Am 25. September 2020 hatte Albaniens Premierminister Edi Rama über Twitter verkündet: „Unsere Regierung hat die obere Vjosa zum Nationalpark erklärt. Unser Umweltministerium erteilt keine Bewilligungen für Wasserkraftprojekte an der unteren Vjosa, die ebenfalls in den Nationalpark integriert wird!“
Diese Nachricht wurde von vielen Menschen in höchstem Maße begrüßt, darunter von Europaabgeordneten, der Energiegemeinschaft, Naturschutzorganisationen und auch dem weltbekannten Schauspieler Leonardo DiCaprio. Drei Monate später scheinen sich die Worte des Premierministers aber als leere Versprechen herauszustellen. Vergangene Woche präsentierte die Nationale Schutzgebietsbehörde – die dem Minister für Tourismus und Umwelt untersteht – den Plan für die Vjosa. Darin findet sich kein Wort von einem Nationalpark; ein Schutzstatus für besonders wertvolle Flussabschnitte, die von Dammbauten bedroht sind, ist nicht vorgesehen. „Die Realität widerspricht der Aussage unseres Premierministers. Es macht derzeit den Eindruck, als würden die Albanerinnen und Albaner hinters Licht geführt. Mit der Zukunft der Vjosa entscheidet sich auch die Glaubwürdigkeit von Edi Rama und seiner Regierung“, sagt Olsi Nika, Geschäftsführer von EcoAlbania.
Interessanterweise steht die albanische Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit hinter der Ankündigung des Ministerpräsidenten vom September, einen Nationalpark einzurichten und die Staudamm-Pläne zu verwerfen. Eine Meinungsumfrage von IDRA Poll (einem Unternehmen, dass auch Umfragen für die politischen Parteien in Albanien durchführt) zeigte im Dezember, dass 94 Prozent der albanischen Bevölkerung einen Vjosa-Nationalpark über die gesamte Flusslänge befürworten. Die Hauptmotive für diese enorme Zustimmung sind „Schutz der Naturschönheiten und der Landschaft“ sowie „bessere Möglichkeiten für eine touristische Entwicklung“ in der Region.
Gleichzeitig lehnen 78 Prozent der Befragten die Errichtung von Staudämmen an der Vjosa ab (14 Prozent neutral, 8 Prozent für Dämme). „Das ist eine eindeutige Botschaft: Die Menschen in Albanien wollen einen Nationalpark und keine Dämme an der Vjosa. Die Regierung sollte auf sie hören“, folgert Olsi Nika von EcoAlbania.
IUCN für Nationalpark
Die Weltnaturschutzunion IUCN – die globale Instanz beim Thema Schutzgebiete – erkennt die internationale Bedeutung der herausragenden Naturwerte der Vjosa an. Der Entwurf einer von der IUCN in Auftrag gegebenen Studie zeigt das Potential eines Vjosa-Nationalparks. Die Studie soll Anfang 2021 veröffentlicht werden und beinhaltet eine Vision und einen Fahrplan für eine ordnungsgemäße Ausweisung der Vjosa zum Nationalpark. Das vorgeschlagene Schutzgebiet umfasst auch den mittleren Flussabschnitt, der für die Unversehrtheit der Vjosa und ihren langfristigen Schutz als einzigartigem und außergewöhnlichem grenzüberschreitenden Flussökosystems entscheidend ist.
Premierminister Ramas Worte und die Wirklichkeit
Es wird allerdings von Tag zu Tag klarer, dass die albanische Regierung, allen voran der Umweltminister Blendi Klosi und seine Nationale Schutzgebietsbehörde (NAPA), in die entgegengesetzte Richtung steuern. Im Gegensatz zur Ankündigung des Premierministers gibt es keine Pläne für einen Nationalpark an der Vjosa. Stattdessen ist für den Oberlauf der Vjosa nur die „Landschaftsschutz“-Kategorie und für den Abschnitt flussabwärts von Tepelena (Memalija-Brücke) gar kein Schutzstatus vorgesehen. Dieser Plan würde nicht nur die wertvollsten Teile des Flusssystems ausschließen, sondern auch das Gebiet ungeschützt lassen, in dem die Staudämme Kalivaç und Poçem geplant sind.
„Die von der NAPA letzte Woche vorgelegten Pläne sind de facto ein Versuch, die Tür für die Wasserkraftwerke in Kalivaç und Poçem offenzuhalten. Sie sind ein Schlag ins Gesicht all jener, die auf der Seite der Vjosa stehen. Ein Schlag ins Gesicht der Bevölkerung Albaniens, der Wissenschaftler und derer, die den Versprechen des Premierministers Glauben schenken“, sagt Ulrich Eichelmann, Geschäftsführer von Riverwatch, der seit Jahren für den Schutz der Vjosa arbeitet.
Annette Spangenberg von EuroNatur ergänzt: „Jede Kategorie außer Nationalpark wäre für die Vjosa unangemessen, da sie den Naturschutzwert dieses einzigartigen Ökosystems untergraben würde. Daher muss die NAPA ihren derzeitigen Planungsprozess abbrechen. Wir fordern Premierminister Rama auf, sein Versprechen zu halten und die Erklärung eines Nationalparks entlang der Vjosa zu unterstützen. Der aktuelle Prozess, der von der NAPA durchgeführt wird, ist übereilt, nicht transparent und unvollständig. Daher sollte Minister Klosi ihn stoppen und einen neuen Prozess starten, der den Naturwert der Vjosa, der herausragend und von europäischer Bedeutung ist, vollständig berücksichtigt.“
Die Zukunft von Europas einzigartigem Flusssystem könnte auch ein Thema bei den Wahlen in Albanien am 25. April werden. „Wir wollen wissen, welche Parteien, welche führenden Politiker den Vjosa-Nationalpark unterstützen und welche nicht. Mit politischem Willen und internationaler Unterstützung könnte Europas erster Wildfluss-Nationalpark Ende 2022 eingeweiht werden“, schließen die Organisationen.
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