Zu den ganz großen historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts gehört die Kubanische Revolution, der erste Schritt des Sozialismus auf amerikanischem Boden. Und auch wenn sich heute vieles anders darstellt als damals, ist es gut, sich noch einmal an die Anfänge der Kämpfe und Siege von Fidel Castro und seiner Genossen zu erinnern, an die „Republik der Leidenschaft“ – und das ist auch der Titel des zweiten der insgesamt fünf Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 07.08.20 – Freitag, 14.08.20) zu haben sind. Herbert Otto hat diese leidenschaftlichen Zeiten damals hautnah miterlebt und darüber geschrieben und auch viele Bilder aus Kuba mitgebracht. Sein Buch „Republik der Leidenschaft“ ist mehr als nur eine historische Erinnerung. Es ist eine nachträgliche Ermutigung der damaligen Hoffnungen. Und vielleicht auch ein Blick in die Zukunft.

In dem Kriminalroman „Hass“ von Klaus Möckel wird Leutnant Kielstein zunächst auf eine falsche Fährte geführt – von der Frau, die gerade eben einen fast tödlichen Anschlag überstanden hat.

In „Wolkenberge tragen nicht“ von Dorothea Iser träumt ein junges Mädchen von einem neuen Leben. Allerdings hat Simone Dieskau kein leichtes Schicksal und mit nicht wenigen Hindernissen zu kämpfen. Ihre Träume aber will sie dennoch nicht aufgeben.

In „Al-Taghalub. Gesetz der Bärtigen“ setzt sich Wolfgang Held mit den schwierigen Verhältnissen im Nahen und Mittleren Osten nach dem sogenannten Sechstagekrieg von 1967 auseinander.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. In dem heutigen Sonderangebot blicken wir zurück in die Zeit des kalten Krieges, als sich die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Weltsystemen mehr und mehr verschärften. Die handelnden Personen des heute vorgestellten Buches geraten mitten hinein in diese gefährlichen Auseinandersetzungen. Und es ist sicher nicht ganz falsch, gewisse Parallelen zu heutigen Auseinandersetzungen zwischen der NATO und den USA auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite zu ziehen.

Erstmals bereits 1956 veröffentlichte Wolfgang Schreyer im Verlag Das Neue Berlin „Der Traum des Hauptmann Loy“: Nach einem NATO-Manöver bringt ein amerikanisches Militärflugzeug sechs Personen von Tripolis nach Oslo. An Bord befindet sich unter anderem der englische Hauptmann Loy. Während des Fluges freundet er sich mit Corporal Doris Graves von der United States Air Force an. Der Pilot erhält den Befehl, in Frankfurt am Main zwischenzulanden, um den lettischen Emigranten Baron Studnitz-Sternberg aufzunehmen, der später über einer sowjetischen Insel mit dem Fallschirm abspringen und eine Agentengruppe leiten soll. Als die übrigen Passagiere dies erfahren, kommt es zum Streit und sogar zu einem Schusswechsel, bei dem Doris Graves getroffen wird. Sowjetische Jäger zwingen das Flugzeug zur Notlandung. Loy wird von einem Schnellboot gerettet. Im sowjetischen Lazarett entschließt er sich, den Vorfall wahrheitsgemäß zu schildern – auch die Schüsse auf Doris. Das spannende Buch wurde 1961 von der DEFA in der Regie von Kurt Maetzig verfilmt, der auch das Drehbuch schrieb. Zu den Darstellern gehörten hochkarätige und damals sehr bekannte Schauspieler wie Horst Drinda in der Hauptrolle des Hauptmann Loy sowie Christine Laszar, Ulrich Thein, Jana Brechjová, Ekkehard Schall, Günther Simon, Fred Düren, Stefan Lisewski und Herbert Köfer. Aber zurück zu der literarischen Vorlage. Im folgenden Ausschnitt erleben wir Hauptman Loy beim Beobachten der anderen Fluggäste:

„Hauptmann Loy lehnte im ovalen Eingangsloch oberhalb der fahrbaren Treppe, er beobachtete die Ankunft der wenigen Passagiere. Sie trafen fast gleichzeitig in zwei Taxis ein; das letzte Stück Weges von der Stacheldrahtlinie des Luftwaffensektors bis zur Maschine legten sie notgedrungen zu Fuß zurück. Loy, der kurz vor seiner Versetzung nach Oslo an einem militärpsychologischen Lehrgang unter Oberst Grant-Javelin teilgenommen hatte, studierte halb absichtslos und mehr zum Zeitvertreib ihre Art zu gehen; er versuchte, gewisse Schlüsse zu ziehen.

Allen voran schritt Oliver D. Macauley – ruhig, raumfüllend, pendelnd. Zu seinem federleichten hellen Panamahut trug er einen sandfarbenen Seidenanzug, in dem er korpulent wirkte, ohne es im Geringsten zu sein. Er trat kräftig auf, unbesorgt darum, ob der Boden die Last seiner hohen Gestalt auch wirklich trug; Loy stellte sich vor, dass er auf dieselbe Art das schwankende Eis eines Flusses überquert hätte. Sein Jackett schien falsch geknöpft, der dottergelbe Binder flatterte im Wind, aus der Hosentasche lugte ein Zipfel des Schnupftuches. Den Lehrsätzen des Obersts Grant-Javelin zufolge fiel er in die Kategorie der ‚Triebhaft-Unbekümmerten, die instinktsicher drauflosleben’… Der Hauptmann traute diesen schlichten Erkenntnissen im Grunde zwar nicht recht, neigte aber dazu, sie als Faustregeln zu betrachten, die ein rasches und oft einigermaßen treffendes Urteil ermöglichten. Beim Militär kam es nun einmal hauptsächlich auf schnelles Einschätzen an.

Macauleys Begleiter, der in untadeliges Grau gekleidete Dr. Spencer, bot dazu einen fesselnden Gegensatz; er ging wippend, elastisch, mit rudernden Armen und auffallend kurzschrittig, was Nervosität, Empfindsamkeit oder Scheu bedeutete. Loy fiel der Merksatz ein: ‚Kurzschrittigkeit, sofern sie nicht physisch erklärbar ist, gestattet schnellen Richtungswechsel; ein Vorsichtig-Berechnender hält sich damit die Entscheidung, wohin er sich wenden will, lange offen.‘ Daraus folgte, dass Macauleys Privatsekretär zum Schlage der ‚Vorsichtig-Berechnenden‘ gehörte. Loy beobachtete auch, wie Spencer die Fußspitzen übertrieben nach außen setzte; doch mochte dies eher auf körperliche Gebrechen, beispielsweise ein Senkfußleiden, zurückzuführen sein, war in diesem Falle anatomisch bedingt und sagte nichts über die charakterliche Beschaffenheit der Prüfperson aus. Manchmal beeinflusste sogar das Schuhwerk den Gang, besonders bei Frauen; dann galt es, Acht zu geben und den Erkenntniswert der Methode nicht zu überschätzen.

Auf die beiden Herren folgte Patricia Binchy in einem olivgrünen Kostüm, das sich dort, wo es vorteilhaft erschien, eng an den verführerischen Leib schmiegte. Sie sah frisch, jung und ganz reizend aus. Der Hauptmann starrte auf ihre Füße, die in olivgrünen Pumps mit weißen Einsätzen steckten; er versuchte, die Analyse fortzuführen, doch seine innere Sammlung war dahin. Patricia erregte ihn. Sie lief ihrer Freundin ein paar Schritte voraus, als könnte sie es kaum erwarten, das Flugzeug zu besteigen; flüchtig erinnerte er sich an sein Gespräch mit Eddie Sharp. (‚Ich finde, sie hat es furchtbar eilig, zum Film zu kommen.‘ – ‚Besonders, wenn man bedenkt, dass ihre erste Rolle… auf dem Fußboden des Schneideraums enden wird.‘) Er half ihr, das Handgepäck hinaufzureichen, sie tat ihm ein wenig leid. Der Gedanke an die Hollywood-Leute, die nicht zögern würden, Patricia zu blenden, zu erniedrigen, zu verderben, falls sie nicht sehr standhaft blieb, weckte in ihm etwas wie Bitterkeit und leises Bedauern. So war das Leben, zweifellos… und doch, so sollte es nicht sein.

Als letzte erklomm Doris Graves die Treppe, ein stilles blondes Geschöpf von schwer beschreiblicher Anmut. Dem Hauptmann stockte der Atem, als sie an ihm vorüberschritt. Wie schon am vergangenen Abend im BOAC-Hotel faszinierte ihn die Verträumtheit, die sanfte Melancholie, die auf ihrem Antlitz lag. Sie war ganz anders als die Frauen, die er bisher gekannt; er wünschte sehnlich, das Geheimnis der großen Ruhe, des verhaltenen Schweigens, der Gelassenheit zu ergründen, die aus all ihren Gesten sprach. Auf völlig neue Art zog sie ihn an, beschäftigte sie seine Phantasie, ohne ihn in der gewohnten Weise zu beunruhigen. Dieses Mädchen war ihm ein Rätsel, und er verstand ausgezeichnet, dass die einfachen Faustregeln der Militärpsychologie kaum ausreichen würden, es zu lösen. Ein glücklicher Zufall erlaubte es ihm, sechs Stunden gemeinsam mit ihr in einer Flugkabine zu verbringen, ehe ihre Wege für alle Zeiten auseinander gingen. Diese Spanne wollte er nutzen.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1961 erschien im Verlag Volks und Welt Berlin „Republik der Leidenschaft“ von Herbert Otto – mit 97 Fotos des Autors: Herbert Otto hat Fidel Castro und einige der Helden der ersten Stunde kennengelernt, als er die Republik der Leidenschaft, den ersten sozialistischen Staat Amerikas, besuchte. Ein Vierteljahr lang ist er im regierungseigenen Cadillac, im Jeep, im Hubschrauber, auf Mauleseln und dem Pferd kreuz und quer durch Kuba gereist. Er war auf Baracoa, wo Columbus gelandet ist; er hat im Fort Moncada gestanden, wo am 26. Juli 1953 die ersten Kämpfe der Revolution begannen; er war in den Bergen der Escambray, und er hat in Playa Giron mit den Arbeitern gesprochen, die dort Wohnungen und Sanatorien bauten und später, im April 1961, als Erste die Angriffe der amerikanischen Invasoren abwehrten. Hier erste Eindrücke aus der Hauptstadt Havanna:

PARADIES DER SÜßEN LASTER

Der Spanier Diego Yclázquez gründete La Habana an der Südküste Kubas, etwa dort, wo sich heute das Städtchen Batabanó befindet. Das war 1515. Aber schon fünf Jahre später „verlegte“ man Havanna an die Nordküste der Insel, wo die Natur längst ein musterhaftes Hafenbecken vorbereitet hatte.

Dort wuchs die Stadt und wurde gut befestigt, weil sie mehrmals von Seeräubern heimgesucht und von den Engländern sogar für ein Jahr erobert worden war. Der Hafen wurde Sammelplatz jener berühmten Gallionen der spanischen Kriegsflotte, die die geraubten Gold- und Silberschätze Amerikas nach Spanien transportierten. Havanna, der Ort, wo Kolumbus begraben lag, zählte bald zu den bedeutendsten Tabak- und Kaffeehäfen der Welt und war ein blühender Sklavenmarkt.

Während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wächst es zur modernen Millionenstadt heran und wird ein Tummelplatz der Dollarkönige. Seeleute und schlechte Filme sprechen von Havanna als dem Paradies der süßen Laster. Hotelgiganten und Spielkasinos, Mädchenhandel und Korruption. Kinder gehen barfuß und betteln. Was im dreißigstöckigen Habana-Hilton-Hotel ein Appartement die Nacht kostet, davon muss die Familie des Landarbeiters am Rande der Stadt drei Monate existieren. Mit acht oder zehn Personen.

Und doch geht Havanna durch Millionen naiver Träume, geträumt überall im Lande in engen Hütten aus Palmblättern, auf hartem Lager, nach einer Mahlzeit, die den Hunger nicht gestillt hat. Havanna ist ein Meer von Licht; man hat es auf Bildern gesehen. Dort gibt es große Häuser voller Schuhe und Kleider, und Leute essen sich satt. Und auch Hoffnung ist in den Träumen, denn man hört, dass aus dem Verborgenen gegen die Tyrannei gekämpft wird. Lange bleibt Havanna die märchenferne Hauptstadt, ein Traum.

Die Fremden und die Reichen des eigenen Landes haben sie eingerichtet nach ihrem Geschmack, und sie fühlen sich dort wohl. Sie haben ihre Paläste ans Meer setzen lassen. Alle Reichtümer, die sie dem Lande und seinen Menschen abjagen, sind hier in Havanna zusammengetragen. Sogar den Strand haben die Herrschaften zu ihrem Eigentum erklärt; sie haben Zäune aufgestellt:. Überall steht Militär bereit. Sie wollen die Stadt nicht hergeben. Ihr letzter Mann hieß Batista. Er hatte sich zum General ernannt und zum Staatsoberhaupt. Sein Blutregime kostete zwanzigtausend Kubanern das Leben. Er floh in den Morgenstunden des 1. Januar 1959 vor der siegreichen Armee der Bauern und Arbeiter Kubas, als das Volk der Zuckerinsel auch seine Hauptstadt in Besitz zu nehmen begann.

Seitdem sind erst zwei Jahre vergangen. Tür an Tür mit dem Heute wohnt noch das Gestrige. Man ist schon dabei, die Sümpfe trockenzulegen, aber die Sumpfblumen wuchern noch.

Die Laster der Jahrzehnte sterben nicht über Nacht.

RAFAEL MIT DEM HUT

Er hatte mich auf dem Prado angesprochen, jener breiten Prachtallee in der Altstadt von Havanna, wo noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, da Alexander von Humboldt durch Kuba reiste, die Baracken des Sklavenmarktes gestanden haben.

Zunächst hatte ich nicht auf das Reden des Mannes reagiert, aber er blieb hartnäckig. Er sprach notdürftig Englisch und hatte Ware anzubieten. Menschenware. Er trug einen Strohhut. Keines der Mädchen sei älter als zwanzig Jahre, versicherte der Mann. Die Jüngste sei fünfzehn.

„Aber das interessiert mich nicht“, sage ich.

„Es ist nicht weit“, versetzt der Mann. „Zwei Blocks von hier!“

Er folgt mir und schwatzt unaufhörlich. Jede Stadt habe ihre Sehenswürdigkeiten. Wer in Havanna sei, ohne die Girls kennenzulernen, der lerne überhaupt nichts kennen von dieser Stadt.

Es sind enge Straßen, durch die ich gehe. Kaffeestände und Restaurants, Bars und Filmtheater. An den Ecken kann man Schmalzgebäck kaufen und geröstete Erdnusskerne. Männer mit großen fünfstelligen Zahlen am Hut bieten Lose an. Ein Gequirl von Menschen, und über allem liegt der Lärm wie ein Nebel: Autohupen, Schreie, Musikautomaten.

„Hier sind wir schon!“, sagt plötzlich der Mann. „Dort oben.“

Es ist ein normales einstöckiges Haus; unten ein Schuhgeschäft. „Sie brauchen ja nur mal zu sehen. Das verpflichtet nicht.“

Er spekuliert auf meine Schwäche. Wenn ich ihn nur erst oben habe, denkt er.

„Wie viel bekommen Sie, wenn Sie einen Gast bringen?“, frage ich.

„Nicht viel“, antwortet der Mann.

„Haben Sie keine Arbeit?“

„Das ist meine Arbeit. Ich bin Fremdenführer. Früher verdiente man gut, jetzt sind schlechte Zeiten. Haben Sie eine Zigarette?“

Ich biete ihm eine meiner kubanischen Zigaretten an. Er hatte amerikanische erwartet und ist enttäuscht.

„Gehen wir hinauf?“, fragt der Mann.

„Was soll ich dort?“

„Eine gute Zeit haben“, antwortet er wörtlich. „Die Mädchen sind jung, alles Küken. Sie können sie sich aussuchen.“ Er schiebt seinen Strohhut aus der Stirn.

„Ist das ein Lokal dort oben?“

„Nein. Es ist eine Wohnung. Die Mädchen wohnen bei der Frau. Sie kochen da und sind wie eine Familie.“

„Was ist das für eine Frau?“

„Eine Ältere. Sie hat die Küken bei sich aufgenommen. Es ist eine saubere Wohnung. Sie werden sehen. Gehen wir!“

Der Mann wird ungeduldig. Er nimmt den Strohhut ab, dreht ihn zwischen den Fingern, schaut hinein und setzt ihn wieder auf. Ich schätze den Mann auf Mitte Zwanzig. Er ist kräftig. Ob er an diesem Geschäft beteiligt sei, frage ich.

„Zehn Prozent waren ausgemacht. Aber ich weiß, dass die Alte mich betrügt. Manchmal gibt sie mir eine Mahlzeit. Kommen Sie, wir gehen!“

„Nein, ich mag nicht!“

„Wollen Sie lieber in eine Bar mit Tanz und einer Show?“

„Auch nicht“, sage ich.

Der Mann rückt wieder an seinem Hut. „Haben Sie einen Kaugummi? Oder Dollars? Ich tausche Dollars gegen Pesos. Drei Pesos für einen Dollar.“ Das sagt er leiser und blickt sich dabei um.

„Aber Dollar und Peso stehen eins zu eins“, entgegne ich.

„Standen!“, erwidert der Mann rasch. „Unser Geld ist jetzt nichts mehr wert.“

„Wer sagt das?“

„Man sieht es“, meint er.

„Bekommt man für einen Peso jetzt weniger zu kaufen als vor der Revolution?“, frage ich. Ich habe nämlich inzwischen erfahren, dass es sich genau umgekehrt verhält.

„Das nicht“, sagt der Mann. „Aber die Amerikaner verlangen manchmal sogar vier Pesos für einen Dollar. Unser Geld ist nichts mehr wert.“

„Es ist mehr wert als vor der Revolution“, antworte ich. „Und die Amerikaner betreiben den Schwindel, weil die kubanische Revolution ihnen nicht gefällt.“

„Mir gefällt sie auch nicht“, sagt der Mann. „Sie macht unser Geschäft kaputt. Keine Touristen, keine Kunden, kein Verdienst. Und es wird immer schwerer, neue Girls zu bekommen für die Bars und so weiter …“ Ich sage ihm noch, dass es wohl gut sei, wenn die Revolution dieser Art von Geschäft ein Ende setzt und verabschiede mich. Aber der Mann gibt nicht auf. Er folgt mir und schwatzt und versucht verzweifelt, mich doch noch umzustimmen. Erst als ich drohe, einen Polizisten zu rufen, kann ich ihn endlich abschütteln.

Um sich einen guten Abgang zu verschaffen, ruft er mir noch nach: „Ich heiße Rafael. Falls Sie mich mal brauchen sollten! Sie finden mich immer hier. Fragen Sie nur nach Rafael …“`

Erstmals 1981 veröffentlichte Klaus Möckel in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) des Verlags Das Neue Berlin seinen Kriminalroman „Hass“: Auf Roswitha Henneberg, Abteilungsleiterin in einem Großlager, wird ein Anschlag verübt: Sie erleidet einen Sturz mit dem Motorroller, weil heimtückisch eine Schnur über die Straße gespannt wurde. Als sie im Krankenhaus schwer verletzt zu sich kommt, erinnert sie sich nur an wenige Details. Doch sie hat ein hassverzerrtes Gesicht vor Augen, das sich über sie beugt und das sie keiner bestimmten Person zuordnen kann. Leutnant Kielstein nimmt sich des Falles an, kann aber nicht ahnen, dass ihn die Verunglückte absichtlich auf eine falsche Fährte lenkt, weil sie sich zunächst selbst ein Bild von dem Täter machen will. Ein Einbruch bei der Henneberg und eine mysteriöse Gestalt im Regenmantel verwirren die Fäden noch. „Hass“ ist ein Roman der Selbstfindung und Abrechnung mit erstarrten Denk- sowie Verhaltensweisen. Als die Verunglückte endlich begreift, wer es auf sie abgesehen hat, ist es für sie bereits zu spät. Zunächst aber kommt Roswitha Henneberg im Krankenhaus wieder langsam zu sich:

1. Kapitel

Die schwarze… massive… Platte, die mich schon die ganze… Zeit niederdrückt… hebt sich schaukelnd… von meiner Stirn, wird grau… hellgrau, weiß. Sie… weicht zurück, und es ist keine… Platte mehr, es ist eher ein kalk… farbenes Tuch, ein… Leichentuch. Mein Leichentuch…

Denn mir, Roswitha… Henneberg, ist etwas… Schreckliches zugestoßen… und obwohl mich das Dunkel in meinem Kopf… am Überlegen hindert, beginne ich mich langsam… zu erinnern. Die Kurve… die Schnur… der Sturz, der Aufprall. Und das Gesicht… hinter der Brille, das hassverzerrte… Gesicht.

Vielleicht habe ich das… alles nur geträumt.

Aber da sind die Schmerzen… im Rücken, die sich sacht… regen, da sind die Stiche… im Bein.

Durchs Fenster fällt… fahles Sonnenlicht… Wieso hat dieses kalk… bleiche Tuch ein Fenster?

Weil es kein Tuch… ist, sondern eine… weiße Wand.

In einem weißen… Zimmer.

Wo ich… auf einem weißen Bett… liege.

Auf einem… Krankenhausbett.

Nein, ich habe nicht… geträumt, mir ist etwas sehr… Schlimmes passiert… und es war kein… Unfall. Ich sehe die… Straße vor mir, die Bäume… rechts und links… die Kurve hinter dem Hügel, den hellen… Strich der Schnur im Schein… werferlicht, ich durchlebe erneut den Sturz… verspüre den… Aufprall.

Und starre… in das Gesicht mit der… Motorradbrille, das dicht vor mir auf… taucht, aber sofort wieder verschwimmt… so dass ich mich vergeblich… bemühe, seine Konturen festzuhalten…

 

Dann stehen zwei Schatten neben meinem Bett, und auch sie… sind weiß: weiße Schatten, was… für ein Unsinn. Der eine Schatten, der… kleinere, beugt sich zu mir herab und sagt etwas. Eine… Stimme, auf- und abschwellend wie ein… ferner Sender, dringt an mein… Ohr. Laut… leise… leise… laut: „Sie scheint… sich zu kommen… Herr… oktor.“ Der größere… Schatten neigt sich leicht… nach vorn, wackelnd… schwankend, eine Panoptikumsfigur… und flüstert: „Na, wie…eht es uns, Fra… nneberg?“

„Uns“, hat er gesagt… „uns“, was mag er nur … wollen? Ob noch mehr Leute in… diesen Sturz verwickelt sind… noch mehr in diesem Raum? Aber nein… ich war allein auf der Straße… liege… allein im Zimmer. Wie geht es… uns… eine… Floskel, eine ganz allgemeine… Frage, wie sie die Ärzte… stellen, ohne eine Antwort zu erwarten… Schlecht geht es… schlecht… wenn ich auch… brav… zu lächeln versuche… Er, der Doktor… lächelt zurück, bevor er wieder… zum Schatten wird… und dann… im Weggehn, flüstert er… kaum noch verständlich: „Lassen… ir sie schlafen, Schwes… Patient… aucht Ruhe.“

Allein in diesem… Krankenzimmer, durch dessen Fenster jetzt schmal die Sonne… fällt. Ein magerer Streifen, mager wie dieser ganze… verunglückte Sommer. Trotzdem gibt der Strahl Wärme, der nackte Raum wirkt… lebendiger, der bräunliche Fußbodenbelag beginnt… ein wenig zu glänzen, und gelänge es mir, die Hand auszu… strecken, könnte ich die plötzlich… flimmernde… Kante des Nachttischchens berühren.

Wie zu Hause… Sonnabend- oder Sonntagmorgen, wenn ich nicht zur Arbeit muss. Wenn ich mir die halbe Stunde Geruhsamkeit… vor dem Aufstehn gönne, das Nachdenken… über die vergangene Woche… das Vorausdenken bis zum Abend, das Nicht… denken… die Erinnerung an die wenigen schönen Augenblicke in meinem Leben, aber nie das Träumen… Träume führen zu nichts, ich habe sie mir seit langem abgewöhnt.

Die Kante des Nachttischs flimmert… doch ich kann die Hand nicht… nach ihr ausstrecken, ich bin zu schwach. Ich kann… das Bein nicht bewegen, das schmerzt… den Kopf nicht anheben, der einer großen, dumpf dröhnenden… Trommel gleicht. Den schweren Weih… Wasserbecken in den Kirchen… meiner Kindheit. Mutter… weshalb muss ich gerade jetzt… an dich denken… Du hast es gut gemeint… aber du hast zuviel verschwiegen. Glauben… und sich unterordnen. Beten, vertrauen, doch keine Fragen stellen. Die Kindheit… ich möchte sie fassen… aber ich liege hier, und alles… verschwimmt. Ich schwimme mit… auf einer Wolke, die mich umhüllt und weg… trägt. Der Fußboden… die Sonne… wo ist der magere Streifen… Wärme geblieben?

Schlafen… dahindämmern… nachdenken. Wie lange mag ich schon hier sein: eine Nacht… einen Tag… zwei Tage? Keine Sonne mehr im Zimmer, eher abendliches Dunkel, gestern… oder vorgestern… war es auch dunkel, ein grauer… verregneter Tag; morgens, als ich zur Arbeit fuhr, sah es noch so aus, als wollten die… Nässeschleier über den See nach Süden… abziehn, aber dann kamen neue Wolken, richtige Geschwader. Der Weg vorm Haus voller Pfützen, die Straße glitschig… am Fabriktor ein ganzer See, so dass die Leute… fluchend zurücksprangen, wenn ein LKW oder Barkas… zu forsch heranfuhr. Ich sprach mit dem Pförtner übers Wetter… das jetzt, im Oktober, genauso schlecht war wie schon im Juli und Au… gust, und später noch mal mit Gerd Grollmann… dem Ersten Lageristen der Elektroakustik. Dann verlief der Tag mit den üblichen Gesprächen und… Anweisungen, war mit Arbeit voll gestopft bis zum Gehtnichtmehr… Junghans rief dauernd an, weil die neuen Barometer nicht kamen, und ich schlug mich mit dem Leiter vom Fuhrpark herum, der den Unschuldigen spielte. Gegen elf hatten wir eine BGL-Sitzung, doch da Braun Urlaub macht und also keiner anwesend war, der am Stänkern Freude hat… spulte sich alles ohne Zwischenfall ab. Um den Planvorlauf drehte sich’s… und um einen Neuerervorschlag. Hoffmann II aus der… Uhrenabteilung hat sich da was mit neuen Transportpaletten ausgeknobelt, aber ich befürchte, dass die Arbeits… erleichterung minimal ist und dass es ihm hauptsächlich um die Prämie… geht. Ich hab‘, wie üblich, nicht mit meiner Meinung hinterm Berg gehalten. Wenn wir seinerzeit… hätten alle unser Geld so leicht verdienen wollen… wo ständen wir heute?“

Erstmals 1979 veröffentlichte Dorothea Iser im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin „Wolkenberge tragen nicht“: Was würde ich tun, wenn nur ein Tag mein ganzes Leben wäre? Ich würde auf Wiesen laufen, mich in nasses Gras werfen, nicht rühren, nur horchen und Erde atmen. Wenn die Sonne die Feuchtigkeit aufsaugt, drehe ich mich um, lasse mich trocknen, sehe in Wolken, schlage Schaum aus ihnen, stecke das Dorf hinein. Wolkenberge, aus denen das Dorf aufsteigt wie aus Nebel: die zwei Straßen wie Adern von einem Blatt, bebaut mit Ein- und Zweifamilienhäusern, bewachsen mit Blumen und Bäumen, umgeben von Koppeln und Wäldern, das Forsthaus mit steilem Giebel, der Stierberg mit seinem Aussichtsturm. Mein Dorf, ich nenne es Wolkenberg.

Simone Dieskau, aus dem Jugendwerkhof entlassen, will in einem Dorf neu beginnen, alles anders machen und besser. Sie steht vor Problemen, die sie allein nicht bewältigen kann. Da trifft sie Jan Brinke, der ihr helfen könnte, sich in dem neuen Leben zurechtzufinden, der aber selbst Schwächen hat, gegen die er ankämpfen muss. Jan, der seinen Dienst in der Nationalen Volksarmee ableistet, will beweisen, dass man Ziele, die man sich stellt, auch erreicht. Vor seinem Mädchen, das er für drei Jahre allein im Dorf weiß, will er bestehen. Simone, belastet durch ihre bisherige Entwicklung, sucht ihren Anspruch auf Liebe zu verwirklichen. Wer bin ich denn schon? Männer trauen sie mir zu, aber Kinder? Ich wäre jetzt gern bei Jan. Bei ihm fällt das alles von mir ab, da fühle ich mich frei. Das ist ein gutes Gefühl, das ist wie nackt schlafen. Gibt es für Mone und Jan eine Chance? Sie sind mit einer frühen Trennung belastet und sollen doch schon Positionen für ein gemeinsames Leben mit einem Kind finden. Hier der Anfang dieses Lebensbuches, in dem Simone von sich erzählt – und von Jan:

1. Kapitel

In zwei Stunden bin ich neunzehn Jahre alt. Zwei Stunden vergehen schnell. Sie reichen nicht mal, um zu dir zu fahren. Aber stell dir vor, Jan, ich käme. Mitternacht wäre ich bei dir. Ich würde dich leise wecken, du wärst nicht mal überrascht, weil du von mir geträumt hast. Du stehst auf, nimmst mich an die Hand und läufst mit mir raus. Wir lachen laut, rufen in den Wald, warten auf das Echo, und nicht nur warten würden wir, das kannst du dir denken, ja?

So müsste das neue Jahr für mich anfangen, mein zwanzigstes. Ich weiß ja, dass es nicht geht. Die Wache ließe mich nicht zu dir. Es soll streng sein bei der Armee. Vielleicht liegst du aber gar nicht in deinem Bett, stehst irgendwo rum und sperrst die Augen bei jedem Rascheln auf. Die Zeit wird dir lang, du denkst an mich. Wir sehen dieselben Sternschnuppen fallen und wünschen, uns nah zu sein, und sind es in unseren Träumen trotz strenger Vorschriften. Du bist bei mir, überall, wo ich bin, bei allem, was ich tue. Im Umkleideraum zwischen fast zwanzig Frauen, die mit schrillen Stimmen aufeinander einreden, gewöhnt, Maschinenlärm zu überschreien. Ich höre nur deine Stimme. Körper- und Spraygeruch machen die Luft dünn, aber ich atme nur dich, und auch die Maschine nimmt dich mir nicht. Ich verspinne Steingrau für euch, Jan, Armee-Stoffe werden das. Wenn das mit deinem Urlaub geklappt hätte, würde ich heute nicht hier stehen, Locken holen und einhängen, diese Filzrollen aus dem Krempel, aus denen die Fäden gedreht und auf Hülsen gewickelt werden. Wir würden bei mir sitzen, Musik hören und träumen, uns lieben, durch den Wald laufen und wieder träumen.

Träumen finde ich nämlich schön, immer noch, obwohl ich jetzt neunzehn werde. Früher habe ich natürlich mehr geträumt. Meist war ich ein Mädchen, das endlich von seinen Eltern gefunden wurde. Eltern, die was zu sagen haben wie der Hausmeister oder der dicke Schulze, der sich sogar beim Milchmann vordrängelte. Ist doch egal, Hauptsache Eltern, die fragen, welche Erzieher waren schlecht zu dir. Ich würde weinen, keinen Namen sagen. Oder doch, Lehrer Henne. Und der würde rot werden und vor Verlegenheit lispeln, wie immer, wenn der Direktor neben ihm stand. Das träumte ich oft, weil es mir gefiel. Und ich malte es mir aus, wenn ich stehen musste, mich alle anstarrten, seine schmalen Lippen vor Wut blass waren, er Luft durch die Zähne zog, seine Stimme vibrierte, er trocken und spitz lachte, weil er sich von mir angegriffen fühlte. Da dachte ich an meine Geschichte, stellte meinen Vater und meine Mutter daneben und ließ Henne rot werden und lispeln. Da heulte ich wenigstens nicht, auch wenn keine Eltern kamen, und ich wusste längst, dass sie nie kommen würden.

Wenn ich heute träume, dann am liebsten bei Musik. Die Fischer höre ich gern und die Mann. Komm, ich brauch‘ dich so sehr. Ja, Jan. ich brauche dich, ich mag dich. Heulen will ich nicht, aber mir ist danach zumut’. Das Garn läuft auch noch miserabel. Dauernd reißt es, und ich muss rennen, um auf meine Kilos zu kommen. Punkt zwölf aber stelle ich die Maschine ab, gehe runter auf den Hof. Sterne kann ich nicht sehen, Jan, nur Wolken. Ob sie von dir kommen? Wenn du zurück bist, werden wir uns immer Mitternacht gratulieren, anstoßen und runter vor die Tür gehen, auch wenn es mal regnet so wie jetzt. Ich bleibe stehen, denke, du wirst auch nass werden, wenn du draußen sein musst. Was ist schon so ein Regen, nur, dass man in nassen Sachen friert, frieren wir eben beide vielleicht. Ich stelle es mir vor, aber jetzt, Jan, haben mich die Frauen entdeckt und holen mich rein. Deine Mutter ist auch dabei. Sie schimpft mit mir, warum ich im Regen stehe, ob ich mir was wegholen wolle. So sind eben Mütter, auch Betty. Sie ziehen mich in den Umkleideraum und gratulieren. Jan, sie vertreiben dich mit ihren Blumen und guten Wünschen. Dabei wollte ich noch in mein Tagebuch eintragen, wie das ist, wenn man ein Jahr älter geworden ist. Neunzehn, das klingt schlimm erwachsen.

Mit fünf Jahren wollte ich fliegen lernen, mit zwölf nach Alaska auswandern, mit sechzehn kam ich in den Werkhof. Nun also schon neunzehn. Aber ein Jahr kann man nicht in einer Minute älter werden. Wann wird man eigentlich älter? Die Leute sagen, ich wäre jung. Ich finde das nicht. Wenn man nicht vergessen würde, was man erlebt hat, dann käme einem die Zeit, die man lebt, viel länger vor. Ich will nicht alles vergessen, will aber auch nicht alles behalten. Man schleppt viel zu viel mit sich rum. Zum Beispiel die Sache mit dem blinden Hugo, den wir so lange ärgerten, bis er uns mit dem Stock drohte. Besondere Mutprobe war, ihm den Stock wegzureißen. So was möchte ich wie ein Tonband löschen können. Was wichtig war, schreibe ich auf. Wenn ich in dem Tagebuch lese, denke ich, dass ein Jahr verdammt lang sein kann.“

Erstmals 1981 erschien im Verlag Das Neue Berlin „Al-Taghalub. Gesetz der Bärtigen“ von Wolfgang Held: Reich und mit sich und der Welt zufrieden, erfährt der dänische Schäfer Bertel Björkborg – der Sinn seines Daseins besteht in der Sorge für das Wohl der von ihm allein aufgezogenen Tochter -, dass sein Kind bei einem Ausflug zu den Sehenswürdigkeiten des Heiligen Landes Opfer eines Terroranschlages geworden ist. Seinen Fäusten mehr vertrauend als den Gesetzen, verlässt er seine Heimat, um den Tod seiner Tochter zu rächen. Im abenteuerlichen Geschehen von Nachforschungen und Verfolgungen wird Bertel Björkborg mit der schwierigen Lage der Länder im Nahen Osten konfrontiert. Er gewinnt Einblick in die einem Europäer fremde und unverständliche arabische Mentalität, lebt mit den Beduinen, gerät in palästinensische Flüchtlingslager und erfährt von illegal stattfindenden Sklavenauktionen. Wolfgang Held bereiste mehrfach den Orient. Sach- und Milieukenntnis sowie die unaufdringliche Verarbeitung gesellschaftlichen und historischen Geschehens prägen diesen Roman. Neben spannender Unterhaltung wird zeitgeschichtliche Information geboten. Zur besseren Einordnung präsentieren wir hier das kurze Vorwort und den Anfang des 1. Kapitels:

Vorwort

Die in diesem Roman erzählten Schicksale und Ereignisse sind im Jahr 1968 angesiedelt. Zu diesem Zeitpunkt standen die Bewohner der Länder des Nahen und Mittleren Ostens noch tief unter den Eindrücken des sogenannten Sechstagekrieges, der am 5. Juni 1967 um 7.45 Uhr mit israelischen Luftangriffen auf ägyptische Militärflugplätze begonnen und bis zum Abend des 10. Juni 1967 von ägyptischer, syrischer und jordanischer Seite fast 18 000 Gefallene und Vermisste gefordert hatte. Aus den von Israel dabei eroberten arabischen Gebieten wurden bis September 1967 nahezu 350 000 dort beheimatete Menschen vertrieben.

Die Romanhandlung spielt während jener geschichtlichen Etappe, in der die palästinensische Widerstandsbewegung zersplittert war und die PLO (Palestine Liberation Organisation) sich noch nicht zur wirksamen, international einflussreichen und anerkannten Dachorganisation der für die Rechte des arabischen Volkes von Palästina kämpfenden Kräfte und Gruppierungen entwickelt hatte.

Historisch belegte Ereignisse und Prozesse bilden den Hintergrund dieses fiktiven Geschehens, dessen handelnde Personen, Schauplätze und Namen nur unbeabsichtigt und zufällig Analogien im Bereich des realen Geschehens finden könnten.

Und vernichtet wird,

Wer nicht zur Verteidigung seiner Wasserstelle

Mit seinen Waffen dreinschlägt,

Und Schlimmes wird dem angetan,

Der anderen nichts Schlimmes zuzufügen vermag.

Zuhair bin Abi Salma

in „Mu’allakat“ (8.Jh.)

  1. Kapitel

„Ihr sollt nicht um mich weinen. Wenn ich morgen sterbe, dann für Palästina. Mir ist nicht wichtig, wie unser künftiger Staat aussehen wird. Ich will mein Vaterland befreit sehen, das allein ist schon den höchsten Einsatz wert.“

Hassan Kassem, geboren in Obergaliläa, in einem Brief an seine Schwester Fatima

Auf splittertrockenem, steinigem Boden löst jeder Schritt kleine Brocken ab, die talwärts rollen. Das scheppernde Geräusch klingt in der Stille wie dünner Trommelwirbel. Mattes Licht einer schmalen Mondsichel hebt unzählige bizarre Konturen aus dem Hang hervor. Kantige Felsen und buschige Tamariskensträucher werfen reglose, gespenstische Schatten ins Zwielicht.

Die beiden zum Tal hinabsteigenden Gestalten kommen nur langsam vorwärts. Ausgespülte Spalten lauern. Hier zu stürzen kann leicht böse Folgen haben. Felsige Absätze täuschen zuverlässigen Halt vor und bersten dann unter den Sohlen wie morsches Gezweig. Jeder Meter der pfadlosen, stark abschüssigen Berglehne birgt eine neue Gefahr. Dazu sind die Männer schwer bepackt. Sie tragen auf Brust und Rücken verteilt zwei tiegelähnliche Behälter. Außerdem haben sie erbeutete UZI-Maschinenpistolen und kurzstielige Feldspaten bei sich.

Bis zur Straße, die sich durch das Tal windet, bleibt noch reichlich eine Steinwurfweite. Der vorausgehende Mann hält inne und schaut zurück. Er ist wie sein Gefährte gekleidet. Verwaschenes Kakihemd, enge, lehmfarbene Leinenhose, knöchelhohe Schnürstiefel, der Kopf eingehüllt in eine schwarz und weiß gemusterte Kufiya, das Kopftuch arabischer Männer, das von einem Ring aus Ziegenhaar gehalten wird. An seiner Brust baumelt neben dem dunklen Metallbehälter ein Fernglas. Er hebt es an die Augen und sucht die Berggipfel im Nordosten ab.

„Siehst du das?“, fragt Hassan Kassem seinen um einige Jahre jüngeren Begleiter. Er selbst ist auch noch keine fünfundzwanzig Jahre alt. Seine Hand weist nach Nordost. Der Jüngere kneift die Lider zusammen. Zwischen den schmalen Schlitzen glimmt beherrschte Leidenschaft. Er stößt einen kurzen, verächtlichen Zischlaut aus und gibt damit zu verstehen, dass er die allerersten Zeichen des heranziehenden Tages auch ohne optische Hilfsmittel erspäht.

„Eigentlich sollten wir um diese Zeit längst auf dem Rückweg sein“, beanstandet Hassan Kassem. „Selbst wenn Allah dir und mir sieben Hände geben würde, könnten wir nicht vor Sonnenaufgang hinter den Bergen sein. In spätestens anderthalb Stunden sehen die Hundesöhne hier in dieser Gegend alles, was sich bewegt. Jede Eidechse.“

Der Jüngere brummt unwillig und geht weiter. Hassan Kassem holt ihn mit zwei Schritten ein. Er übernimmt wieder die Führung.

„Das Kommando habe ich, Omar al-Khatib“, erinnert er leise, aber sehr bestimmt. „Gehen wir zu der Biegung dort vor, da haben wir nach beiden Seiten die weiteste Sicht.“

Die Straße führt von Nahariya am Mittelmeer in zahllosen, zuweilen halsbrecherischen Windungen nahe entlang der südlibanesischen Grenze durch die wilde, biblische Landschaft Obergaliläas. Man gelangt auf diesem Weg bis hin zum Kibbuz Dan und der Quelle des Jordans am Tell Dan, dem Hügel der Richter.

Das Tal wurde von der Gruppe „Qibya“ für die Aktion ausgewählt. Der Platz ist für das Vorhaben besonders gut geeignet, weil die Fahrbahndecke hier überall eine Menge Schäden aufweist. Manche der Schlaglöcher dehnen sich bis zur Größe eines Wagenrades aus. Nur sehr verstreut sind Spuren kümmerlicher Reparaturen erkennbar.

Hassan Kassem bleibt stehen. Er greift in die Brusttasche und bringt eine Taschenlampe zum Vorschein. Seine Hand schirmt den Lichtkegel ab. Sekundenlang huscht Helligkeit über die Straße.

„Ich hier, du dort drüben, klar?“, flüstert der Anführer.

Der Jüngere nickt und eilt zu der angewiesenen Stelle. Er kniet nieder, hantiert mit seinem Feldspaten, murrt dabei kaum hörbar. Auch Hassan Kassem höhlt hastig eines der Schlaglöcher tiefer aus. Sein Blick fliegt immer wieder die Straße entlang. Bei glattem, dickem Bitumenbelag wäre es unmöglich gewesen, in einem knapp bemessenen Zeitraum vier schwere Panzerminen sicher vor den argwöhnischen Blicken einer israelischen Patrouille zu verstecken.

Es dauert nur einige Minuten, bis Hassan Kassem und der junge Omar al-Khatib die ersten beiden Minen entsichert und dann mit dem ausgehobenen Schotter sorgfältig bedeckt haben. Was an Steinen und Erde übrig ist, wird auf die zuvor ausgebreiteten Kopftücher gekehrt. Kein verdächtiges Anzeichen für irgendwelche Arbeiten an der Fahrbahn darf zurückbleiben. Die Israelis sind misstrauisch. Die kleinste Unvorsichtigkeit kann den Erfolg des Unternehmens gefährden. Die Männer wissen das. Sie wollen die Erdreste nachher auf dem Rückweg zwischen den Felsen verstreuen.

Jeder Handgriff der beiden Araber verrät vielfache Übung. Die Führung der „Qibya“, einer der zahlreichen Splittergruppen des palästinensischen Widerstandes, wählt keinen Opferbereiten ohne vorheriges hartes, wochenlanges Training für einen Einsatz aus. Die kleine kampfentschlossene Schar hat sich den Namen eines Dorfes gegeben, dessen Ruinen am Westufer des Jordans liegen. Seit dem Sechstagekrieg im vergangenen Jahr ist das ganze Gebiet dort von den Israelis okkupiert, aber bereits im Oktober 1953 waren zionistische Terroristen über die Gemeinde Qibya hergefallen und hatten fünfundsiebzig arabische Bewohner umgebracht. Nur wenige Zeitungen in der Welt waren damals bereit gewesen, den Augenzeugenbericht eines katholischen Geistlichen zu verbreiten. Die internationale Öffentlichkeit zeigte zu jenem Zeitpunkt nur wenig Interesse an Enthüllungen zionistischer Massaker. Die Opfer des Überfalls gerieten jedoch nirgendwo im Nahen und Mittleren Osten in Vergessenheit. Die Männer der „Qibya“ beschworen bei jedem Sonnenaufgang und -untergang das Andenken der fünfundsiebzig ermordeten Männer, Frauen und Kinder.

Wer sich dem Eid der Opferbereiten unterwarf, feierte zuvor mit den Familienangehörigen Abschied. Ein Totenfest. Vom Tag des Beitritts zur „Qibya“ sollte ein junger Mann von seinen Eltern und Geschwistern, von Nachbarn, Freunden und Bekannten nicht mehr zu den Lebenden gezählt werden. In diesen Stunden weinten die Mütter. Die Alten sprachen von dem gewaltigen Lohn, den Allah für alle spendete, die auf seinem Weg, gegen Angreifer und Totschläger kämpfend, siegten oder starben.

Vor ihrem Einsatz hatten Hassan Kassem und Omar al-Khatib nicht nur gelernt, mit Minen umzugehen. Sie waren barfüßig durch brennende Benzinpfützen gelaufen, um gegen Gefahren und Schmerzen furchtlos zu werden. Dicht an den Boden gepresst, hatten sie mit anderen Opferbereiten geübt, unter flachgespanntem Stacheldraht vorwärts zu kriechen, während der Ausbilder mit einer Maschinenpistole Geschossgarben dicht über die Köpfe hinwegfeuerte. Männer der „Qibya“ sollten bereits vor dem ersten Kampfauftrag mit Gefechtslärm vertraut sein. Keiner durfte im Zirpen der Kugeln die Nerven verlieren.“

Dieser kurzer Auszug aus dem Buch von Wolfgang Held zeigt, wie ernst und verfahren die Lage damals war. Zugleich aber schien es auf Seiten der Palästinenser eine gewisse Hoffnung auf eine Befreiung ihrer Heimat und auf eine friedliche Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten zu geben. Aber auch ein halbes Jahrhundert später ist immer noch keine Lösung in Sicht. Die Auseinandersetzungen gehen weiter, und noch immer sterben fast jeden Tag Menschen. Heute wiedergelesen, lässt „Al-Taghalub. Gesetz der Bärtigen“ vielleicht manche der heutigen Auseinandersetzungen und ihre lange zurückliegenden Ursachen besser verstehen.

Aber auch die anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters lohnen sich, machen sie doch ebenfalls mit weltpolitischen Entwicklungen wie mit Menschen und ihren ganz unterschiedlichen Träumen und Zielen bekannt. Und manch einer der Leser wird darin möglicherweise einige seiner eigenen Träume und Ziele wiedererkennen und darüber nachsinnen, was aus ihnen geworden ist.

Viel Vergnügen beim Wiedererkennen und beim Lesen, weiter einen schönen Sommer und weiter gute Gesundheit und bis demnächst.

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