Dr. Volker Schmidt, Senior Portfolio Manager bei Ethenea, analysiert die aktuelle Lage in Großbritannien:

„Brexit? Ja, da war doch noch was. Durch die Coronapandemie – und sicherlich auch einige Ermüdungserscheinungen ob des jahrelangen Dauerthemas – sind die Nachrichten über das Fortschreiten der Brexit-Verhandlungen in den Hintergrund getreten. Mit dem nahenden Jahresende, und damit dem Ende der Verhandlungen, sowie durch waghalsige politische Manöver des britischen Premierministers Boris Johnson rückte das Thema aber zuletzt wieder verstärkt in den Fokus. 

Am 15. Oktober, so möchte es Johnson, sollen die Details des Ausstiegsvertrages verhandelt sein. Doch auf politischer Ebene wird der Brexit voraussichtlich auch darüber hinaus noch weiter für viel Unruhe sorgen. Das Ergebnis der Verhandlung und die letztliche Ausgestaltung des Austrittvertrages ist völlig ungewiss, darüber lässt sich nur spekulieren. Etwas handfester hingegen können wir über den aktuellen Stand der britischen Wirtschaft reden. Angesichts der Tatsache, dass ein Brexit jedweder Form Auswirkungen haben dürfte, lohnt ein genauerer Blick.  

Gute Ausgangslage schlecht genutzt

Vor der Corona-Krise stand die britische Wirtschaft gut da. Solide Zahlen, solides Wachstum, geringe Neuverschuldung – Großbritannien schien ähnlich stabil wie Deutschland. Corona, vielmehr aber eine verfehlte Corona-Politik der Regierung, änderte dies grundlegend. Viel zu spät wurden wirkungsvolle Maßnahmen ergriffen und auch die Wiederöffnung erfolgte zu schleppend. Während in vielen Ländern der Eurozone die Wirtschaft wieder in gewissem Maße angelaufen ist, hinkt England hinterher und sieht sich gleichzeitig mit der Aussicht konfrontiert, aufgrund massiv steigender Neuinfektionen die Wirtschaft erneut drosseln zu müssen, bevor sie richtig Fahrt aufnehmen konnte. 

Die Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal sank um 20,4 Prozent zum Vorquartal. Dies ist bemerkenswert schlecht und es lag damit deutlich unter dem Wert der Eurozone. Im gleichen Zeitraum sehen wir für die Eurozone einen Einbruch von 12,1 Prozent. Wir führen diese Diskrepanz klar auf eine verfehlte Politik zur Eindämmung des Coronavirus zurück und nicht auf den Schwebezustand der Brexit-Verhandlungen. 

Die Bank of England hat zudem bereits zweimal im März 2020 ihre Base Rate von 0,75 Prozent auf 0,1 Prozent gesenkt. Für diese Schritte gibt es valide Gründe, sie bedeuten jedoch auch, dass die Zentralbank bereits einen Teil ihres Pulvers verschossen hat, sollte sie weitere Zinsschritte zur Eindämmung eventueller negativer Auswirkungen des Brexits beschließen wollen. Als Folge dieser Zinsschritte und der Brexit-Unwägbarkeiten emittierte das Vereinigte Königreich erstmalig 6-monatige Schuldverschreibungen mit negativer Rendite. Wir, aber auch viele andere Marktbeobachter, erwarten eine weitere Senkung der Base Rate in den negativen Bereich. Diese könnte insbesondere im Fall eines harten Brexits sogar schnell bis auf -0,5 Prozent gesenkt werden. 

Britische Wirtschaft kämpft bereits

Ein Anstieg der Arbeitslosenquote, ein weiterer Stellenabbau insbesondere im Einzelhandel und dem Unterhaltungssektor, sowie strengere Standards bei der Kreditvergabe an Hauskäufer sind darüber hinaus deutliche Anzeichen, dass die Wirtschaft im Vereinigten Königreich bereits jetzt mit signifikanten Problemen zu kämpfen hat. Die Coronapandemie hat den Spielraum der Zentralbank sowie die Handlungsfähigkeit der Regierung deutlich eingeschränkt. Auf der einen Seite sind Zentralbank und Regierung bereits jetzt in Alarmbereitschaft und die Verabschiedung von Unterstützungsmaßnahmen dürfte auf wenig Widerstand treffen. Auf der anderen Seite stellt sich aber die Frage, ob diese Maßnahmen im Umfeld einer nicht verschwindenden Pandemie nur eine zu geringe Wirkung entfalten.

Ändert der Corona-bedingte Lockdown und der dadurch hervorgerufene Wirtschaftseinbruch in der EU und in Großbritannien etwas an den Aussichten für die Brexit-Verhandlungen? Eher nicht. Es ließe sich zwar argumentieren, dass die schwierige wirtschaftliche Lage die Verhandlungsteilnehmer zu einer gütlichen Einigung treiben sollte, andererseits aber bietet sich den britischen Politikern eine günstige Gelegenheit, die Folgen verfehlter Brexit-Verhandlungen einfach auf die Auswirkungen der Corona-Krise zu schieben. Wer könnte ihnen schon das Gegenteil beweisen?

Uneinholbarer Rückschlag?

Festzuhalten bleibt: Großbritannien befand sich in einer überdurchschnittlichen guten Ausgangsposition, die Corona-Pandemie zu bewältigen. Diese Vorteile wurden fahrlässig verspielt. Zunächst weigerte sich die Regierung, den nötigen Lockdown zu erlassen, um schließlich später als viele Nachbarstaaten einen noch weiterreichenden und länger andauernden Lockdown anzuordnen. Viele Indikatoren deuten darauf hin, dass die wirtschaftliche Situation mehr als ernst ist. Die Zentralbank hat ihre Mittel bereits teilweise aufgebraucht. 

Sollte nun zu dieser Gemengelage noch ein harter oder härterer Brexit hinzukommen, könnte sich eine explosive Mischung ergeben. Die wirtschaftlichen und politischen Folgen sind kaum absehbar. Klar aber ist, dass Großbritannien an Boden verlieren wird, insbesondere gegenüber der EU. Viele sahen den Entschluss, aus der Europäischen Union auszutreten, von Beginn an als historischen Fehler. Die Corona-Pandemie, die völlig verfehlte Politik der Regierung Johnson und der Brexit könnten Großbritannien nun uneinholbar zurückwerfen.“ 

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