Können Sie sich vielleicht vorstellen, was passiert, wenn Jetzt-Menschen plötzlich einen Jugendlichen aus dem Mittelalter treffen? Das gibt es doch gar nicht, sagen Sie. Doch das gibt‘s. Zumindest in dem Kinderbuch „Gisbert, der Klarsichtige“ von Maria Seidemann. Besagter Gisbert – das klingt doch schon irgendwie wie Mittelalter – ist übrigens von Beruf Knappe und hat nicht die besten Augen, weshalb er auch gleich zu Beginn von Buch und Handlung (Achtung: Kleines Wortspiel) durch Umstoßen eines Stapels Tomatenkisten für Aufregung sorgt. Aber lesen Sie selbst.
Bereits zum vierten Mal auf Weltreise unterwegs ist Hans-Ulrich Lüdemann in „Dubai – Sydney – Singapur und so weiter“. Allerdings ist er nicht einfach so weltweit unterwegs, sondern mit dem Rollstuhl, weshalb diese Buchreihe auch „Happy Rolliday“ heißt. Diesmal der vierte und letzte Teil über die Reisen des inzwischen verstorbenen Autors.
Eine ganz andere Reise durch Raum und Zeit in ein ganz anderes Land namens DDR erlaubt das ziemlich autobiographische Erinnerungsbuch „Ego-Episoden des Alexander Kröger. Wahres, heiter und besinnlich“ von eben jenem Alexander Kröger.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Wir alle haben wohl ziemlich aufmerksam, ausführlich und mit höchst unterschiedlichen Gefühlen die jüngsten Vorgänge im Land der angeblich unbegrenzten Möglichkeiten – diese Bezeichnung ist übrigens eine deutsche Erfindung – erlebt und erfahren müssen, dass dieses Land manchmal auch das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten heißen könnte. Um dennoch noch ein bisschen besser zu verstehen, was da gerade passiert und wie es so passieren konnte, da hilft manchmal auch ein Blick in die Geschichte jenes Landes, zum Beispiel zurück in die Sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die USA im Rückspiegel. Wie war es eigentlich damals?
Erstmals 1987 veröffentlichte Walter Kaufmann im Militärverlag der DDR „Manhattan-Sinfonie“. Die beiden Teile dieser Ausgabe waren zuvor jeweils als Erstauflagen im Hinstorff Verlag Rostock erschienen. Der erste Teil trug den Titel „Begegnung mit Amerika heute“ (autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von Helga Zimnik). Der zweite Teil „Gerücht vom Ende der Welt“ wurde von Wilhelm Vietinghoff aus dem Englischen übersetzt: Die USA nach dem Mord an John F. Kennedy, im Zeichen der Präsidentschaftswahlen und der Bürgerrechtsreform. Walter Kaufmann, ein vorzüglicher Kenner der englischsprechenden Welt, durchreiste die Vereinigten Staaten 1964 erneut und berichtet über seine Erlebnisse in der Steinwüste der New Yorker City, in der Künstlerboheme von Manhattan, im brodelnden Negerviertel Harlem, in dem größten, automatisierten Werk der General Electric in Louisville, auf den Farmen zwischen Atlanta und Albany im Staate Georgia, erzählt von den „schwarzen Moslems“ und einer mutigen Studentin aus Connecticut, die sich vor dem Gericht des weißen Mobs in Atlanta verantworten muss, er zeichnet das Bild eines reichen und schönen Landes, dessen Bewohner durch eine ebenso primitive wie aktive Minderheit in den Strudel offener Gewalttätigkeiten gezerrt werden sollen. Schüsse in Harlem und Rauch in Washington. Im unteren Manhattan steht ein Mann auf dem Fenstersims und springt in den Tod. Der Ton einer Violine erstickt im Neon-Dschungel des Times Square. Johann Sebastian Bach um Mitternacht aus einem Schuhgeschäft. Ein Feuer in Ithaca, ein Schuppen, in dem Farmarbeiter hausen, brennt nieder: Wer ist der Mörder und wer der Mörder von Andrew Mc Daniel und Charles E. Tate, die in Vietnam blieben? Verschwörung oder Untat eines Einzelgängers, dass der Pfarrer Martin Luther King sterben musste? Joe Mulloy, fünf Jahre Gefängnis – was hat er getan? Charles B. Crankshaw will sein Frühstück im Garten haben, weil er einen farbigen Gast erwartet. Menschenjagd in Georgia: Der Mann, der die Fotos in der Tasche hat, kann entkommen, aber am Ende ist das Schweigen der Leichenhalle. Das Schicksal der Marie Lou und Suzie Anne im Negergetto von Chicago ist ungewiss, doch ihre Mutter ist eine nordamerikanische Carolina Maria de Jesus. Auf dem Pflaster von Greenwich Village welkt die Blume des Träumers, und in der letzten Wette des Jahres steht der Gewinn auf der Zahl 111 doch nicht für den alten Lou Roberts.
Zwanzig Vignetten aus den USA der Sechzigerjahre, Eindrücke des Autors, Kenner des Landes seit langem; sie erweisen sich als stark und erregend, sie geben Aufschluss über die krisenhaften Zustände eines großen Landes, das so reich ist an Menschen. Hier ein Einblick in die damaligen amerikanischen Eindrücke von Walter Kaufmann:
„Unser Autor – er wird nicht versuchen, sich hinter einem Pseudonym zu verbergen – brauchte keine derartigen Fragen zu beantworten, als er am ersten Mittwoch im Februar 1964 auf dem John-F.-Kennedy-Flugplatz in New York dem freundlichen, älteren Einwanderungsbeamten gegenüberstand. Sein Pass war in Ordnung, sein amerikanisches Visum ebenfalls. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut. Wenn man ihn im letzten Augenblick noch zurückschickte? Er war ja nicht irgendein Tourist: Die Ereignisse in Dallas hatten ihn zu dieser Reise veranlasst, und wenn er auch nicht vorhatte, etwas über die Hintergründe des Mordes an Kennedy zu schreiben (darüber war in Europa ausgiebig berichtet worden), so wollte er doch das Leben in Amerika schildern, wie er es sah.
„Der Zweck Ihres Besuches?“, wurde er von dem Einwanderungsbeamten gefragt.
„Ein kurzer Aufenthalt in den Staaten“, antwortete er unverbindlich.
„Wie lange gedenken Sie zu bleiben?“
„Ungefähr vier Wochen.“
Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass sein Visum früher ablief – doch Amerika nahm ihn mit Gleichmut auf. Der Einwanderungsbeamte empfahl ihm lediglich, das Visum so bald wie möglich verlängern zu lassen; es sei immer gut, sich für alle Fälle zu sichern – er könnte krank werden, oder andere unvorhergesehene Ereignisse könnten ihn aufhalten. Und auch für spätere Reisen sei es besser.
Damit durfte unser Autor zur Zollabfertigung weitergehen, wo ihm Sekunden später seine Koffer auf einer Gleitbahn entgegenkamen. Praktische kleine Karren standen bereit, mit denen er sein Gepäck zu einem Förderband fuhr, das es zum Ausgang weitertransportierte. Nach einer flüchtigen Kontrolle wurde er schließlich in eine riesige Halle entlassen – und glaubte in einen Basar geraten zu sein. Er sah schreiende Leuchtreklamen, Läden, Zeitungsstände, Glasschaukästen, Reisebüros, Auskunftsschalter und Büros der Flugverkehrsgesellschaften, und überall wimmelte es von Menschen. Unzählige Türen führten in alle Richtungen, Fahrstühle glitten in obere Stockwerke, und Rolltreppen verschwanden nach unten. Doch gelangte er schneller, als er es für möglich gehalten hätte, ins Freie und fand sich einem Strom von Taxis und langen Reihen von Autobussen gegenüber: Willkommen in New York, Fremder, fahr nur herum und lass dich beeindrucken!
Er stieg in einen Bus und hatte nach wenigen Minuten das Flughafengelände mit seinen Kontrolltürmen, den unter dem Motorenlärm erdröhnenden Rollbahnen, den von fieberhafter Geschäftigkeit erfüllten modernen Gebäuden, den gewundenen Straßen und dicht besetzten Parkplätzen hinter sich gelassen. Er fuhr aufs Geratewohl in Richtung Manhattan und überließ sich ganz den Eindrücken des Augenblicks – ohne zu ahnen, dass er kaum vierzehn Tage später wieder hier sein und durch ein Labyrinth von Gängen („Folgen Sie dem grünen Licht … Folgen Sie dem roten … Versichern Sie Ihr Leben für einen Dollar …“) einem Flugzeug zustreben würde, das Anschluss nach Louisville, Kentucky, hatte.
In Louisville, wo er rasende Zahnschmerzen bekam, die ihn für unbestimmte Zeit aufzuhalten drohten, erinnerte er sich dankbar an den ersten Amerikaner, mit dem er auf amerikanischem Boden gesprochen hatte – an jenen wohlmeinenden Einwanderungsbeamten, für den er ein gewöhnlicher Tourist unter Millionen anderen gewesen war …
Doch unser Autor greift vor: Es ist wohl besser, wenn er seine vielen und sehr verschiedenartigen Erlebnisse in den Vereinigten Staaten der Reihe nach erzählt.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.
Erstmals 1981 erschien im Kinderbuchverlag Berlin „Staatenbildende Insekten“ von Wolf Spillner: Diese kleine Insektenkunde erzählt vom Jahresstaat der Wespen und Hummeln, berichtet über die soziale Gemeinschaft eines Bienenvolkes, das in einem Dauerstaat lebt, und hilft auch, das scheinbar heillose Durcheinander eines Ameisenhügels zu verstehen. Die mannigfaltige und in der Natur nicht in allen Einzelheiten beobachtbare Lebensweise der Staatenbildenden Insekten wird eindrucksvoll und leicht verständlich dargestellt. Im folgenden Ausschnitt geht es zum Beispiel um Hummeln:
„DIE PELZIGEN SAMMLER
Hummeln sehen freundlich aus. Sie wirken so behäbig, dick und pelzig. Oftmals sind sie farbig schön gestreift. Ihr brummelnder Flugton ist laut und tief.
Schon im zeitigen Frühjahr, wenn die Weidenkätzchen blühen und die ersten Zitronenfalter fliegen, sind Hummeln bereits auf der Suche nach Blütenstaub und Nektar. Wie bei den Faltenwespen überleben nur die befruchteten Weibchen den Winter. Sie beginnen schon bald, ihr Nest zu bauen. Manche Arten nisten im Moos, andere im Wurzelfuß von Büschen oder, wie die große Erdhummel, in Mauselöchern und anderen Höhlen des Bodens.
Die Hummeln gehören zur großen Familie der echten Bienen. Sie leben in ziemlich kleinen Staaten. In einem Nest der Erdhummel schlüpfen höchstens 500 Nachkommen. Dort, wo es sehr kalt ist, wie in Lappland und Grönland, gründen die Hummeln gar keine Staaten. Vielmehr leben sie dort wie die einsamen Bienen. An der dichten Behaarung der Hummeln ist deutlich zu erkennen, dass sie auch dem Leben unter niedrigeren Temperaturen angepasst sind.
Faltenwespen ernähren sich von Zuckersäften und Nektar, aber sie füttern ihre Larven mit Fleisch. Alle Bienen dagegen, die in Staatengemeinschaften leben, also auch die Hummeln, versorgen ihre Brut mit Blütenstaub und Nektar. Und noch eine Besonderheit haben viele: Sie können Wachs erzeugen. Es tritt in winzigen Schüppchen aus den Wachsdrüsen ihres Hinterleibes aus, wird mit den Beinen abgenommen und mit den Mundwerkzeugen geknetet. Das ist der wichtigste Baustoff für ihre Nester. Bei den Hummeln scheiden sowohl die Vollweibchen wie die Hilfsweibchen Wachs aus. Im Staat der Honigbiene vermögen das hingegen nur die Hilfsweibchen, die Arbeiterinnen. Große Baumeister sind die Hummelweibchen nicht. Ihre Nester sind mit den kunstvollen Wabenbauten der Papierwespen oder der Honigbiene nicht zu vergleichen.
Das nestgründende Hummelweibchen glättet den Boden der gewählten Erdhöhle, legt eine Wachsschicht darauf aus, und in der Nähe des Höhleneingangs baut es zunächst ein Vorratsgefäß. Dieser offene Topf aus Wachs wird mit Honig gefüllt. Er dient dem Weibchen an kalten und regnerischen Tagen als Nahrungsreserve. Solange Flugwetter herrscht, sammelt es Blütenstaub. In seinem dichten Haarkleid bleiben die Staubkörnchen der Blüten leicht hängen. Manchmal sehen die sammelnden Hummeln regelrecht bepudert aus. Sie tragen diese Pollenkörnchen jedoch nicht im Haarkleid nach Hause, sondern kämmen den Blütenstaub mit feinen Bürsten der Hinterbeine aus und schieben ihn mit raschen Bewegungen in die Körbchen an beiden Hinterbeinen. Dort wird Pollenkorn um Pollenkorn festgedrückt, bis die Hummel nach dem Besuch mehrerer Blüten richtige Blütenstaubhöschen trägt. Sie leuchten goldgelb, wenn sie damit zu ihrem Nest fliegt.
Aus Pollen und etwas Nektar knetet die Hummelmutter einen dicken Futterbrei auf dem Wachsboden des Nestes. Darauf legt sie die ersten Eier ab und baut erst dann eine Kuppel aus Wachs und Blütenstaub darüber. Die schlüpfenden Larven fressen die vorbereitete Nahrung. Von Zeit zu Zeit öffnet die Hummelmutter die Wandung und reicht den Larven mit dem Rüssel neues Nektargemisch, bis sie ausgewachsen sind und sich verpuppen können. Dazu bauen sie unregelmäßige, aneinandergeklebte Kokons, aus denen sie nach ihrer Puppenruhe schlüpfen.
Die jungen Hummeln sind viel kleiner als ihre Mutter. Sie legen keine Eier, aber sie erzeugen Wachs und sind beim weiteren Ausbau des Nestes tätig. Sie fliegen auch bald schon aus, um Pollen und Nektar zu sammeln. Leergewordene Kokons, aus denen sie schlüpften, werden von ihnen mit Honig gefüllt. Je mehr Hilfsweibchen schlüpfen, desto seltener fliegt die Nestmutter. Sie bleibt im kleinen Staat, baut weiter, legt Eier, aus denen neue Larven schlüpfen, und füttert sie. Mehr und mehr große Brutzellen werden vom Vollweibchen und seinen kleineren Töchtern gebaut, und in die freigewordenen Kokons tragen sie Vorräte ein. So stehen im Hummelnest die Brutzellen, die Honigtöpfe und die gefüllten Kokons regellos durcheinander. Auch die Arbeitsteilung unter den Hilfsweibchen ist nicht streng geordnet und vom Entwicklungsstand abhängig wie im Nest der Honigbiene.
Die meisten flugfähigen Junghummeln sind als Sammlerinnen tätig. Ob sie ihren Nestschwestern allerdings Nachricht von reichen Nahrungsquellen übermitteln können, ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass sie sich Merkmale für ergiebige Trachtquellen rasch einprägen können. Außerdem wurde ermittelt, dass sie „blütenstet“ sind. Das heißt, sie fliegen nicht von einer Rotkleeblüte auf eine Wucherblume und weiter zu einer Ritterspornblüte, sondern sie bleiben auf ihren Suchflügen bestimmten Blütenarten treu.
Die meisten Hummelarten haben besonders lange Rüssel, mit denen sie auch an solchen Blüten, die sehr tiefe Röhren haben, bis zum Nektar gelangen können. Einige Pflanzen sind regelrecht auf Hummeln angewiesen, weil sie von anderen Bienen nur selten oder gar nicht angeflogen werden. Wenn ihre Blüten jedoch nicht beflogen werden, wird auch kein Blütenstaub übertragen, sie setzen dann keinen Samen an. Dafür ist der Rotklee das beste Beispiel.
Als vor mehr als hundert Jahren der erste Rotklee aus Europa nach Neuseeland gebracht und dort angebaut wurde, wunderten sich die Farmer, dass er keine Samen trug. Die Hummeln fehlten, um ihn zu bestäuben. Sie allein mit ihren langen Rüsseln befliegen seine Blüten. Also wurden auch Hummeln nach Neuseeland gebracht, die sofort an den Rotkleeblüten saugten, sie bestäubten und somit für Samenbildung sorgten. Inzwischen haben die Imker allerdings auch eine Honigbienenrasse gezüchtet, die einen längeren Rüssel trägt und ebenfalls Rotklee bestäuben kann. Manche Hummeln machen sich nicht die Mühe, tief in die Blüten vorzudringen. Sie beißen mit ihren kräftigen Kieferzangen die Blütenröhrchen von außen auf und saugen dann den Nektar auf leichte Weise!
Im Hochsommer ist der Staat der Hummeln am volkreichsten. Dann sind nahezu alle Hilfsweibchen geschlüpft. In größeren Kokons reifen die Puppen der künftigen Vollweibchen und der Männchen. Um diese Zeit können in den Hummelstaaten viele Dutzend Hilfsweibchen mit ihrer Mutter leben.
Ihr Nest ist zwar nur einfach, aber es reicht doch voll aus, um die Art zu erhalten. Die Kuppel aus Wachs, die oftmals mit Harzteilchen durchsetzt ist und darüber noch von einer Schicht aus Moos und Halmen bedeckt sein kann, sichert ihnen eine gleichmäßige Wärme. Frischluft bringen die Hummeln ins Nest, indem sich ein Hilfsweibchen, vor allem in den Morgenstunden, in den Nesteingang stellt und ausdauernd mit den Flügeln schwirrt. So wird nicht nur verbrauchte Luft aus dem Nest entfernt, sondern auch die Temperatur geregelt. Sie beträgt wie im Papiernest der Hornissen durchschnittlich 30 Grad Celsius.
Die Männchen im Hummelnest schlüpfen vor den jungen Vollweibchen. Innerhalb des Nestes haben sie keine Aufgaben. Sie können kein Wachs bereiten, und sie tragen auch keine Nahrung ein. Vielmehr verlassen sie ihren Staat recht bald und wählen sich draußen Reviere. Sie saugen Nektar an Blüten und fliegen häufig immer wieder auf denselben Bahnen in einem bestimmten Gebiet. Diese Flugreviere sind etwa 50 bis 100 Meter lang. Die Männchen warten auf junge Weibchen ihrer Art, die aus den Nestern ins Freie kommen. Die Flüge der Männchen sind Balzflüge. Sie fliegen in Kreisen und Schleifen und Geraden. In ziemlich regelmäßigen Abständen landen sie auf Blättern, Zweigen oder Halmen und setzen Duftmarken. Mit ihren Mundwerkzeugen streifen sie feine Spuren einer Drüsenflüssigkeit ab, die von den empfindlichen Sinneszellen in den Fühlern der Weibchen wahrgenommen werden können. Die Duftmarken werden immer wieder erneuert. Sobald die jungen Vollweibchen aus ihren großen Puppen im Hummelnest geschlüpft und flugfähig geworden sind, finden sie schnell die Männchenreviere. Die Männchen sterben bald nach der Paarung, und die begatteten Weibchen suchen sich ein Versteck für den Winter.
Ehe die Nestgründerinnen des nächsten Jahres sich Winterquartiere in Moospolstern, unter Baumwurzeln oder im Erdboden suchen, geht der alte Hummelstaat schon zugrunde. Die Hilfsweibchen reißen die letzte Brut aus den Zellen, und sie stechen sich gegenseitig zu Tode.“
Erstmals 2003 veröffentlichte Maria Seidemann im Deutschen Taschenbuchverlag München (dtv) „Gisbert der Klarsichtige“. Bereits im Jahr zuvor, 2002, hatte Seidemann „Gisbert, der Kurzsichtige“ veröffentlicht: Peggy und Paul staunen nicht schlecht, als Gisbert, der tollpatschige Knappe aus dem Mittelalter, bei ihnen auftaucht. Über ein geheimes Zeitloch in der alten Burgruine ist er in die Jetzt-Zeit gelangt und will bei den Geschwistern bleiben. Na ja, eigentlich würde er genauso gerne ein ruhmreicher Ritter in seiner eigenen Zeit werden – aber er sieht nun mal so schlecht! Für Peggy und Paul steht fest: Erst einmal braucht Gisbert eine Brille, so kann er vielleicht doch noch seine mittelalterlichen Abenteuer bestehen. Doch dann überredet Gisbert Paul, mit ihm in die gefährliche Ritterzeit zu kommen …
„1. Gisbert ist wieder da
In der Nacht hat es geregnet. Die Morgensonne scheint auf die feuchten Steinplatten in der Fußgängerzone, Dunstwölkchen schweben über den Pfützen. Gelbe, herzförmige Blätter taumeln von den Linden am Markt.
„Der Sommer ist endgültig vorbei“, mault Peggy. Sie schlenkert ihre Schulmappe am Schulterriemen und stößt bei jedem zweiten Schritt missmutig mit dem Fuß gegen den Bordstein.
Paul zuckt mit der Schulter. „Na und? In vier Wochen sind schon wieder Herbstferien.“
Er zieht seine Schwester beiseite, weil ihnen ein Gabelstapler entgegenkommt. Der Stapler hat einen Turm Tomatenkisten geladen und kurvt geschickt zwischen den Marktständen hindurch. Plötzlich ein dumpfer Knall! Holz splittert, eine Frau schreit auf.
Erschrocken drehen sich Paul und Peggy um. Die ganze Ladung Tomaten ist auf die Steinplatten gekippt! Zerbrochene Kisten liegen zwischen roten, matschigen Haufen.
Quer über den Markt flüchtet eine dünne Gestalt mit flatternden, schulterlangen Haaren. Die Gestalt trägt ein graues, knielanges Hemd, Ledersandalen und am Gürtel einen Dolch.
Verblüfft reißen die Geschwister die Augen auf.
„Das ist doch …“, murmelt Paul und schiebt seine heruntergerutschte Brille hoch.
„Gisbert!“, schreit Peggy und rennt der Gestalt nach, die in der Rathauspassage verschwunden ist.
Sie holen Gisbert vor der Tiefgarage ein. Er scheint sich gar nicht zu wundern, dass er ihnen hier begegnet.
„Ich habe euch so lange gesucht!“, sagt er vorwurfsvoll und außer Atem von seiner Flucht vor dem Tomatenfahrer. „Gestern habe ich den ganzen Tag vergebens vor eurer Schule gewartet.“
Peggy verdreht die Augen. „Gestern war doch Sonntag! Was machst du überhaupt hier? Wieso bist du nicht zu Hause in deiner Burg? Bist du etwa abgehauen? Durch das Zeitloch?“
Gisbert nickt nur. Schweigend stehen sie einander gegenüber – die Geschwister und der Knappe Gisbert aus dem Mittelalter. Ein unbehagliches Gefühl ergreift von Paul Besitz. Gisberts Auftauchen bringt bestimmt Ärger und einen gewaltigen Haufen Probleme – wie damals in den Sommerferien, als sie Gisbert zum ersten Mal getroffen haben. Als sie zufällig in der Burg das Zeitloch entdeckten und sich plötzlich im zwölften Jahrhundert wiederfanden. Als Gisbert schwer krank wurde und nur deshalb am Leben blieb, weil sie ihn durch das Zeitloch mit in die Gegenwart nahmen und ins Krankenhaus brachten. Paul bekommt jetzt noch Herzklopfen, wenn er an die Gefahren und Verwicklungen zurückdenkt, die sie bewältigen mussten, bis jeder wieder dort war, wo er hingehörte: Gisbert im Mittelalter und die Geschwister zu Hause, in der Gegenwart, in Sicherheit.
„Ich wollte mir doch nur etwas zu essen kaufen“, sagt Gisbert. „Mich hungert so! Ich habe den Wagen nicht gesehen, und die Kisten mit den roten Früchten sind gleich umgekippt, als ich dagegen gestoßen bin.“
Paul kann sich gut vorstellen, wieso Gisbert den Gabelstapler nicht gesehen hat. Schließlich hat er selbst bei seinem unfreiwilligen Aufenthalt in der Burg miterlebt, wie kurzsichtig Gisbert ist. Er müsste eine Brille tragen, denkt Paul, genau wie ich. Nur leider waren die Brillen im zwölften Jahrhundert noch nicht erfunden.
Peggy wühlt in ihrer Schulmappe und hält Gisbert die Frühstücksbox hin. „Du hast Glück, dass unsere Eltern verreist sind. Unsere große Schwester Katrin kümmert sich nicht drum, was wir als Schulfrühstück mitnehmen.“
In der Schachtel liegen Schokoriegel, eine Keksrolle und eine Banane. Gierig greift Gisbert zu.
Paul fragt: „Warum hast du uns gesucht? Warum bist du aus dem Mittelalter abgehauen? Was willst du hier?“
„Burggraf Berko ist tot“, antwortet Gisbert kauend. „Er ist bei dem Kaiserturnier schwer verletzt worden und an seinen Wunden gestorben. Herrin Ingeborg trauert um ihn und kümmert sich überhaupt nicht mehr um mich. Auf der Burg geht alles drunter und drüber. Der Mönch Eilif hat die Macht an sich gerissen. Er benimmt sich, als wäre er der Herr. Schon wochenlang hat er mir keinen Unterricht mehr erteilt. Er schikaniert mich und ermuntert das Gesinde, mich zu verspotten.“
„So ein Mist!“, murmelt Peggy mitfühlend.
„Aber dein Vater“, erinnert sich Paul. „Herzog Albin war doch unterwegs zu Berkos Burg! Haben eure Diener keine Angst, dass dein Vater sie bestraft?“
„Mein Vater ist nicht eingetroffen“, sagt Gisbert. „Wir haben keine Nachricht mehr von ihm bekommen. Wahrscheinlich ist er überfallen und getötet worden. Und Bruder Eilif denkt jetzt, er kann tun, wonach es ihn gelüstet.“
Auf der anderen Straßenseite bremst ein Fahrrad mit auffälligem Zebramuster. Der Fahrer ist ein Junge mit dunklen Locken.
„He, Peggy, du hast ja heute die Ruhe weg!“, ruft er. „Willst du dich vor dem Mathetest drücken?“
„Verdammt“, zischt Peggy. „Hab ich total vergessen! Carlo, du musst mich mitnehmen!“
Sie rennt über die Straße, schwingt sich hinter Carlo auf den Gepäckträger und klammert sich an ihm fest. Schnaufend tritt Carlo in die Pedale.
„Ich komme bestimmt auch zu spät“, sagt Paul hastig. „Ich muss ins Museum, heute ist der erste Tag von unserer Projektwoche!“
„Was immer dieses Wort bedeuten mag“, antwortet Gisbert, „ich komme mit dir.“
Entsetzt wehrt Paul ab. „Kommt nicht infrage!“
Gisbert schaut ihn traurig an. „Ich verstehe. Du schämst dich für mich, weil auch du mich für ungeschickt hältst. Dabei weißt du doch, dass ich kein Tölpel bin – ich sehe nur schlecht! Und ich dachte, du bist mein Freund …“
„Nein, so habe ich das nicht gemeint“, beteuert Paul. „Aber wie soll ich denn den anderen erklären, wer du bist, die würden mich doch für bekloppt halten.“
„Bekloppt? Was bedeutet dieses Wort? Ist das ein Ausdruck für jemanden, der viele Freunde hat?“
Paul stöhnt. „Pass auf, Gisbert – wir könnten es doch so machen: Ich gehe jetzt zu meiner Klasse und du kehrst zurück ins Mittelalter. Heute Nachmittag treffen wir uns in der Burg, oben auf dem Turm, beim Zeitloch. Du wartest auf deiner Seite und ich komme zu dir rein. Um drei, einverstanden?“
Gisbert schüttelt den Kopf. „Bruder Eilil lässt das Zeitloch bewachen. Ich bin gestern in einem unbeobachteten Augenblick hinausgelangt, als alle zum Gebet an Berkos Sarg unten in der Gruft versammelt waren. Und ich gehe nicht zurück. Nie mehr! Im Technik-Zeitalter gefällt es mir besser als im Mittelalter.“
„Mensch, Gisbert!“ Nervös schaut Paul auf seine Uhr. In genau vier Minuten muss er vor dem Museum sein! „Du findest dich doch hier gar nicht zurecht!“
„Deshalb will ich ja mit dir gehen, Paul! Wir sind Freunde, hast du das vergessen? Du hast mir das Leben gerettet und deshalb bist du für mich verantwortlich.“
„Ich nicht“, widerspricht Paul. „Carlos Vater hat dir das Leben gerettet, er hat dich operiert.“
Unschlüssig mustert er Gisberts Kittel, den Gürtel mit dem Dolch, die nackten Beine. Gisbert sieht nicht aus wie der Sohn eines Herzogs, sondern wie einer von den Pennern unten am Hafen. Paul stellt sich vor, was seine Klassenkameraden für Bemerkungen machen werden, wenn er mit Gisbert beim Museum auftaucht. Und erst seine Lehrerin!
Aber auf einmal sieht er, dass Gisbert trotz der warmen Septembersonne friert. So dünn ist er, und ganz grau um Mund und Augen! Wenn er nun wieder krank wird?
„Also gut“, seufzt Paul. Er holt seinen Sportanzug aus dem Rucksack und gibt ihn Gisbert. „Du kannst mitkommen, aber nur unter einer Bedingung: Du ziehst dir andere Sachen an und du hältst den Mund, verstanden? Alles andere besprechen wir hinterher zu Hause.“
In der Einfahrt zur Tiefgarage zieht Gisbert sich um. Das Hemd und den Dolch verstaut Paul in seiner Tasche. Es ist sieben Minuten nach neun Uhr.“
Erstmals 2005 veröffentlichte Hans-Ulrich Lüdemann den vierten und zugleich letzten Teil seiner Rollstuhl-Reisen-Reihe Happy Rolliday IV „Dubai – Sydney – Singapur und so weiter“: Mit einem größerem Irrtum ist wohl selten eine Weltreise begonnen worden: Als die Frage stand, wann wir unseren Australien-Trip starten sollten, da fielen mir die XX. Olympischen Sommerspiele 2000 ein mit ihrem herrlichen Sonnenwetter. Mein Gedankenfehler lag darin, dass jene Spiele statt im September bereits Ende Februar veranstaltet worden waren. Also planten wir unsere Reise von Mitte Februar bis Anfang März 2003. Zum Glück hat sich dieser Irrtum nicht negativ ausgewirkt. Ab München flogen wir mit Emirates nach Dubai, um hier einen so genannten Stopover einzulegen. Zum ersten Mal in unserem Leben erhielten wir eine Ahnung von Tausendundeiner Nacht. Das einst kleine primitive Fischerdorf hatte sich wie andere Orte bzw. Emirate durch das Öl derart entwickelt, dass der Tourist sich schon genau umschauen musste, wollte er Spuren der jüngsten Vergangenheit entdecken. Zu diesen gehört auch die Goldstraße in Alt-Dubai. Mehr als 200 Läden boten seinerzeit Goldwaren an; da sie von einer Art Produktionsgenossenschaft nach stets gleichem Muster hergestellt wurden, stumpfte unser anfängliches Interesse relativ schnell ab. Das war so, als wäre man in einer Straße, in der nur Bäckereien ihr einheitliches Sortiment Torten anbieten würden. Resultat unserer Überfütterung – ein Verzicht auf jedwedes Gold …
Die Supermärkte für Waren aller Art erwiesen sich als Konsumtempel, zumal der Kurs des Dirham zum Euro wohl bewusst niedrig gehalten wird, um etwaigen Käufern die Entscheidungen zu erleichtern. Vor allem Schmuck, Schweizer Uhren und textile Markenware waren durch diesen Geschäftstrick sehr gefragt.
Nach diesem Stopover brachte Emirates uns über einen kurzen Zwischenstopp in Singapur nach Sydney. Da es vormittags war, hatten wir genügend Zeit, unseren Mietwagen zu übernehmen und die Herbergseltern aufzusuchen. Die älteren Eheleute waren erfahrene Gastgeber. Sie sparten nicht mit Tipps. So verlebten wir knapp zwei Wochen in und um Sydney. Dazu gehörten Abstecher in die Blue Mountains, zu herrlichen Seebädern am Pazifik und in verschiedene Museen. Kreuzungspunkt war stets der Zentrale Fährhafen – jeden Tag quasi Ehrenrunden um den einmaligen Opernbau im Hafen Sydneys! Und über uns auf der Harbour Bridge bekämpften Unentwegte in über 130 Metern Höhe ihre Angst oder Übelkeit …
Es blieb nicht aus, dass wir auch im Hafen faulenzten, mit offenen Mündern ein riesiges Kreuzfahrtschiff beim Navigieren beobachteten oder einen Nachbau der Bounty bestaunten, der seinen Dienst als Vergnügungskahn anbot. Auch die unbeschwerte Art der Aussis im Umgang miteinander war auffällig: ob Schwarz mit Weiß oder Weiß mit Gelb oder Gelb mit Schwarz, neugierige aufdringliche Blicke wie zu Hause leider üblich, sahen wir nie.
Das Zusammenleben verschiedener Rassen bzw. Völkerschaften funktionierte nach unserem Augenschein ebenso bei unserem zweiten Stopover in Singapur. Eine Fünfmillionenstadt wie sie wohl in ihrer Sauberkeit und Ordnung einzig auf unserem Planeten existiert. Wer in der 2,2 km langen Orchad Road shoppen will, kann es bei über 5.000 Markenartikeln nach Herzenslust tun. Steht doch der Singapur Dollar wie der Australische Dollar günstig zu unserem Euro.
Ein riesiger Freizeitpark auf der Insel Sentosa lässt an Vergnügungen keine Wünsche offen. Klarkommen muss man allerdings mit dem feuchtwarmen Klima – der beeindruckende Botanische Garten Singapurs ist Beweis genug.
Unsere Tour fand über Dubai und München ihren Abschluss. In Berlin war es wie erwartet nasskalt. Gegen solche Unwirtlichkeit half nur, sich der schönen Stunden unserer Reise zu erinnern. Und hier ein kurzer Ausschnitt, der gleich mit einem Schuss Gesellschaftsunterricht beginnt, erteilt von einem bedeutenden russischen Schriftsteller und Journalisten, der in seinem Leben selber viel gereist war:
„Das Wichtigste für einen Reisenden ist der Weggenosse.
In Gesellschaft eines guten und verständigen Weggefährten lassen sich selbst Kälte und Hunger leichter ertragen.
LESKOW Der versiegelte Engel
Würden wir Nikolai Leskow (1831-1895. Ein in Russland weit gereister gebildeter Autor, den Maxim Gorki auf Augenhöhe mit Tolstoi, Turgenjew und Gontscharow stellte. Nach Leskows Novelle Eine Lady Macbeth aus Mzensk schuf in den Dreißigern keine Geringerer als Dimitri Schostakowitsch eine noch heute gültige Opernfassung) nicht beipflichten, dann hätten wir auf unsere Reise verzichtet müssen. Wir nahmen jene Worte als ein gutes Zeichen. Die Sterne standen für uns günstig: Der Valentinstag zum Gedenken an alle Liebenden fand am gestrigen Freitag statt. Obgleich Lutzens Heimatdorf näher am Flughafen als bei Altglienicke liegt, konnte ich alle überzeugen, dass es wegen nicht vorhersehbarer Pannen oder Staus sicherer war, wenn er bereits bei uns übernachten würde. Also brachten seine Eltern ihn am Freitagnachmittag vor der Abreise. Heute war Samstag – unsere Tour bis ans andere Ende der Welt begann gegen 9:00 ab Berlin-Tegel via München. Jens war mit seinem Kombi nach Altglienicke gekommen und hatte den mondeo gegen unseren großräumigen vito l getauscht. Trotz angesagter Demonstrationen in Berlin wegen des drohenden kriegerischen Einfalls der U.S.A. im Irak kamen wir pünktlich auf dem flughafen otto lilienthal (Namensverleihung am 7. Juni 1988; internationale Legende TXL) an. Es war wohl noch zu früh am Tage für die aus ganz Deutschland herbeigeeilten Kriegsgegner. Dem jüngsten Sohn liegen keine großen Worte – er kehrte ohne große Abschiedszeremonie nach Altglienicke retour. Plötzlich standen wir in der Abfertigungsschlange – jetzt gab es für unser Dreigestirn kein Zurück mehr.
Da sich auf dem Röntgenschirm beim Durchlauf der Koffer meiner Frau etwas nebulöse Konfigurationen zeigten, war sie auch dieses Mal sozusagen Mode bei den wachsamen Zöllnern. Doris wurde ausgerufen und ihre Erklärung wirkte wie eine kleine Unterweisung im Dienst nach dem allseits bekannten Motto learning by doing: Was wie Verbindungskabel für einen Sprengstoffzünder oder wie raffiniert in Schläuche verpacktes Rauschgift aussah, entpuppte sich vor den gestrengen Augen einiger Männern und Frauen in Uniform als so genannte Einmal-Katheter samt Auffangbeutel.
„Ach je!“, lautete der impulsive Kommentar zur Ursache jener Bildstörung im Kontrollraum.
Nach dieser Schau in Sachen Hilfsmittel für einen Behinderten waren wir schließlich mit allen Überprüfungen durch. Jetzt hieß es, sich in Geduld fassen und darauf hoffen, dass die avisierten Helfer vom Deutschen Roten Kreuz rechtzeitig auftauchen würden, damit wir als Erste an Bord gelangten. So ist es – falls der behinderte Fluggast korrekt angemeldet wurde – international üblich: Hinein vor allen anderen Passagieren und heraus als Bummelletzter. Infolge dieses leider nicht immer eingehaltenen Reglements störe ich kaum den normalen Ablauf vor dem Start und nach der Landung …
Obwohl ich mich bemühte, äußerlich ruhig zu erscheinen – im Bauch verspürte ich ein leichtes Kribbeln. Auf den Tag genau waren vier Monate vergangen, als wir an gleicher Stelle auf den Abflug nach Frankfurt am Main warteten, um einen Urlaub in Florida zu verleben. Heute würde der Flieger uns erst nach München bringen. Dort war der Umstieg in einen Airbus der international renommierten emirates vorgesehen. Von 14:45 bis 23.35 dauerte der Flug EK 052 nach Dubai. Und Dörte rechnete wie so oft die günstigste Variante wegen des Katheterisierens aus. Würden wir an Bord ohne auskommen, wenn meine Blase letztmalig vor dem Weiterflug ab München entleert wurde? Die Devise hieß für mich, unterwegs nur soviel wie nötig zu trinken. Das Hantieren mit einem Katheter im voll besetzten Flieger war nicht nur wegen der engen Sitzreihen problematisch – es gab tatsächlich immer wieder Zeitgenossen, deren Hals gar nicht lang genug gestreckt werden konnte, um möglicherweise eine obszöne Handlung auszumachen …
Irgendetwas schien heute im Transitraum anders zu sein als beim letzten Mal. Als ich mich suchend umsah, kam mir plötzlich die Erleuchtung: Nirgendwo lagen wie sonst üblich die gängigen Tageszeitungen aus, kein Teeautomat stand für durstige Kehlen bereit, von der Möglichkeit, einen weißen Plastbecher mit heißem Kaffee zu füllen, ganz zu schweigen! Dieser kostenlose Service für die Passagiere – perdu, Madame beziehungsweise Monsieur! Das handfeste Duo vom DRK versöhnte mich etwas mit dem reduzierten Service. Obwohl draußen die Sonne schien, hatte das Bodenpersonal alle Hände voll zu tun gehabt, die Außenanlagen unseres Fliegers zu enteisen. Jetzt übernahmen die beiden Männer das Kommando über mich und den Rollstuhl. Obwohl noch genügend Zeit war, ging es zügig im so genannten Finger zum Einstieg. Doris und Lutz bemühten sich, an unseren Fersen zu bleiben. Am Ende des Ganges wurden wir von einer professionell lächelnden, aber nichtsdestoweniger ansehnlichen Stewardess begrüßt. Der Bordrollstuhl – von mir Stullenbrett auf Rädern genannt – stand schon bereit. Mit einem kräftigen Ruck wurde ich umgesetzt und auf das superschmale Teil geschnallt. Der Helfer hinter mir kippte das Ganze an und – ab ging die Luzie!
„Gott befohlen!“, brummelte ich in meinen Bart.
Es klingt womöglich für einen gottlosen Menschen etwas lächerlich – aber beim Ausladen in München würde ich diesen abergläubischen Ritus mit ‚Gott sei Dank!’ beschließen. In meiner Erinnerung hatten und haben beide Beschwörungsformeln auf allen Flugreisen Bestand. Ob das an der Höhe im Himmel liegt – ich weiß es nicht zu sagen. Irgendetwas muss aber dran sein, weil ich derartige Anwandlungen beispielsweise niemals im Leben bei Dampfer- oder Autofahrten verspürte. Die Beschwörung eines höheren Wesens wurde übrigens in München auf eine besondere Probe gestellt. Nein, mit den Männern vom malteser (Malteserorden ging aus den Maltesern, ältester um 1099 in Jerusalem gegründeter geistlicher Ritterorden, hervor. Aufgaben waren die Krankenpflege und der Waffendienst; ab 1530 auf Malta. 1540 spaltete sich in Brandenburg eine protestantische Richtung ab, die sich auch heute noch als Johanniter (ebenfalls Unfallhilfe) bezeichnen. Der katholische Zweig nennt sich seit 1530 Malteserorden mit Sitz im Vatikan. Malteser-Kleidung ist ein schwarzer Umhang mit dem achtspitzigen weißen Malteserkreuz. Der Orden unterhält heute diplomatische Beziehungen auf Botschafterebene in der ganzen Welt. Seit 1994 besitzt er Beobachterstatus bei der UN. UNO-Vertretungen in New York, Genf, Wien, Paris und Rom durch Ständige Vertretungen) hilfsdienst klappte es beim Ausladen und Einladen ähnlich gut wie in Berlin. 2001 auf dem Trip nach Kapstadt hatten wir zwar andere Erfahrungen gemacht, als wir über eine Stunde im Flieger saßen, ohne dass jemand vom Hilfsdienst kam. Die Crews hatten schon gewechselt und eine Putzkolonne wieselte um uns herum, weil die Maschine für einen Einsatz in die Karibik bereitgestellt werden sollte. Dörte, Jens und ich hockten da wie bestellt und nicht abgeholt. Wir fürchteten bereits, unseren Anschluss nach Kapstadt zu verpassen. Schließlich gab es nur diesen einen um die Mittagszeit. Mein Weib musste erst laut werden – im Übrigen lief auch der neuen Besatzung die Zeit davon – dann klappte plötzlich alles wie am Schnürchen. Als ich mich nach unserer Rückkehr per Fax beim malteser hilfsdienst beschwerte, kam postwendend ein Anruf vom Chef. Quintessenz: Das Problem sei vom Flugkapitän verursacht worden. Bereits beim Anflug muss er jeden von der Norm abweichenden Passagier dem Tower zur Weitermeldung an jenen Hilfsdienst durchgeben. Also hatte ich die Falschen angezählt. Im Nachhinein war ich pfiffiger. Heute führten wir eine Kopie vom Fax mit uns, auf dem das reisebüro dietrich folgende Bitten weitergeleitet hatte: 1. Umsteigehilfe von Sitz zu Sitz leisten; 2. Ersatzrollstuhl am Flughafen stellen; 3. gegebenenfalls medizinische Betreuung organisieren …
Bevor die malteser sich von uns verabschiedeten, hieß es, wir sollten die Maschine verlassen, weil vor dem Abflug noch ein Sicherheits-Check notwendig war. Also wieder vom Sitzplatz hinüber zum Stullenbrett auf Rädern und raus auf den Flugsteig. Da für die Durchsicht mehr als eine halbe Stunde veranschlagt worden war, wurden die malteser erst einmal woanders tätig. Ich saß derweilen da wie der berühmte Affe auf dem Schleifstein. Vor dem Zeitlimit hieß es, dass alle wieder einsteigen dürften. Unsere Hilfskräfte halfen aber gerade irgendwo auf dem riesigen Areal vom Franz-Josef-Strauss-Airport. Alle wartenden Passagiere begaben sich erneut auf ihre Plätze. Jetzt sah die Crew Probleme auf sich zukommen: Der Flugplan war einzuhalten und der Mann im Rollstuhl noch immer draußen. Dringlich forderten sie über den Tower die malteser an. Beide Männer kamen auch – unter unverhohlener Neugierde aller übrigen wurde ich auf den Platz -D- in der Reihe 18 transportiert. Jetzt war Lutz nicht zur Stelle, da er sich irgendwo die Beine vertrat. Endlich befand sich alles dort, wo es vor einem solchen Flug zu sein hatte. Wir wurden jetzt offiziell an Bord der emirates begrüßt. Pilot und Co-Pilot waren Landsleute. Zwei Stewardessen sprachen deutsch. Wie sich später herausstellen sollte: eine stammte aus Rumänien und die andere war Deutsch-Araberin.“
Erstmals 2012 erschien im Regia-Verlag Cottbus „Ego-Episoden des Alexander Kröger. Wahres, heiter und besinnlich“ von eben jenem Alexander Kröger: Dr.-Ing. Routschek, der an der Bergakademie Freiberg Markscheidewesen studiert, 17 Jahre im Lausitzer Bergbau, danach in der Bauverwaltung gearbeitet hat, der unter dem Pseudonym Alexander Kröger bekannt gewordene Autor Dutzender wissenschaftlich-phantastischer Romane, Kurzgeschichten und Veröffentlicher seiner Stasi-Akte, stellt heiter-besinnliche Episoden und Geschichtchen vor: keine Biografie, dennoch in Jahrzehnten Selbsterlebtes mit unvermeidlichen Zeitzeugnissen. 86 situationskomisch-pointierte, mitunter skurrile aber auch besinnliche, illustrierte Geschichten, die bei reiferen Lesern Erinnern wachrufen, jüngere mit ehemals Alltagsbestimmendem, heute mitunter Lächerlichem, bekannt machen. Und so lesen sich diese oft ironischen, spitzzüngigen und doch oft auch humorvollen Erinnerungen, wie die folgende über einen Paukenschlag am Ende einer Schriftstellerlesung und den schwierigen Umgang mit plötzlich unerwartet verdientem West-Geld:
„Honorarverwirrung
Nun ja, ein wenig Weltoffenheit grenzüberschreitend zu demonstrieren, stand der Obrigkeit gut zu Gesicht. So wurden im Lande allenthalben Städtepartnerschaften vereinbart. Eine solche gab es zwischen Cottbus und Saarbrücken.
Der Austausch einer Schriftsteller-Delegation stand an. Loyal, wie ich war, hatte ich das Glück, dabei zu sein.
Wir waren ihrer fünf, der Parteisekretär des Bezirksverbandes der Schriftsteller an der Spitze.
Wie Exoten wurden wir im Saarland empfangen – unter anderem vom Oberbürgermeister – und auch wie solche behandelt. Eine Brauerei wurde besichtigt (mit ordentlichem Umtrunk), einem Platz der Name unserer Stadt verliehen …
*
Natürlich war auch ein einschlägiger Auftritt, eine Autorenlesung, vorbereitet – im Schloss. Wir fünf Schreiber fanden im überfüllten Saal bei den zahlreichen Zuhörern beifälligen Anklang in Anwesenheit von Rundfunk, Presse und Fernsehen.
Zum Schluss gab es den Paukenschlag: Ein Mensch vom Saarländischen Rundfunk kam auf uns zu mit einem kleinen Packen Geld – Westmark! Jeder von uns, so verkündete er, habe Anspruch auf 500,- Mark Honorar, und das wolle er nunmehr auszahlen.
Unsere Hände zuckten, ausgestreckt zu werden, allein, darüber stand das Menetekel der zu erwartenden heimischen Reaktion. Wir lehnten ab und brachten damit den Rundfunkmann in arge Bedrängnis. Er habe das Geld empfangen, eine Rückbuchung sei kompliziert, und wir hätten doch etwas geleistet, es sei also kein Geschenk!
Schließlich erlösten wir ihn und nahmen an, nicht ohne uns, nachgedrückt vom Sekretär, angemessenes Verhalten nach der Heimkehr vereinbart zu haben.
*
Es gab natürlich ein strenges Du-du!. Beflissen lieferte ich meine 500,- DM bei der Chefin ab. Verstaut in einem Kuvert, verschloss ihr Sekretär das Geld im Safe …
So weit so gut. Die Zeit verfloss …
*
Selbstzerstörerisch und westseits kräftig nachgeholfen kamen die neuen Lebensumstände und blühenden Landschaften auch über mich.
Da ich weder IM (Informeller Mitarbeiter [Spitzel] der Staatssicherheit) war noch anderweitig in früherer Tätigkeit Unbill erzeugt hatte, durfte ich der neuen Obrigkeit dienen und in etwas gehobener Position meine ehemalige Dienststelle abzuwickeln helfen.
*
Eines Tages kam jener zu mir, der mein Saarbrücker Honorar im Safe der Chefin verwahrt hatte, legte mir das nämliche Kuvert auf den Tisch mit der Bemerkung: „Deine fünfhundert Westmark …“`
Und so kam Kröger eine Gesellschaftsordnung weiter (oder auch zurück) doch noch zu seinen verdienten Autorenlohn, der immerhin das Fünffache des kurze Zeit zuvor an die Bewohner der künftigen „Blühenden Landschaften“ nicht ganz ohne Hintergedanken verschenkten Begrüßungsgeldes betrug. Diese „Ego-Episoden“ sagen nicht nur viel über den zu DDR-Zeiten wohl vor allem als SF-Autor bekanntgewordenen Schriftsteller aus, sondern auch über den Charakter sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen jenes deutschen Staates, in dem es lange Zeit auch an West-Geld mangelte. Dabei hätten auch diese 500,- DM statt im Safe zu schlummern, besser sehr gut angelegt werden können.
Aber auch in den anderen vier Sonderangeboten dieses Newsletters stecken viel Wissenswertes und viel Witz im Sinne von niveauvollem Vergnügen.
In diesem Sinne also wieder viel Vergnügen beim Lesen, weiter eine schöne Winterzeit mit frühlingshaften Unterbrechungen, wie es beim Verfassen dieser Zeilen im Radio heißt, sowie der erneute Ratschlag, in diesen schwierigen Zeiten weiter vorsichtig zu bleiben, vor allem aber schön gesund und munter und bis demnächst.
EDITION digital war vor 26 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.000 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.
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