Es ist ein anfangs völlig unerklärlicher Selbstmord, der da im zweiten der fünf aktuellen Angebote passiert, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 19.02. 21 – Freitag, 26.02. 21) zu haben sind. Und Jonas, der Kraftfahrer, der zum Identifizieren des Toten zum Tatort geschickt wird, kann sich das Geschehen anfangs auch nicht erklären. So jedenfalls beginnt die Kriminalerzählung „Jonas wird misstrauisch“ von C.U. Wiesner, zu der der Autor übrigens durch einen authentischen Fall angeregt wurde, bei dem es sich ebenfalls um einen Selbstmord handelte.

Zu den Sonderangeboten des aktuellen Newsletters gehört ein zweiter Krimi, diesmal ein Kriminalroman – „Der vierte Schlüssel“ von Ulrich Völkel.

Um eine junge Frau und um die Aussicht auf eine schnelle Hochzeit und noch viel mehr geht es in „Susis sechs Männer“ von Hildegard und Siegfried Schumacher.

Ein im doppelten Sinne noch kleines Mädchen braucht und findet einen Beschützer. Davon erzählt Elisabeth Schulz-Semrau in „Elchritter“.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Diesmal geht es um einen weit zurückliegenden Völkermord, der aber noch heftigen internationalen Streit auslöst und der auch mehr als hundert Jahre später immer noch neue Opfer fordert.

Erstmals 2002 veröffentlichten Günther Fuchs und Hans-Ulrich Lüdemann im BS-Verlag Rostock „Mördermord. Dokumente und Dialoge“ – mit einem Nachwort von Dr. Stephan Heymann: MÖRDERMORD ist trotz der erfundenen Rahmenhandlung eine authentische Story, sie bedient sich eines über jeden Zweifel erhabenen Materials. Die Rede ist von einem stenografierten Schwurgerichtsprozess in Berlin des Jahres 1921. Angeklagt war ein armenischer Student, den ehemaligen Türkischen Innenminister Talaat Pascha auf offener Straße um die Mittagszeit erschossen zu haben. Das Gericht gab sich große Mühe, die Motive des jungen Mannes zu erfahren. Es stellte sich heraus, dass der einundzwanzigjährige Solomon Teilirian unter einem Trauma litt, entstanden durch die von Türken unter Talaats Ägide gegen die armenische Minderheit ausgeübten Gräueltaten, wie er sie in seiner Kindheit erlebt hatte. Bis zum heutigen Tage leugnet der türkische Staat jenen Genozid. Zur Ehre des Gerichts sei aber erwähnt, dass mehrere Zeugen aus eigenem Augenschein jene unfassbaren Massaker schildern durften. Dennoch kann in der Türkei jedermann gerichtlich belangt werden, der diesen Völkermord öffentlich benennt. Es ist der Fall einer Lehrerin bekannt, die auf eine Frage ihrer Schüler die Schuld der Türkei bejahte – anderntags wurde sie von der Geheimpolizei zum Verhör abgeholt. Unbelehrbar demonstrieren türkische Landsleute jedes Jahr gegen „diese armenische Lüge vom Genozid“, wenn am 24. April während einer diesbezüglichen Veranstaltung in Berlin der Gemeuchelten aus dem Jahre 1915 gedacht wird. Und der Staat Türkei tut noch ein Übriges: Länder, die offiziell den Genozid an den Armeniern als Faktum des Völkermords anerkennen, werden Sanktionen angedroht. Frankreich büßte beispielsweise das Geschäft mit den an den NATO-Staat Türkei zu liefernden Düsenjäger Mirage ein; der USA wird die Kündigung der Lande- bzw. Überflugrechte angedroht. Hat dieses rigide Verhalten gegen NATO-Mitglieder Auswirkungen auf den von der Türkei gewünschten Beitritt in die EU?

Wider Erwarten sprach das Schwurgericht den überführten und geständigen Attentäter frei. Aufgrund der Weltempörung, die die Aussagen des armenischen Schützen zur Folge hatte, flüchteten die Richter respektive die Geschworenen sich in die Anwendung des Paragraphen 51, also im Sinne des Gesetzes nicht schuldfähig. Solomon Teilirian verließ Deutschland als freier Mann, ging zuerst in die USA, heiratete in Europa, wurde zweimal Vater und als er in den Sechzigern des vorigen Jahrhunderts starb, legte die armenische Gemeinde in San Franzisco auf den Sarg ein Fernglas, mit dem der Mörder Talaats tagelang sein Opfer observiert hatte. In diesem Zusammenhang erwähnt Dr. Stephan Heymann in seinem Nachwort, durch seine Studien in Armenien ein Kenner des Sachverhaltes, die Terroranschläge der ASALA (Geheimarmee zur Befreiung Armeniens) 1975 -1985 auf türkische Diplomaten und Einrichtungen, die eine Wiederbeschäftigung mit dem vergessenen Völkermord in internationalen Gremien bewirkten. Es scheint mittlerweile unbestritten, dass der Berliner Attentäter im Auftrag einer Feme-Organisation den Schreibtischmörder Talaat Pascha, er lebte inkognito als Ali Bey in Berlin, eliminierte. Auch bleibt die Frage offen, wer seinerzeit die besten Anwälte Deutschlands bezahlte, die einen Freispruch für den Salomon Teilirian bewirkten.

Dass die Autoren von Mördermord sprechen, fand das Missfallen der Armenischen Kolonie zu Berlin. Es gibt auch eine Art Rivalität zwischen Juden und Armeniern. Letztere fühlen sich zurückgesetzt, weil in der Weltöffentlichkeit stets der Holocaust gewürdigt wird, nicht aber im gleichen Maße das Leid der armenischen Minderheit in der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderte. In einem Telegramm zur Deportation der Armenier wies der Innenminister Talaat Pascha zynisch an: der Ort der Verbannung ist das Nichts. Der Leichnam Talaats ist übrigens in einem Staatsbegräbnis beigesetzt worden; sein Todestag wurde zugleich Staatsfeiertag in der Türkei.

Höchst bedenklich ist Folgendes, was eine junge armenische Berliner Ärztin nach einer Lesung berichte: Danach hatte sie im Laden eines türkischen Händlers Kleingeld eingewechselt. Der junge Mann folgte ihr auf die Straße und fragte, ob sie Armenierin sei? Als die Ärztin bejahte, spuckte der Türke aus und rief, ihre Anwesenheit sei ein Beweis, dass seine Vorfahren 1915 leider einige Armenier hatten entwischen lassen. Ein nachgeborener Türke also – kommt uns Deutschen diese öffentliche Schmähung nicht bekannt vor? Und damit zum Beginn von „Mördermord“:

Berlin-Kreuzberg

[*]September 1995, 22 Uhr15:

Die Forster Straße, vom Görlitzer Park zum Landwehrkanal führend, ist zu dieser späten Abendstunde menschenleer. Mr. Melikjan aus Kalifornien, seit drei Monaten wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin, verflucht seinen Einfall, nach einem Besuch bei Freunden den Heimweg zu Fuß angetreten zu haben. Er hatte den Berichten einiger Kollegen in Berkeley über wachsenden Ausländerhass in Deutschland nicht glauben wollen. Aber nun hilft alles Fluchen nichts mehr. In diesem Augenblick rennt Soghomon Melikjan um sein Leben. Er keucht und ein stechender Schmerz in den Seiten raubt ihm fast die Sinne. Blitzartig spulen Filmszenen vor seinen Augen ab. Mit Bildern, die nach Berichten seines armenischen Großvaters Soghomon Tehlerjan, der sich später Saro Melikjan nannte, aus Blut, Schändungen und Leichen zusammengesetzt waren. Als türkische zivile und uniformierte Schlägertrupps alle Mitglieder der Familie Tehlerjan aus ihren Häusern vertrieben, um sie irgendwo in der Fremde zu ermorden. Unterwegs fanden die Armenier nur selten Beistand durch türkische Mitbürger. Das geschah 1915 und offiziell erklärtes Ziel dieser Verbannung war das Nichts …

Jetzt erreichen die Verfolger, junge Kerle in Bomberjacken, die mit ihren Schnürstiefeln ein Stakkato auf dem Pflaster schlagen, Soghomon Melikjan und reißen ihn zu Boden. Einer brüllt:

„Du Ausländersau! Uns kein Feuer geben wollen! Wer nicht hören will, muss fühlen!“

Auch die Schläger sind atemlos vor Anstrengung und so hört sich das darauffolgende „Ausländer raus“ des einen gar nicht so markig an wie sonst. Aber mit ganzer Kraft zuschlagen, das kann er.

Melikjan versucht, mit beiden Armen seinen Kopf zu schützen. Aus den aufgeplatzten Lippen rinnt Blut. Schließlich bettelt der junge Mann aus Kalifornien, dass man ihn doch gehen lassen solle.

„Gehen?! Kriechen sollst du!“ Nach einem hämischen Auflachen tritt der Zweite wie von Sinnen zu. Wieder und wieder trifft seine Stiefelspitze den am Boden Liegenden.

„Nicht schlagen!“, schreit Melikjan. Sein amerikanischer Akzent ist jetzt nicht mehr zu überhören.

„Macht die Brillenschlange einen auf Amerikaner?! Willst uns wohl verarschen?!“

Alles Bitten Melikjans scheint die jungen Männer nur noch anzustacheln. Von einem Baseball-Schläger wird der Akademiker am Kopf getroffen. Scheppernd zerbricht die Brille.

„Ich zieh dir den Scheitel gerade, du Schwein!“

Die letzten Worte hört Melikjan nicht mehr. Der Bewusstlose hat Glück, dass in diesem Augenblick ein Ehepaar auf dem Weg zur Tochter die Forster Straße überqueren muss. Der Gemüsehändler Ergun Ince erkennt sofort die Situation.

„Feiges Gesindel!“, schreit der Fünfzigjährige so laut er kann. Und er kommt näher.

Die Schläger lassen jetzt ab von Soghomon Melikjan. Und weil sie in der Überzahl sind, haben sie auch keine Angst vor einem stämmig gebauten Ince Ergun. Springmesser klappen metallisch.

„Zu Hilfe, ihr Leute!“, schreit Frau Ince, als sie sieht, dass ihr Ergun angegriffen wird.

„Mal sehen, was rauskommt, wenn ich dich Knoblauchzehe aufschneide!“ Dann sticht einer der Glatzköpfe zu.

Während Ergun Ince stöhnend zu Boden sinkt, ruft seine Frau wiederholt nach Hilfe. Aber weder hinter den erleuchteten noch hinter den dunklen Fenstern in der Straßenfront regt sich jemand …

„Ab durch die Mitte, Männer!“, ruft der Messerstecher jetzt seinen Kumpanen zu. Das Knallen ihrer Stiefelabsätze entfernt sich schnell ins nächtliche Dunkel.

„Ergun!?“ Entsetzt beugt sich Frau Ince über ihren Mann. „Ergun!!“, schreit sie und der Name hallt wider in einer von Autos zugestellten nächtlichen Straße.

Antwort erhält Frau Ince nicht. Erst die Sirene eines Funkstreifenwagens, aus dem vorbeifahrenden Taxi alarmiert, durchbricht die tödliche Stille in der Forster Straße. Fortan läuft alles routinemäßig ab.

Rettungsstation

[*]September 1995, 22 Uhr 45:

Etwa zehn Minuten nach dem brutalen Überfall werden sowohl der Amerikaner Soghomon Melikjan als auch der türkische Gemüsehändler Ergun Ince im Urban-Krankenhaus ärztlich behandelt.

„Schädelfraktur“, diagnostiziert Dr. Selümü. „Sieht böse aus. Die dritte Notversorgung heute, Schwester Beate!“ Obwohl erst 30 Jahre alt, ist Dr. Selümü seit kurzem Leiter der Rettungsstelle. „Und das fünfzehn Minuten vor Dienstschluss. Kismet“, seufzt der Arzt.

„Hier, Herr Doktor. Dieser Hochschulausweis lag in seinem amerikanischen Pass.“ Die Krankenschwester hält unschlüssig beide Dokumente in ihren Händen.

Interessiert nimmt Dr. Selümü die Papiere entgegen. „Soghomon Melikjan. Amerikanischer Staatsbürger. Freie Universität. Wissenschaftlicher Mitarbeiter …“ Der Arzt unterbricht sich, um die Erstversorgung abzuschließen: „Also, Schwester Beate – geben Sie ihm für alle Fälle ein Diazepam-Präparat.“

Dr. Selümü steckt die Ausweispapiere in seine Kitteltasche und geht aus dem Behandlungszimmer. Im Nebenraum wendet er sich an die wie gelähmt auf einem Stuhl sitzende Frau des Gemüsehändlers Ergun Ince:

„Der andere Mann heißt Soghomon Melikjan. Scheint von seiner Herkunft her ein Armenier zu sein, Frau Ince!“

Frau Ince winkt ab. Was interessiert sie jetzt dieser Fremde, dem ihr Mann beistehen wollte. Irgendwie ist der ja Schuld am Unglück der Familie Ince: „Und mein Ergun, Herr Doktor? Kommt er wieder mit mir? Mit nach Hause?“

Dr. Selümü wiederholt: „Ein Armenier, Frau Ince!“ Und ungläubig den Kopf schüttelnd, fragt er: „Hat der etwa auf Ihren Mann eingestochen?“ Als die Frau des Gemüsehändlers nicht reagiert, fasst der Doktor sie bei den Schultern: „Frau Ince?“

Die Türkin zuckt wie unter einem Schlag zusammen. Dann stammelt sie verängstigt: „Was mit meinem Ergun?“

„Ist noch im OP, Frau Ince. Mehrere Messerstiche. Ihr Mann hat sehr viel Blut verloren.“

„Ich nix versteh. Sie – Türke. Warum Sie nicht sagen von Ergun in Ihre Muttersprache, Herr Doktor. Bitte!“

Ehe der Arzt antworten kann, reißt Schwester Beate die Tür auf: „Doktor! Kommen Sie! Dieser Mister aus Amerika ist jetzt bei Bewusstsein!“´ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Als Heft 88 seiner Blaulicht-Reihe erschien erstmals 1967 im Verlag Das Neue Berlin die Kriminalerzählung „Jonas wird misstrauisch“ von C. U. Wiesner: An einem Wintertag des Jahres 1967 verließ der Kollege P., leitender Mitarbeiter des Eulenspiegel Verlages, um die Mittagszeit sein Büro in der Kronenstraße 73/74, um sich, wie er sagte, kurz mit einem alten Kriegskameraden zu treffen. Als seine Kollegen Feierabend machten, war P. noch immer nicht zurückgekehrt. Am nächsten Tag erschien er, sonst ein Muster an Korrektheit, nicht zum Dienst. Die Kollegen begannen sich zu wundern, zumal er am Vortage nicht mal seinen Mantel mitgenommen hatte. Bald schwirrten die Gerüchte durch das Haus.

Am Morgen darauf ging in einem Dorf bei Bernau eine junge Frau zur Arbeit. In einem Waldstück blieb ihr vor Schreck beinahe das Herz stehen. An dem Ast einer Eiche baumelte ein Mann mit heraushängender Zunge. Der Fall P. konnte nie aufgeklärt werden. Als der Verlag Neues Berlin einen Wettbewerb um die beste Kriminalerzählung ausschrieb, beschloss ich, mich zu beteiligen. Da ich für längere Arbeiten gern den häuslichen vier Wänden entfleuchte, suchte ich mir ein ruhiges Quartier in der Uckermark. Als ich mit meinem Trabant gen Norden fuhr, hielt mich kurz hinter der Berliner Stadtgrenze ein junger Mann an. Ob ich bis Zerpenschleuse führe? Nachdem er eingestiegen war, erzählte er mir, er habe gerade seine Abiturprüfung bestanden. Ich gratulierte ihm und fragte ihn, warum er dann so ein trübseliges Gesicht mache. Da sagte er mir mit Tränen in den Augen, vor drei Tagen habe sich sein Lieblingslehrer erhängt. Kurz vor Templin fand ich nach einigem Suchen mein Quartier. Es lag mitten im Walde, im Ortsteil Dreihäuser. In einem der drei kleinen Gehöfte bezog ich eine einfache Laube. Als es dunkel wurde schaute ich durch das Fenster auf den mondbeschienen alten Bauerngarten – und stutzte. Hinter den Beeten, dicht am Zaun, lagen fünf flache Hügel. Sie sahen aus wie fünf Gräber. Am nächsten Morgen erzählte mir meine Wirtin, die Bauersfrau Lemke: Jo, dat sind tatsächlich Gräber. Im April 1945 war hier ne Flüchtlingsfamilie einquartiert, und die ham sich, wie denn der Russe immer näher kam, vor lauter Angst inne Scheune uffjebammelt. Wat sollten wir damals machen – in dem Wirrwarr und die Kampfhandlungen? Da hat se unser Vadder eben hier im Jarten bejraben. Noch nie habe ich eine Geschichte so schnell zu Ende geschrieben wie in der Laube zu Dreihäuser. Später gewann ich dafür sogar den ersten Preis, und sie wurde 1967 in der Blaulicht-Reihe veröffentlicht. Hier die ersten beiden Kapitel, in denen wir zunächst kurz Jonas kennenlernen, der eigentlich gar nicht so heißt:

1. Kapitel

Als Ammoneit noch lebte, hab’ ich öfter zu ihm gesagt: „Wenn ich mal Rente kriege, schreib’ ich meine Memoiren.“ Dann hat er gegrinst und geantwortet: „Hoffentlich komm‘ ich darin nicht zu schlecht weg, Jonas!“ Wären alle so anständig gewesen wie Ammoneit – ich meine, als er noch lebte -, dann würde mir keiner meine Memoiren abkaufen.

Dass ich Robert Krause heiße, weiß höchstens unsere Kadertante. Alle andern nennen mich bloß Jonas. Da gab’s mal so einen blöden Schlager, kann sein, sogar vom falschen Sender: „Jonas, warum trägst du keine Brille?“ Und dieser Jonas war auch ein Kraftfahrer, der fuhr sich tot, weil er zu viel Promille hatte. So ein Quatsch, das wär ihm auch passiert, wenn er eine Brille getragen hätte. Ich bin jedenfalls kein Brillenträger, und Alkohol am Steuer gibt’s für mich nicht, denn sonst wär’s mit dem Fahren vorbei, und ich könnte in der Hofkolonne Presskohlen polieren oder so. Eigentlich wollte ich gar nicht Berufskraftfahrer werden. Ich hatte Tischler gelernt, aber da verdient man nicht genug und schluckt den ganzen Tag Sägemehl, statt was von der Welt zu sehen. So stecke ich nun schon seit zwölf Jahren in einem bekannten volkseigenen Betrieb – welcher, spielt keine Rolle -, fahre einen Wartburg und bin ganz froh, dass ich noch keine Familie habe, die wegen der vielen Fernfahrten meckert.

In so ’nem Betrieb lernt man in einem Dutzend Jährchen Leute kennen, besonders wenn man so wie ich heute den und morgen den fährt. Da gibt’s welche, die kehren den dicken Maxen ’raus, kommandieren einen, als wäre man ihr hochherrschaftlicher Chauffeur, und dabei spendieren sie einem nicht mal ’nen lumpigen Kaffee. Oder die andern, die unterwegs auf Kumpel machen, einem ihre ganze verkorkste Ehearie vorjaulen und einen dann beim Betriebsfest gar nicht mehr kennen. Ulkig sind auch unsere beiden Ingenieure, die sonntags mit ihrem Trabant ins Grüne zittern. Die wissen unterwegs alles besser und tun so, als könnte man bei ihnen erst mal richtig Auto fahren lernen. Dabei sind sie zu dusselig, auch nur eine Zündkerze zu wechseln.

Bei solchen Leuten sag’ ich mir bloß immer: „Jonas, bleib ruhig und lass sie quasseln.“ Die schönsten Typen sind die, die sich auf einer Dienstreise benehmen, als hätte man sie für ein paar Tage aus ’nem Käfig ’rausgelassen. Die tun dann prompt alles, was sie sich zu Hause nicht leisten dürfen, oder versuchen’s wenigstens. Ich will ja nicht deutlicher werden. Das hat Zeit, bis ich wirklich im hohen Alter meine Memoiren schreibe.

Ammoneit gehörte jedenfalls zu keiner von diesen Sorten. Er führte ein normales Familienleben, und ich hätte nie gedacht, dass ich ausgerechnet seinetwegen einmal vorzeitig zur Feder greifen würde. Aber im Krankenhaus hat man so viel Zeit, und das Fräulein Doktor meint, es sei ganz gut, wenn ich mir das alles von der Seele schreibe. Ich hab’ mich schließlich genug über die Sache aufgeregt, und um ein Haar hätte es mir selber das Genick gebrochen.

[*] Kapitel

Ammoneit muss so an die Fünfzig gewesen sein, als es passierte. Er war Ingenieur und seit Jahren in unserem Betrieb. Ich kannte ihn sehr gut, denn er war viel auf Außendienst. Wenn er irgend konnte, beschwatzte er Willy, unsern Fahrdienstleiter, dass ich die Tour mit ihm kriegte.

So war es auch diesmal gewesen. Mittags sollte ich mit ihm nach Dresden starten. Ich kam wie gewöhnlich kurz vor sieben in den Betrieb und war drauf gefasst, dass man mich am Vormittag noch mit ein paar Stadtfahrten umherscheuchen würde. Kurz vor dem Frühstück musste Willy, der gleichzeitig BGL-Vorsitzender ist, ’rauf zum Alten, ich meine Dr. Soltwedel, unsern Direktor. Als er wieder in die Fahrerbude ’runterkam, grinste er und sagte: „Wird wohl nischt werden mit Dresden, Jonas. Dein Ammoneit wandelt auf Abwegen. Seine Frau hat angerufen. Er war die ganze Nacht nicht zu Hause. Im Betrieb ist er auch nicht.“

Die andern machten ein paar blöde Witze. Aber ich konnte gar nicht drüber lachen. Ammoneit war nicht der Typ, der einfach eine Nacht lang wegbleibt, ohne seiner Frau was zu sagen. „Vielleicht ist ihm was passiert“, überlegte ich laut.

„Unk bloß nicht ’rum!“ sagte Willy. „So’n Mann im gefährlichen Alter, der hat eben … “

In dem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Dr. Soltwedel kam gar nicht erst ’rein. „Jonas!“, rief er. „Nehmen Sie Ihren Wagen. Sie müssen mich sofort fahren!“ Ich sprang auf und sah bloß noch unsern Willy ziemlich dumm kucken, denn der Alte ist sonst so korrekt und meldet die kleinste Stadtfahrt ordnungsgemäß an.

„Wir fahren zur Mühlenbrücke“, sagte Dr. Soltwedel, als wir zum Wagen gingen. „Eine traurige Pflicht für uns beide. Die VP hat angerufen. Wir müssen einen Toten identifizieren.“

„Ammoneit“, sagte ich leise. Er sah mich von der Seite an und nickte. „Wie kann man an der Mühlenbrücke verunglücken?“, fragte ich und merkte, dass ich Herzklopfen bekam. „Das Wasser ist ja viel zu flach …“

Der Alte zuckte nur die Schultern und sprach auch während der Fahrt kein Wort. Ich guckte wie ein Anfänger durch die Gegend und überfuhr sogar ein Stoppschild. Die Mühlenbrücke liegt am Stadtrand, etwas abseits vom Verkehr, da, wo es schon fast ländlich aussieht. Wir mussten drüber weg. Ich blickte auf den Fluss hinunter. Steine ragten aus dem seichten Wasser, und ein paar bunte Enten ruderten herum. Am andern Ufer standen zwei Funkstreifenwagen und ein Krankenauto. Ein VP-Meister winkte uns, auf einen Wiesenstreifen zu fahren. Blödsinn, dachte ich, als ob das Halteverbot jetzt wichtig sei.

Dr. Soltwedel stieg allein aus und bat mich, zunächst im Wagen zu bleiben. Ich malte mir aus, was für Formalitäten die jetzt abziehen würden. Wozu das alles? Ich wollte wissen, auf welche Art Ammoneit umgekommen war. Nach zehn Minuten kehrte der Alte mit einem VP-Leutnant zurück. Ich musste meine Papiere vorzeigen. „Bitte, kommen Sie mit“, sagte der Leutnant. Den ersten und letzten Toten hab’ ich 1945 gesehen, als Junge. Mir wurde jetzt doch etwas unbehaglich. Komisch, da liest man so viele Krimis und kuckt sich die schönsten Leichen im Fernsehen an. Aber in Wirklichkeit …, und wenn man jemanden gut gekannt hat …

Der Leutnant brauchte mich nicht erst zu fragen, wer das sei, als er die Decke zurückschlug. „Karl Ammoneit“, sagte ich schnell und wandte mich ab. Verdammt noch mal, mir zitterten die Knie. „Na, nun kommen Sie“, sagte der Leutnant, „wir können die Fragen auch in unserem Wagen stellen.“

Während die Leiche weggefahren wurde, saßen wir in dem Funkwagen. Ich durfte während des Gesprächs rauchen. Ob ich Ammoneit näher gekannt hätte, wollten sie wissen. Ich sagte, dass wir oft miteinander auf Dienstfahrt gewesen seien. Nach ein paar belanglosen Fragen erzählten sie mir endlich, wie es passiert war. Ammoneit hatte sich gestern etwa zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr am Brückengeländer erhängt. Warum, warum, warum? dachte ich immerzu und fragte schließlich auch. Der Leutnant musterte mich aufmerksam. „Haben Sie eine Vermutung?“, erkundigte er sich. Ich schüttelte den Kopf. „Steigen Sie aus und begleiten Sie uns zu Ihrem Wagen!“, sagte er. Was sollte denn das nun wieder? Dachte der vielleicht, Ammoneit hätte einen Abschiedsbrief in meinem Handschuhfach hinterlassen?

„Wo bewahren Sie Ihr Werkzeug auf?“, fragte er. Dämliche Frage. Auf der Hutablage ganz bestimmt nicht. Ich öffnete den Kofferraum. „Zeigen Sie uns Ihr Abschleppseil!“

Mir wurde siedendheiß. Eine Redensart meiner Großmutter fiel mir ein: Im Hause des Erhängten soll man nicht vom Strick sprechen. Das Abschleppseil! Ich bin als Kraftfahrer ein ordentlicher Mensch, zweifacher Aktivist, keinen selbst verschuldeten Unfall, Jonas, unser Vorbild. Aber manchmal schludert man eben doch. Mein Abschleppseil, viel älter als dieser Wagen und offenbar schon etwas morsch, war vor etwa vier Wochen gerissen, als ich auf der Autobahn einen Wolga anrucken wollte. Wir hatten dann seins benutzt und meine beiden Enden in den Kofferraum geschmissen. Ein paar Mal hatte ich mir vorgenommen, ein neues Seil zu besorgen.

„Träumen Sie nicht, Bürger!“, sagte der Leutnant ungeduldig. Ich griff neben das Reserverad, holte das kurze Ende hervor und setzte zu meiner Beichte an. „Sie brauchen nicht weiterzusuchen“, unterbrach er mich. „Genosse Hauptwachtmeister, zeigen Sie ihm das andere Ende!“ Der Volkspolizist hatte es schon in der Hand. Ich erkannte es sofort als meins. „Mit diesem Seil“, sagte der Leutnant, „ist die Tat begangen worden.“

Mir wurde ziemlich mulmig. „Meinen Sie vielleicht, ich hätte meinen Kollegen aufgehängt?“

„Unsinn. Es ist ein klarer Fall von Selbstmord. Wir wollen nur wissen, wie Ihr Kollege zu diesem Seil kam. Denken Sie darüber nach und finden Sie sich um sechzehn Uhr bei der VP-Inspektion, Abteilung K, ein!“

Dr. Soltwedel und ich konnten zum Betrieb zurückfahren. Mir wurde etwas wohler, als ich ihm brühwarm die Geschichte mit dem gerissenen Seil erzählte, obwohl ich nun auf einiges gefasst sein musste. „Machen Sie sich keine Gedanken darüber, Jonas“, sagte er. „Der arme Ammoneit würde wohl auch dann nicht mehr leben, wenn das Seil heilgeblieben wäre.“

„Warum hat er das getan?“, fragte ich. „Es gibt doch immer Menschen, mit denen man sich aussprechen kann.“

„Ja, Jonas“, erwiderte er nachdenklich, „mancher vergisst das eben in seiner finstersten Stunde. Setzen Sie mich im Betrieb ab, und fahren Sie dann nach Hause, damit Sie sich bis zu Ihrer Befragung etwas erholen können.“

Er meinte es gut, aber ich wäre viel lieber in den Betrieb gegangen. Was sollte ich jetzt mit mir allein schon anfangen? Für einen Moment überlegte ich, ob es nicht richtig wäre, Frau Ammoneit aufzusuchen. Sie hatte mich gelegentlich zum Abendbrot eingeladen, wenn ich ihren Mann von einer Dienstfahrt heimbrachte. Vielleicht ahnte sie etwas. Aber dann schämte ich mich wegen meiner Taktlosigkeit, blieb zu Hause, ließ mir von meiner Wirtin einen Kaffee machen und begann zu kombinieren. Tatsache war, dass sich Ammoneit auf den letzten beiden Fahrten etwas anders als sonst benommen hatte. So was fällt einem ja leider erst hinterher richtig auf. Er wirkte mürrisch und schlecht gelaunt und trank, ganz gegen seine Gewohnheit, abends im Hotel ein reichliches Quantum. Aber dabei hat er doch mit mir nur über allgemeinen Betriebskrempel geredet. Am Nachmittag ging ich zur VP-Inspektion. Es waren auch welche von der Mordkommission des Bezirkes da. Natürlich ließ sich die peinliche Sache mit dem Abschleppseil nicht umgehen. Ich erzählte ihnen, wie das meiner Meinung nach gewesen sein muss. Da sagt einer der Kollegen im Restaurant: „Jonas, gib mir mal die Schlüssel, ich hab’ meine Brille im Wagen liegen lassen“, oder so. Und dann gibst du sie ihm natürlich. Bei Ammoneit war das bestimmt mal vorgekommen. Wann zum letzten Mal, wusste ich freilich nicht genau. Auf den beiden vorigen Fahrten jedenfalls nicht. Er konnte sich auch die Schlüssel vom Nachttisch geholt haben, als ich schlief. Bloß – warum sollte Ammoneit gerade mein Seil genommen haben? Ich teilte den VP-Leuten auch meine Eindrücke mit, die von jenen beiden letzten Fahrten mit ihm. Mehr wusste ich nun wirklich nicht. Man bat mich zum Abschluss, ich solle wiederkommen, falls mir noch irgendetwas Wichtiges einfiele. Na, das ist wohl so eine Floskel, wie man sie aus Kriminalromanen kennt. Mehr dachte ich mir jedenfalls nicht dabei.“

Erstmals 1988 erschien im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik der Kriminalroman „Der vierte Schlüssel“ von Ulrich Völkel: Der obere Teil der Küchentür war verglast, kleine Felder mit getönten, auf einer Seite geriffelten Scheiben, durch Holzstege voneinander getrennt. Mit dem linken Ellbogen schlug Wilhelm Juppe eines der Glasfenster heraus, griff durch das Loch und drehte den von innen steckenden Schlüssel herum. Dann öffnete er die Küchentür. Frau Bauer lag vor dem Herd, aus dem hörbar das Gas ausströmte. Huppe lief zum hinteren Teil der Küche, riss die beiden schmalen Flügel auf und atmete heftig die frische Luft ein.

Ulrich Völkel schrieb Gegenwartsbücher und historische Romane, er ist vielen Lesern kein Unbekannter mehr. Nun versuchte er sich, dem Beispiel anderer Autoren folgend, auch auf dem Gebiet der Kriminalliteratur. Dem „Vierten Schlüssel“ merkt man die Erfahrung des Verfassers, auch ein bisschen seine Routine im Umgang mit dem geschriebenen Wort an. Da ist gleich von der ersten Seite Spannung, die Personen sind Menschen von Fleisch und Blut, und ihre Handlungen und Motive erscheinen logisch und verständlich. Und noch etwas bringt Völkel in den Kriminalroman ein: Er erzählt zwei scheinbar unabhängige Fälle, die sich auf eigenartige Weise berühren. Eine damals kaum gekannte Konstruktion mit zweifellos neuartigen Spannungselementen, die selbst den geübten Krimileser nicht ohne Überraschung aus der Lektüre entlassen. Und so, relativ harmlos, fängt das Ganze an:

1. Kapitel

Achim Bauer verließ am Montag früh Punkt sechs Uhr zehn seine Wohnung. Sechs Uhr zwanzig kam der Linienbus, mit dem er bis zur Endstation fuhr wie alle Tage, wenn er zur Arbeit musste. Er war stellvertretender Abteilungsleiter im Konstruktionsbüro des Wohnungsbaukombinats. Trotz seiner sitzenden Tätigkeit hatte er eine aufrechte, betont sportliche Haltung, die aber mehr das Ergebnis von Eitelkeit war als von regelmäßigem Training in einer Turnhalle. Achim Bauer achtete auch sonst auf ein gepflegtes Äußeres. Für Kleidung gab er viel Geld aus. Er benutzte teures Rasierwasser, ging immer mit Schlips und Kragen. In Jeans und T-Shirt hätte er sich unwohl gefühlt. Bei wichtigen Verhandlungen war er nicht nur erfolgreich, weil er über sehr viel Sachverstand verfügte, er wirkte auch besonders seriös, das schlug zu Buche.

Nachdem er die Wohnungstür zweimal abgeschlossen hatte, vergewisserte er sich durch einen Druck auf die Klinke, ob die Tür auch wirklich zu war, eine überflüssige Geste, Gewohnheit. Er war eben in allen Dingen gründlich, manchmal sogar auf eine penible Art.

Er hatte gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, als die Tür der Nachbarwohnung geöffnet wurde und Frau Graff scheinbar zufällig heraustrat. Er schmunzelte. Er hatte sie im Verdacht, stundenlang hinter der Tür zu stehen und zu warten, bis sich draußen jemand bewegte, mit dem sie ein Gespräch anfangen konnte. Sie war eine alte Frau und viel allein. Aber wenn sie einen zu fassen bekam, dann, so sagte Achim Bauer, hielt sie ihn fest und kam vom Hundertsten ins Tausendste. Gelegentlich machte sie Besorgungen für seine Frau, die krank war. Das hätte er sonst erledigen müssen. Seine Freundlichkeit ihr gegenüber hatte also weniger mit einer umgänglichen Art zu tun, er war im Gegenteil mitunter von verletzender Einsilbigkeit. Er tat nur freundlich aus praktischen Erwägungen heraus.

„Guten Morgen, Frau Graff“, grüßte er und ging weiter die Treppe hinab.

„Guten Morgen, Herr Bauer, schließen Sie man gar nicht erst ab. Ich wollte gerade bei Ihrer Frau klingeln. Sie hat mir gestern gesagt, dass es ihr nicht besonders geht. Das Wetter, wissen Sie? Ich hab’s auch so auf dem Herzen. Da will ich gleich fragen, was ich für sie besorgen kann.“

Nun blieb er doch stehen. „Ist nicht nötig, Frau Graff. Lassen Sie sie schlafen. Ich erledige das heute auf dem Heimweg. Sie hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht.“ Er sagte es in einem Ton, als handelte es sich um eine dienstliche Anweisung.

Frau Graff überhörte es geflissentlich. „Ach ja, wenn man es mit dem Herzen hat. Ich kenne das von Paul. So jung und schon so krank.“ Und gleich wollte sie von ihren Gebrechen anfangen, die sie plagten, aber Achim Bauer schien es wie immer eilig zu haben. Er blickte auf seine Armbanduhr. „Mein Bus! Also nicht klingeln. Sie meldet sich schon, wenn sie etwas braucht.“

Das missfiel ihr. Sie hätte gern mit der Nachbarin ein Schwätzchen gemacht. Wen hatte sie sonst schon, mit dem sie reden konnte? Paul war tot, jetzt das dritte Jahr. Und der Glasermeister Juppe, der Werkstatt und Wohnung in der unteren Etage des zweistöckigen Reihenhauses hatte, das ihm gehörte, war ein alter Muffel. Geizig war er auch, obwohl er eigentlich Geld wie Heu hatte. Bei dem musste sie auf Heller und Pfennig abrechnen, wenn sie von ihren Besorgungen zurückkam. Der gab nie mehr als ein paar Groschen Trinkgeld. Frau Bauer war eine feine Person. Und großzügig war sie außerdem.

Ohne sich weiter um die alte Frau zu kümmern, ging Achim Bauer die Treppe hinab. Frau Graff stand noch unschlüssig, ob sie nicht doch klingeln sollte, wenn er aus dem Haus war, unterließ es aber, weil sie sich vor dem unwilligen Blick fürchtete, den sie gar nicht hätte sehen können. Also schlurfte sie zu ihrer Wohnungstür zurück. Ich warte halt noch ein bisschen, sagte sie sich. Ich geh eben erst einmal zu Juppe.

Die Haustür schlug zu. Achim Bauer zog den Hut tiefer in die Stirn, weil ein feiner Nieselregen fiel. November, der unangenehmste Monat des Jahres.

Er überquerte die Straße an der Ampel, ging am Springbrunnen vorbei, der erst wieder zum 1. Mai des kommenden Jahres angestellt würde. Die Bushaltestelle befand sich direkt vor der Post am Marktplatz. Die meisten Wartenden standen jeden Morgen hier, dennoch taten sie fremd miteinander. Jeder schien nur mit sich und den eigenen Problemen beschäftigt zu sein.

Achim Bauer war mit seinen Gedanken bereits am Schreibtisch. Nicht bloß das Wetter war unfreundlich, ihn erwartete auch eine Besprechung mit seiner Chefin, der er sich fachlich überlegen glaubte. Aber mit Gisela Werner zu streiten fiel ihm jedes Mal schwer.“

Erstmals 1984 veröffentlichten Hildegard und Siegfried Schumacher im Verlag Neues Leben Berlin „Susis sechs Männer“: Am Nachmittag hat sie ihr Abschlusszeugnis bekommen. Am Abend fordert Jiri, ihr Freund, dass jetzt sofort geheiratet wird. Aber Susi wünscht sich einen Mann, den sie anerkennt und der sie auch anerkennt. Sie hat ihre Erfahrungen und sie weiß nicht, ob Jiri der Richtige ist. Spannend schildern Hildegard und Siegfried Schumacher die Ehe von Susis Eltern und Susis sechs Liebesbeziehungen. Wie soll sich Susi entscheiden? Hier zum Einlesen der Beginn des 2. Kapitels:

„Alles begann an einem der scheußlichsten Tage, die ein Schüler im Laufe des Jahres erlebt. Wie Susi an ihrer Mutter beobachtet hatte, wirken selbst Lehrer, wenn sie es auch niemals laut zugeben würden, an diesem Tag leicht melancholisch.

Letzter Ferientag nach acht wunderbaren Sommerwochen!

So war das Leben. Kaum hatte man ein Schuljahr hinter sich gebracht, begann das ganze Theater von vorn. Und da soll der Mensch nicht bedrückt sein? Gegen miese Stimmung hilft Aktivität, man muss was unternehmen. Susi wollte mit Marianna zum EisCafé. Dort traf man immer ein paar aus der Klasse, und die hatten am einunddreißigsten August auch nur eins im Kopf, auf gar keinen Fall an die Schule zu denken.

Der Vater machte einen Strich durch die Planung. Er hatte Herrn Janek eingeladen, einen polnischen Kollegen mit unaussprechbarem Familiennamen, der seit einigen Wochen an einem Projekt im Meliorationskombinat mitarbeitete. Natürlich bestand der Vater darauf, seine ganze Familie vorzuführen. Wie im Zoo! Susi protestierte. Es half nichts. Der Vater sprach von RGW und Völkerfreundschaft, die Mutter von Anstand. Susi sollte an ihre gute Erziehung denken und sich feinmachen. Aus ihren Jeans sollte sie raus. Feinmachen, dass die Mutter solch ein lächerliches Wort überhaupt in den Mund nehmen konnte! Susi knallte die Tür hinter sich zu.

Wie konnte es anders sein, es war die karierte Bluse, die Susi zuerst aus dem Schrank nahm. Sie war neu und gerade das, was man zurzeit trug. Susi zog sie gern an, zu Jeans!

Sie nahm ihre zwei Röcke vom Bügel. Wer zog schon freiwillig einen Rock an! Längst hätte sie beide in den Lumpensack gestopft, wäre es nach ihr gegangen. Es ging nicht nach ihr. Der blaue Rock war zu klein geworden. Den war sie endlich los. Im grauen kam sich Susi lang und albern vor. Mit der karierten Bluse, nein, das konnte sie ihrer Lieblingsbluse nicht antun.

Kleider fand Susi genauso unmöglich. Sie besaß mehrere, fast ungetragen. Egal was, dachte sie und griff, ohne hinzusehen, in den Schrank, sie müssen mit dem zufrieden sein, was ich anhabe. Als Susi die Augen öffnete, bemerkte sie, dass sie ausgerechnet das weiße Kleid erwischt hatte. Die Mutter hatte es gekauft, weil es ihr so gut gefiel, aber Susi hatte es nur unwillig anprobiert. Doch egal was, dachte sie noch einmal, zog es an und musterte sich im Spiegel. Wie Papier mit Spucke sah sie aus, alle Sommerbräune war futsch. In diesem Aufzug setzte sie keinen Fuß aus der Wohnung. Gerade als sich Susi von ihrem Spiegelbild abwenden wollte, ging eine Veränderung damit vor. Susi lauschte in sich hinein und blickte dabei in den Spiegel. Das Bild blieb. Ihre Augen glänzten, die Sommerbräune war wieder da, das weiße Kleid hob sie sogar hervor, und es saß ganz auf Figur. Susi sah sich neu, wie sie sich noch nie gesehen hatte. Es war wie Zauber. Er geriet ins Wackeln, als die Mutter ins Zimmer kam. „Ganz Dame“, sagte sie, „siehst du hübsch aus, Kind.“

Erst Dame und dann Kind. Da hat der Mensch die Jugendweihe hinter sich gebracht, hoch und heilig wurde ihm versichert, er sei nun in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen, und die Mutter redete, als hätte sie von alledem nichts mitbekommen. Sie blickte auf Susis Spiegelbild und sagte: „Nimm meine goldne Kette mit dem roten Stein.“

Susi wartete, dass die Mutter das gewohnte „Kind“ dazu setzte, aber es blieb aus. Darum schluckte sie ihren Ärger hinunter. Sie ließ sich die Kette umlegen. Wäre es der Mutter in diesem Augenblick eingefallen, nun nimm dich auch schön in Acht, Kind, zu sagen, hätte Susi trotz des Spiegelzaubers auf der Stelle das weiße Kleid samt goldner Kette abgelegt. Die Mutter sagte es nicht. So war der Hausfrieden gerettet. Der Vater konnte seine Familie vorführen.“

Als Eigenproduktion von EDITION digital erschien erstmals 2008 „Elchritter. Fast ein Märchen aus vergangenen Tagen“ von Elisabeth Schulz-Semrau: Die zwölfjährige Anne ist ziemlich einsam in dem Ostseebad, in dem die Eltern jeden Sommer ein Ferienhaus mieten. Als die Jungen des Fischerdorfes sie ärgern, findet sie einen edlen Ritter, der sie beschützt und geduldig zuhört. Worüber sie mit den Eltern nicht sprechen kann, weil sie ja doch keine Zeit und kein Gespür für sie haben, das ist mit dem nur wenige Jahre älteren Markus möglich. Nur drei Tage Genesungsurlaub hat der junge Soldat im Samland, dann muss er zurück an die Ostfront. Hier ein Textauszug:

„Elchritter – ganz schön – aber roter Samt passte da nicht mehr. Weiß vielleicht: Weiß mit schwarz, wie die Ordensritter.

Da sah das Mädchen , dass die Jungen abzogen. Der Blonde riss mit der Fußspitze etwas vom schmutzig-olivenen Schaum hoch, versuchte ihn elegant ins Wasser zu schleudern, während der andere gleichgültig einen Kiesel flachüber zielte.

In dem Mädchen triumphierte es. Die sollten nur so tun. War alles Tünche. Geschlagen waren sie, und wie!

Nun kam auch ihr Ritten Na ja – ging eigentlich gar nicht ritterlich, zamperte so ein bisschen nach einer Seite, genau zu der hin, wohin er auch den Kopf neigte, hielt ihn also schief im Gehen.

Das Mädchen hörte das etwas stumpfe Pfeifen im Sand, das nackte Füße verursachen, wenn sie ihre Pfade suchen, und das ihr Immer dieses unangenehme Gefühl in den Zähnen machte. Sie gab sich Mühe, sehr uninteressiert vor sich hin zu sehen, ließ eine große Zehe am Bootsboden Rinnsale durch den schütteren Sand ziehen, spürte dabei jedes Körnchen, fuhr dann weiter die Bootsplanken hinauf.

„So, meine Kleine“, sagte die Singstimme, die ziemlich tief klang, „nun sind sie fort, deine Bedränger.“

Das Mädchen hatte nur die Anrede aufgefangen, das ließ sie sofort ihren Körper dirigieren. Schmal und kindlich und auch nicht mehr kindlich, ragte sie vor den Braunen aus dem Boot.

„Hören Sie“, sagte das Mädchen streng, „ich bin eins neunundfünfzig und – “ hier zögerte sie kurz, „zwölf!“ Das musste er ja nun wirklich sehen! Und dann der Badeanzug – zweiteilig nach endlosem Trotzkampf gegen die Mutter.

Der junge Mann strich sich überrascht den Lockenschubs aus der Stirn und begann, was da vor ihm stand, zu sehen. Zöpfe bis zum Badehosenende, Farbe: Hafer, und wahrscheinlich von der vorangegangenen Flucht so zoddrig. Braune schlenkrige Glieder, Lippen aufgeworfen, und die Augen, grau oder grün, hakten sich in den seinen fest. Also eine kleine kratzende Strandkatze. Es mochte Spaß machen, sie zu ärgern. Plötzlich jedoch waren die Zöpfe braun und die Augen braun, und die füllten sich mit Tränen, und zwei Fäuste trommelten ihm auf die Brust, als er fragte: „Und hat das Fräulein schon einen Bräutigam?“ Der Betrommelte war er beim letzten Urlaub – und das wütende Mädchen seine Lieblingsschwester Gesine.

Da zog sich um seinen Mund ein Lächeln, und er verneigte sich. „Pardon“, sagte er, „habe das Fräulein unterschätzt, muss wohl nun Sie sagen?“

Dem Mädchen kroch eine Röte übers Gesicht, es wurde hilflos. „Ach, das bloß nicht“, sagte sie, „ich heiße , dabei begann sie aus dem Boot zu klettern, stand nun richtig neben dem Mann, reichte ihm bis nahe an die Schütten, „ich heiße Anne.“ Sie machte einen Knicks und hätte ihn am liebsten rückgängig gemacht, so, wie man schnell über Sand oder Schnee streicht, um Spuren zu verwischen. Wieder verbeugte sich der Mann. „Ich bin Markus!“ Er setzte sogar seinen Nachnamen dazu. Es wunderte ihn sofort.

Ach Gott, dachte das Mädchen, Markus, das war doch so ein Biblischer mit Klapperlatschen – Almasor müsste er heißen oder Said oder Achmed.

Wie selbstverständlich stapfte sie neben dem Mann die Düne hoch, merkte erst, was sie tat, als sie vor einem Bündel Kleidungsstücke stand, die, den Schuhen nach, ihrem Begleiter zu gehören schienen.

Sie wollte umkehren, aber der Ritter bat sie, ihm Gesellschaft zu leisten.

Da hockte sie sich, während er sich bäuchlings dünenauf legte, ungefähr zwei Meter von ihm weg und zog die Knie ans Kinn, während die Zopfschwänze den Sand fegten, und blickte grau oder grün zu ihm hinüber.

„Warum haben die dich eigentlich gejagt?“, begann der Mann das Gespräch.

Das Mädchen bekam eine Falte zwischen den Augenbrauen. „Das sage ich nicht!“ Sie merkte selber, dass er diese Kürze nicht verdient hatte. „Ich kenne Sie ja noch gar nicht!“

Aha, fasste er zusammen, das stimme nun freilich, aber es bestünden ja wohl Aussichten, denn sie habe „noch“ gesagt. Und da sei er der Meinung, sie sollten mit dem Kennenlernen beginnen, wenn sie es mochte, natürlich. Das Mädchen sagte nichts, aber es nickte.

Das Erste, was dabei zu beachten sei, erklärte der Mann, wäre wohl, dass man sich gegenübersteht, und darum – er hatte sich hochgerekelt, kroch zu dem Mädchen hinüber und streckte ihr seine Hand hin – biete er ihr sein Du an.

Sie blieb, die Arme um die Knie geschlungen, sah ihn misstrauisch an. „Richtig ‚Du‘?“, fragte sie.

Natürlich richtig! Er überlegte einen Augenblick Es seien immer nur die richtigen Du, die im Leben Wert hätten. Aber das verstünde sie wohl noch nicht.

Grade, sagte Anne, verstehe sie das, nur müsste er Geduld mit ihr haben, sie könne ein Du nicht so schnell… Und sie legte zögernd ihre Hand in die seine.

„Die ist aber kalt“, sagte er, dachte, und so kindlich, und die Nägel haben ähnliche Nagespuren wie bei meiner Schwester. Da war ihm eigenartig, dem Neunzehnjährigen, in dieser Gegend, die ihm unvertraut fern seines Heimatortes war, in seiner Hand diese fremden Mädchenfinger, die jetzt ziemlich vertrauensvoll darin ruhten.“

Und damit beginnt eine zarte Annäherung zwischen der Zwölfjährigen und dem Neunzehnjährigen, ihrem Beschützer. Wie es wohl weitergeht, mit den beiden? Der vertrauensvolle Anfang jedenfalls macht Hoffnung auf mehr und zugleich Angst, ob es denn mit Anne und Markus was werden kann – in jener Zeit?

Auch in den anderen Sonderangeboten dieses Newsletters geht es mehr oder weniger direkt um menschliche Beziehungen. Das gilt auch für die beiden Krimis unter den Sonderangeboten. Spannend zu lesen sind jedenfalls alle fünf Angebote dieses Newsletters, auch wenn einem mitunter der Atem stockt. Aber das darf man ja bei einem Krimi auch erwarten, oder?

Viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen Übergang vom Winter in den Frühling oder wie die kommende Zeit auch immer werden wird, bleiben auch Sie weiter vorsichtig, vor allem aber schön gesund und munter und bis demnächst.

Ganz zum Schluss aber doch noch ein Hinweis auf ein Buch, das sehr gut zu der Empfehlung in der aktuellen FfF-Rubrik dieses Newsletters passt, auch wenn es nicht bei der EDITION digital vorhanden ist. Es geht um den spannenden Bestseller-Roman „Der letzte Harem“ von Peter Prange. Aber lesen Sie selbst. Und Sie werden verstehen …

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 26 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.000 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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