David Horvitz, dreizehnter Stipendiat des von der Landeshauptstadt Wiesbaden und dem Nassauischen Kunstverein vergebenen Stipendiums Follow Fluxus – Fluxus und die Folgen, verarbeitet in seiner Ausstellung lessons seine eigene Lebenssituation als Künstler und Vater in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie. Für den Kunstverein entwickelte er gemeinsam mit seiner 5-jährigen Tochter eine interaktive Ausstellung, die während ihrer Laufzeit fortlaufend wächst und von Besucher*innen erweitert wird.

Das Chaos des Augenblicks, die weltweite Corona-Pandemie und die Folgen, die sie insbesondere auf das Leben von Eltern mit kleinen Kindern hat, beschäftigten David Horvitz in der Vorbereitung seiner Ausstellung für den Nassauischen Kunstverein. Seine Rolle als Künstler und Vater wurde durch das Home-Schooling um die Rolle des Lehrers ergänzt. Gemeinsam mit seiner 5-jährigen Tochter begann er, kleine Aufgaben und Lehreinheiten zu entwickeln, an deren Ende die Durchführung und Dokumentation der Übungen standen. Die Ideen zu den Aufgaben kamen dabei gleichberechtigt von David Horvitz oder von seiner Tochter, andere Aufgaben entwickelten sie in einem gemeinsamen Prozess. Die lessons sind hierbei sowohl als eine Art Lehrplan zu verstehen, eine Reihe von Aktivitäten, die einen pädagogischen und lehrreichen Charakter haben, und gleichzeitig als eine Methode, auf kreative Art und Weise mit der gegebenen Situation umzugehen. Kunst und Leben sind in diesem Prozess eng miteinander verschränkt, die Lebenssituation des Künstlers wirkt sich auf seine Kunst aus und gleichzeitig ist es seine Kunst, die in die gegebene Lebenssituation einfließt.

Da David Horvitz aufgrund der Reisebeschränkungen nicht nach Deutschland einreisen konnte, begann der Künstler, jede Woche eine lesson als Aerogramm, einem Luftpostfaltbrief, nach Wiesbaden zu schicken. Die Ausstellung beginnt mit lesson 1 und wird über die gesamte Ausstellungsdauer durch weitere lessons fortlaufend ergänzt. Dabei bleibt stets der Zufall, wann und ob alle lessons in Wiesbaden auf postalischem Wege ankommen, ein Teil der Ausstellung. Sobald eine lesson ihren Zielort erreicht hat, wird diese im Kunstverein aufgehängt. Besucher*innen und Interessent*innen können eine E-Mail an david.horvitz@kunstverein-wiesbaden.de schicken und sich auf eine Mailing-Liste setzen lassen, an die die lessons regelmäßig als Scan verschickt werden. Außerdem gibt es die Möglichkeit, für einen Preis von 70$ die lessons jede Woche als Original-Aerogramm von David Horvitz persönlich zu erhalten. Interessent*innen können eine E-Mail an sein Studio schicken: freeairdela@gmail.com.
Die Ausstellung ist ein interaktives Projekt, das alle dazu einlädt, die Aufgaben gegebenenfalls mit ihren Kindern – wobei sich das Projekt explizit auch an „erwachsene Kinder“ – richtet, durchzuführen, im Kunstverein, zu Hause oder unterwegs. Dokumentationen der durchgeführten lessons können dann an den Nassauischen Kunstverein geschickt und so Teil der Ausstellung werden.

Die lessons von David Horvitz fungieren, ähnlich wie die der Fluxus-Bewegung üblichen Event Scores, als kurze, einfache Beschreibungen einer durchzuführenden Handlung. In ihnen verschränken sich Kunst und Leben, wobei der Zufall immer Teil des Ganzen ist. Durch die Einsendung von Dokumentationen der Besucher*innen wird ein klassischer Autorbegriff hinterfragt und gleichzeitig eine Verbindung zwischen dem Künstler und seiner Tochter sowie den Besucher*innen geschaffen. Der Versand eines Briefes ist dabei eine sehr persönliche, intime Geste, die Ideen von Distanz, Reisen und Bewegung enthält – Begebenheiten, die durch die Corona-Pandemie eine neue Bedeutung erhalten haben.

Die Ausstellung wird ergänzt durch eine weitere Arbeit, die während der Corona-Pandemie entstanden ist. 20th Century Alienation ist ein minimalistisches ABC-Gedicht, wobei jede der 26 Seiten jeweils einem Buchstaben des Alphabets und eine weitere den Zahlen gewidmet ist. Die Wörter sind größtenteils Tags und Stichworte, die der Künstler Fotodatenbanken entnommen hat, die Fotografien mit vermeintlich depressivem oder traurigem Inhalt enthalten. 20th Century Alienation ist eine Auseinandersetzung mit Entfremdungserscheinungen der Jetzt-Zeit, in der gerade durch die weltweite Corona-Pandemie die Zahl der Depressionserkrankungen enorm angestiegen ist. Die Arbeit erzeugt eine eigentümliche Spannung zwischen dem Status der einzelnen Wörter als Datenbank-Verlinkungen und ihrem vermeintlich emotionalen Inhalt. Gleichzeitig ist die Textarbeit des Künstlers immer wieder mit Wörtern durchsetzt, die von der Fotodatenbank den Begriffen „Depression“ und „Traurigkeit“ zugeordnet werden, durchaus aber ein Schmunzeln erzeugen können.

Im Nassauischen Kunstverein ist eine Edition der Arbeit als Prägedruck zu sehen, wobei die Hängung nach den Vorstellungen von David Horvitz‘ Tochter vorgenommen wurde. Darüber hinaus veröffentlichte der Künstler die 27-seitige Arbeit als „Freeprint-your-own-artwork-and-install-it-in-your-bedroom-or-kitchen“ (DH) und stellte sie als kostenfreien Download zur Selbstinstallation zur Verfügung. Eine PDF-Version der Arbeit lässt sich kostenfrei auf der Homepage des Nassauischen Kunstvereins herunterladen.

Zum Künstler /
David Horvitz (*1974, Humboldt, CA, US) studierte Kunst am Bard College im Bundesstaat New York. Seine Werke waren weltweit in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, so unter anderem im Musée d’Art Contemporain, Avignon (2019), im Palais de Tokyo, Paris (2017), im HangarBicocca, Mailand (2017) oder im New Museum, New York (2014). Zuletzt gewann er 2018 den Preis der Henraux Stiftung. Er lebt und arbeitet in Los Angeles.

Zum Stipendium /
Das Follow-Fluxus-Stipendium wurde 2008 vom Nassauischen Kunstverein Wiesbaden und der Landeshauptstadt Wiesbaden initiiert und setzt sich seitdem zum Ziel, internationale junge Künstler*innen zu fördern, die in ihrem Werk die Ideen der Kunstbewegung Fluxus aufgreifen und diese weiterentwickeln.

Die bisherigen Follow-Fluxus-Stipendiaten waren Emily Wardill (Großbritannien), Jimmy Robert (Guadeloupe), Aslı Sungu (Türkei), Kateřina Šedá (Tschechische Republik), Stefan Burger (Schweiz), Annette Krauss (Niederlande), Taro Izumi (Japan), Mehreen Murtaza (Pakistan), Adriana Lara (Mexiko), Gerrit Frohne-Brinkmann (Deutschland), Assaf Gruber (Israel) und Jace Clayton (USA).

Das Stipendium wird durch das Kulturamt der Landeshauptstadt Wiesbaden ermöglicht.

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