Therapie erkennen, wird das noch ein paar Monate dauern“, resümiert Prof. Wilken. „Aber wir sind aufgrund der positiven Studien ganz zuversichtlich. Damit Alparslan sich gut entwickeln kann wird er mit seiner Familie auf jeden Fall über die nächsten fünf Jahre engmaschig von uns betreut.“
Alparslans Eltern sind der Klinik für Neuropädiatrie mit Sozialpädiatrischem Zentrum und Früh-Rehabilitation schon heute dankbar: „Die Betreuung war unbeschreiblich. Wir haben uns bei jedem Schritt gut beraten und versorgt gefühlt. Jetzt hoffen wir sehr, dass die Therapie gut anschlägt und wir Alparslan noch lange bei uns haben.“
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