Dass Kunst Abgründe zu überqueren vermag, hat das vergangene Jahr immer wieder bewiesen. Der Nassauische Kunstverein Wiesbaden zeigt nun die Videoarbeit Tightrope der russischen Künstlerin Taus Makhacheva, in der sprichwörtlich ein Balanceakt vollführt und eine spezifische Kunstgeschichte in schwindelerregender Höhe visualisiert wird.

Ein einsamer Seiltänzer balanciert zwischen zwei Felsvorsprüngen in Dagestan, der größten und bevölkerungsreichsten Region im Kaukasus. Mal in der Hand, mal am Balancierstab befestigt, transportiert Rasul Abakarov, Nachfahre einer dagestanischen Dynastie von Seiltänzern, unter der Regie von Taus Makhacheva einundsechzig Gemälde und Zeichnungen zwischen den Hochlandgipfeln.

Für den 58-minütigen Film Tightrope (2015) wählte die Künstlerin mit Bedacht Werke aus der Sammlung des Dagestan Museum of Fine Arts aus, die sie für die Performance kopierte. Die Arbeiten umfassen eine Zeitspanne vom 19. Jahrhundert bis zum Jahr 2000 und damit eine Geschichte der bildenden Kunst in Dagestan – von Schlachtszenen des 19. Jahrhunderts über Werke des Sozialistischen Realismus der sowjetischen Periode der Region bis hin zu Abstraktem Expressionismus oder Pop Art. Vor dem atemberaubenden Hintergrund der dagestanischen Berglandschaft wird ein Werk nach dem anderen über ein dünnes Seil transportiert und die ursprünglich lose Zusammenstellung der Werke auf dem ersten Gipfel auf der gegenüberliegenden Bergspitze in einer quaderförmigen Struktur angeordnet, die an ein Museumsdepot erinnert.

Der Film visualisiert damit nicht nur eine spezifische Kunstgeschichte, sondern stellt durch den physischen Akt der Neuordnung auch wortwörtlich eine lineare Geschichtsschreibung in Frage. Die scheinbar wertvollen Gegenstände, die über ein dünnes Drahtseil transportiert werden, werden zu einem Sinnbild für das prekäres kulturelles Erbe der Region und der Frage, wie Museen das Überleben eines solchen Erbes physisch und geschichtlich garantieren können. Der Balanceakt des Seiltänzers wird gleichzeitig zu einer Metapher für die komplizierte Geschichte der Republik Dagestan, einer Region, die sich nach ihrer Sowjetisierung in einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, Zentrum und Rand sowie historischer Repräsentation und Unsichtbarkeit befindet.

Über die Künstlerin /
Taus Makhacheva (*1983, Moskau) studierte Bildende Kunst am Goldsmiths College und am Royal College of Art in London. 2016 erhielt sie den Kandinsky- Preis Young Artist. Project of the Year für Super Taus*. Ihre Arbeiten wurden weltweit in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, so u. a. in der Tate Modern (London), auf der 57. Biennale di Venezia, auf der Manifesta 12 (Palermo), im Centre Pompidou (Paris) und im Garage Museum of Contemporary Art (Moskau) und jetzt im Nassauischen Kunstverein in Wiesbaden.

Kunstverein in Zeiten von Corona /
Auch während der Pandemie-bedingten Schließung des Kunstvereins wird die Ausstellung auf neuen Wegen erfahrbar gemach:.

Walk-by-Cinema /
Ein Ausschnitt von Tightrope läuft rund um die Uhr im Walk-by-Kino im Schaufenster des Nassauischen Kunstvereins auf der Wilhelmstraße.

Pandemie-Telefonie /
Kunstverein analog: Für all diejenigen, die keinen Zugang zu Online-Angeboten haben oder sich nach einer digitalen Pause sehnen, gibt es Pandemie-Telefonie. Nach vorheriger Anmeldung wird ein Umschlag mit Installationsansichten verschickt und die Möglichkeit gegeben, am Telefon mit einer Kunstvermittlerin über die Ausstellung zu sprechen.

Virtueller Drahtseilakt /
Auf der Website und den Social-Media-Kanälen des Kunstvereins wird während der Ausstellungslaufzeit exklusives Bonusmaterial von Taus Makhacheva sinnbildlich über das Online-Drahtseil des Kunstvereins transportiert.

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