Die Ukraine ist eines von 29 Renovabis-Partnerländern im ehemaligen kommunistischen Machtbereich. Das Land leidet auch heute noch an den Folgen gewaltbelasteter Vergangenheit und wirtschaftlicher Fehlentwicklungen. Sie wirken sich negativ auf das friedliche politische, gesellschaftliche und kirchliche Miteinander aus, wobei der Krieg im Osten des Landes vieles derzeit noch verschlimmert.

Eine gesellschaftliche Momentaufnahme von Markus Nowak

In einer Ecke rattern die Nähmaschinen, in der anderen zischt der Dampf der Bügeleisen, als Natalia Mezentseva die Tür zur Schneiderei öffnet. Acht Arbeitsplätze für Näherinnen stehen hier bereit. Die 52-Jährige durchquert den Raum und öffnet auf der anderen Seite eine weitere Tür. Hier liegt ein Duft nach Suppe und Kartoffeln in der Luft, zuweilen vermischt mit einem anderen, strengen Geruch. Natalia Mezentseva kommt an den Tisch, um den sich ein halbes Dutzend Männer gesetzt haben, und sagt „pryjemnoho apetytu“. Das ist Ukrainisch für „Guten Appetit“. Und sie wiederholt es auf Russisch „prijatnogo appetita“. Sie wechselt kurz ein paar Worte mit den Männern, dann steigt sie in ihr Auto. Auf einer zweispurigen Straße fährt sie mitten durch Nikopol.

Die Stadt liegt im Süden der Ukraine, am Kachowkaer Stausee, der vom Dnepr gespeist wird. Zu Sowjetzeiten lebten hier bis zu 200.000 Menschen, die Stadt florierte durch ihr Manganvorkommen. Heute sind es offiziellen Statistiken zufolge 120.000 Einwohner. Natalia Mezentseva sagt, es seien gar weniger als 90.000. Das Auto rumpelt, die Straße hat viele Schlaglöcher. Es geht in den Norden, in den Stadtteil Severny. Unterwegs erzählt die 52-Jährige ihre Geschichte – keine einfache. Fast 20 Jahre lang war sie alkohol- und drogenabhängig. „Ich war fast vollständig zerstört“, sagt sie. Ihr Mann starb an Tuberkulose, der damals noch kleine Sohn wurde ihr vom ukrainischen Jugendamt weggenommen, sie selbst landete im Gefängnis. Die Drogen machten sie krank, ihr linker Arm wurde amputiert.

Frieden beginnt ganz unten

Aus dem Glauben heraus kriegte sie die Kurve, wie sie sagt. Sie engagierte sich in Sozialprojekten, um anderen Abhängigen aus ihrer Krankheit zu helfen. Vor knapp zehn Jahren gründete sie mit Freunden und Kollegen „Nove zhyttja“ – „Neues Leben“: Eine kleine Sozialorganisation in einer alten Baracke auf dem Bahnhofsgelände. Hier gibt es die Schneiderei, in der sich arbeitslose Frauen zur Näherin um- oder weiterbilden lassen können. In die Suppenküche kommen täglich vor allem obdachlose Männer. In einem Spiel- und Klassenzimmer bieten Ehrenamtliche Kurse für Kinder aus sozial schwachen Familien an.

„Solidarität mit den Menschen“

In einem Wohngebiet am Rande von Nikopol kommt das Auto zu stehen, Natalia zeigt ein weiteres Projekt von „Neues Leben“: Ein einfacher, mit grünen Latten bedeckter Bungalow, in den drei Räumen reihen sich die Betten einander. Hier wohnen bis zu acht Mütter mit ihren Kindern. „Gekauft haben wir das Haus 2012, seitdem bietet es für Frauen in Krisensituationen einen Schutzraum“, erzählt Natalia Mezentseva. Ein Frauenhaus würde man in Deutschland sagen. Bewohnt wird es zurzeit von fünf Müttern, darunter Tatyana Yorzh. Sie ist seit 2015 hier. „Ich war damals im achten Monat schwanger, mein Freund kam ins Gefängnis und unser Haus ist niedergebrannt. Natascha hat mich dann aufgenommen“, sagt die heute 35-Jährige unter Tränen. „Ich muss noch erwähnen, dass ich alkoholabhängig war.“

Hier im Frauenhaus von „Neues Leben“ hat sie ihren Sohn Pasha zur Welt gebracht, hier fand sie einen Weg aus der Abhängigkeit, hier begann sie, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen, sagt die junge Mutter. „Man glaubte an mich.“ Chancen ermöglichen – darin sieht Natalia Mezentseva die Aufgabe der kleinen Sozialeinrichtung „Neues Leben“. In der Ukraine herrsche zwar im Osten ein bewaffneter Konflikt, aber hier im Zentrum des Landes gehe es darum, eine Zivilgesellschaft aufzubauen. Daher nahm sie auch einem Projekt teil, das vom katholischen Hilfswerk Renovabis unterstützten wird. Das Projekt heißt „Dialog in Aktion“ und versucht, die zivilgesellschaftlichen Strukturen zu stärken. „Das ist die beste Vorbereitung für den Frieden“, ist sich Natalia Mezentseva sicher.

Den Frieden im Osten der Ukraine herstellen können die Kirchen wohl kaum, sagt Myroslaw Frankovych Marynowytsch, rund 1000 Kilometer weiter im Nordwesten. Der heute 71-Jährige ist eine Galionsfigur des antisowjetischen Widerstands zu Sowjetzeiten. Ende der 1970er Jahre wurde er von den Moskauer Machthabern für seinen Einsatz für die Menschenrechte zu sieben Jahren Zwangsarbeit und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Nach der Unabhängigkeit begründete er die heutige Katholische Universität im westukrainischen Lemberg mit. Marynowytsch sieht die Rolle der Kirchen in der „Solidarität mit den Menschen, die das alles auf eine andere Dimension stellt.“ Und fügt hinzu: „Die des Evangeliums.“ Er lobt die Maßnahmen, die insbesondere die katholische Kirche gleich nach dem Beginn des Konflikts 2014 einleitete, etwa die Lieferung von Hilfsgütern an kriegsgeplagte Familien oder die Aufnahme von Flüchtlingen. „Wir können über den Krieg und theoretische Friedenspläne diskutieren“, sagt Marynowytsch. „Aber wenn die Menschen unter Beschuss sind und schnelle Hilfe benötigen, dann ist das am wichtigsten.“

Humanitäre Hilfe für die Menschen im Kriegsgebiet

Ein Großteil der humanitären Hilfe erreichte die Bewohner der Konfliktregion in der Ostukraine über Kramatorsk, nur wenige Kilometer von der Pufferzone entfernt. In der Nähe vom Zentralplatz, wo noch bis zu den Maidan-Protesten 2014 prominent eine Leninstatue stand, befindet sich die lokale Caritas. Ihr Direktor ist Vasili Ivaniuk. Der 52jährige griechisch-katholische Priester unterstreicht die Bedeutung von Caritas: „Barmherzigkeit. Danach arbeiten wir“. Die Industriestadt Kramatorsk mit ihren 160.000 Einwohnern war selbst Schauplatz von Gefechten und zwischenzeitlich, im Frühjahr 2014, in der Gewalt von prorussischen Separatisten. Mittlerweile wurde Kramatorsk zum Verwaltungszentrum für den ukrainisch kontrollierten Teil des Oblast Donezk erklärt. Große Armeeeinheiten der Ukrainer sind hier stationiert.

„Wenn sie aufhören zu schießen, dann wäre das ein Schritt in Richtung Frieden“, sagt Ivaniuk mit Blick auf die Kämpfe, die auch trotz internationaler Friedensbemühungen immer wieder aufflammen. Fast täglich fährt ein Team von Caritas-Mitarbeitern raus in die Pufferzone, wo immer wieder Schüsse fallen. Lebensmittel, Medikamente und auch mal Brennholz werden dann verteilt. Humanitäre Hilfe, seit sechs Jahren. Doch mittlerweile sind auch „Peacebuilding“- Teams darunter. Peacebuildung – zu Deutsch Friedensaufbau. Diese Gruppen bestehen aus Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern. Jekaterina-Ivanova Rashanskaja ist Psychologin und fährt zwei bis drei Mal pro Woche in die Kontaktzone. Wegen der Armee-Checkpoints und der beschädigten Straße dauert die Fahrt rund eineinhalb Stunden, obwohl es zu ihrem „Arbeitsplatz“ keine 50 Kilometer sind.

„Die Menschen leiden psychisch besonders unter dem Krieg, auch wenn sie sich an die Schüsse gewöhnt haben“, sagt die 41-Jährige. „Für manche sind sie so alltäglich, dass sie ihren Sinn für Selbstverteidigung verloren haben und sich nicht mehr in Sicherheit bringen wollen.“ Besonders für die zahlreichen Kinder, die noch immer in der Pufferzone leben, sei der Krieg wie ein großes Trauma. Die Psychologin führt Gespräche mit ihnen und organisiert verschiedene Antistress-Trainings. „Es ist wichtig, dass wir jetzt schon mit den Menschen arbeiten. Das hilft ihnen, sich später zurecht zu finden“, sagt sie – später, wenn es Frieden gibt. „Ich hoffe, dass es bald diesen Frieden gibt.“

Auf Frieden hofft auch Schwester Symeona. Die griechisch-orthodoxe Ordensfrau arbeitet als Militär- und Krankenhausseelsorgerin im Krankenhaus in einem Militärdorf der ukrainischen Armee, eine halbe Autostunde von Dnipro entfernt. Hierher werden ukrainische Soldaten eingeliefert, wenn sie verwundet wurden. Schwester Symeona leistet psychologische Hilfe, denn die meisten Soldaten erlebten ein Trauma. „Diese unsichtbaren Wunden sind manchmal schwerwiegender als sichtbare“, sagt die Ordensfrau. „Es gibt da oft keine Tabletten, die helfen.“ Als ausgebildete Psychologin bietet sie Gespräche, Meditationen und gemeinsame Gebete mit den Verwundeten an. Die Gewalt, die die Soldaten in dem Konflikt erlebten, könnten sie nicht einfach vergessen, „ich versuche, ihnen beizubringen, wie man damit richtig lebt“, sagt die Ordensschwester. Sie sieht ihre Arbeit als Teil eines Friedensprozesses an. „Frieden kommt nicht von ungefähr und braucht Verständnis, Vergebung und die Bitte um Vergebung“, sagt die Ordensschwester. „Es ist wie eine neue Seite in einem Buch. Und sie muss handgeschrieben werden von uns allen.“

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