Die 72. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie bot neben einem dichten und umfassenden wissenschaftlichen Programm mit über 750 Abstracts und aktuellen Präsentationen auch politisch brisante Diskussionen. Mit viel Enthusiasmus und Engagement haben Prof. Dr. med. Steffen Rosahl und Prof. Dr. med. Rüdiger Gerlach, die beiden Chefärzte der Klinik für Neurochirurgie im Helios Klinikum Erfurt, als Tagungspräsidenten dafür gesorgt, dass der wissenschaftliche Austausch auch in der Pandemie nicht abreißt. Mehr als 1.000 Teilnehmer nutzten das virtuelle Kongresszentrum der überwiegend online durchgeführten Fachtagung für die Kommunikation neuer Erkenntnisse und spannende Diskussionen.

Innovationen für effizientere chirurgische Behandlungen und individualisierte Therapien 

Viele Entwicklungen, welche die Fachdisziplin aktuell besonders beschäftigen, wurden von Experten vorgestellt und diskutiert, um sie in der täglichen Arbeit der Kliniken zu übernehmen. „Der schmale Grat des operativ maximal Möglichen und der funktionellen Unversehrtheit der Patienten muss für jede Erkrankung definiert und in wissenschaftlichen Analysen objektiviert werden“, betonte Prof. Gerlach. Eindrucksvolle Präsentationen veranschaulichten Innovationen und technische Verbesserungen, um die Effizienz chirurgischer Behandlungen von Patienten mit Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks und der Nerven zu erhöhen und zugleich Behandlungsrisiken zu minimieren. In verschiedenen Beiträgen wurden neue molekulare Zielstrukturen für die Behandlung von Patienten mit Tumorerkrankungen diskutiert, die z.T. auch in der erwarteten Revision der Klassifikation der Hirntumoren berücksichtigt sind.

Das große Thema Digitalisierung, insbesondere die Bereiche Künstliche Intelligenz (KI) und Robotik zeigten, wie maßgeblich diese rasante Entwicklung die Zukunft der Neurochirurgie beeinflussen wird. Viele Präsentationen belegten eindrucksvoll unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten mit verbesserter präoperativer Diagnostik und optimierten Aussagen zu Operationsrisiko und Prognose. Es wurde deutlich, wie durch innovative technische Verbesserungen die operativen Therapien bei Patienten mit Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks und der Nerven bei minimierten Behandlungsrisiken noch effizienter werden. 

Chancen zur Verbesserung der Patientenversorgung 

Viele Vorträge zielten auf eine mögliche Verbesserung der Patientenversorgung. Die Präsentation von Konzepten der Vernetzung, der fachübergreifenden Zusammenarbeit in Forschung und Klinik sowie einheitlicher Behandlungsstandards und transparenter medizinischer Qualität führte zu Diskussionen der Rahmenbedingungen. Verbesserte Behandlungsergebnisse setzen in Zukunft u.a. wahrscheinlich durchlässigere Grenzen zwischen ambulantem und stationärem Gesundheitswesen und eine qualitätsorientierte Vergütung voraus.

Die gut besuchte Session „Elektroden im Gehirn“ stellte den aktuellen Stand und Fortschritte beim erfolgreichen medizinischen Einsatz der tiefen Hirnstimulation zur Behandlung von Bewegungsstörungen etwa bei Morbus Parkinson vor. In der Diskussion ging es aber auch um ethische Grenzen der weiterentwickelten Implantate mit verfeinerten Elektroden durch Elon Musks Start-up „NeuraLink“. Die Grenzgebiete zwischen medizinischen und nicht-medizinischen Anwendungsmöglichkeiten haben hier bereits heute zu Recht zu einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion geführt.

Seltene Erkrankungen im Fokus des Fachkongresses 

Den beiden laufbegeisterten Tagungsleitern gelang es, im Rahmenprogramm mit viel Schwung den ersten „NeuroRun“ auf den Weg zu bringen und mit dem Engagement für seltene Erkrankungen zu verbinden. Der virtuelle Spendenlauf, bei dem die Startgebühr der neugegründeten MerliN Foundation und damit Patienten mit Neurofibromatose Typ 2 zugutekam, trug zur Auflockerung des hochkarätigen Fachkongresses bei, der noch mit weiteren Überraschungen für die Teilnehmer aufwarten konnte. Auch wenn die meisten diesmal nicht in Erfurt dabei waren, wurden ihnen aktuelle Impressionen der Stadt mitsamt der diesjährigen Bundesgartenschau filmisch vermittelt. 

Ein besonderer Fokus der Fachtagung lag auf seltenen Krankheiten. Es wurde deutlich, dass Diagnose und Therapie erheblich schwieriger sein können als bei verbreiteten Krankheiten – schließlich bekommen die meisten Mediziner Patienten nur selten zu sehen, deren Krankheiten weniger als fünfmal bei 10.000 Menschen vorkommen. Wie wichtig deshalb die bundesweite Vernetzung von Behandlungseinrichtungen, Aufklärung und Foren für seltene Erkrankungen sind, um Behandlungsfortschritte erzielen zu können, wurde vor allem deutlich auf dem Gebiet der Neurofibromatose, einem Schwerpunkt auch am Erfurter Zentrum. Von einer solchen Profilierung profitieren Patienten mit neurochirurgischen Erkrankungen, zum Beispiel wenn sie im Anschluss an die stationäre Medizin eine eng verzahnte ambulante Versorgung bekommen. Mit diesem besonderen Konzept, verbunden mit der Bildung von Zentren und der Vernetzung von Klinken, erhalten diese Patienten mit multiplen Tumoren  eine optimale medizinische Betreuung.

Prof. Rosahl wies auf die wichtige Rolle der Überwindung intersektoraler Grenzen, des Aufholens auf dem Gebiet der Digitalisierung in der Medizin auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz, einheitlicher Behandlungsstandards und der Transparenz medizinischer Qualität für Verbesserungen auf dem Gebiet der Neurofibromatose hin. Beide Kongresspräsidenten waren sich einig, dass der „Blick über den Tellerrand“, das Erlernen von Techniken aus chirurgischen Nachbardisziplinen sowie die Diskussion fachübergreifender Lösungen die Behandlungsergebnisse nachhaltig verbessern können. Diese typischen Effekte von Zentrenbildung und Interdisziplinarität, die zunehmend auch von den Kostenträgern erkannt werden, müssten aber auch aufwandsgerecht honoriert werden. 

Spannende Diskussionen um Gleichstellung in der Neurochirurgie 

Das sehr gut besuchte Forum „Starke Frauen, starke Männer – Schaffen wir die Gleichstellung?“, wesentlich vorbereitet von Frau Dr. Lawson McLean, einer der Sprecherinnen der Assistenzärzt*innen der DGNC, warf einen kritischen Blick auf die Chancengleichheit in dem vor allem in den Chefetagen noch immer männlich dominierten Fachgebiet. Obwohl seit über 20 Jahren mehr als die Hälfte der Medizinstudierenden weiblich sind, ist bis heute nur jede fünfte Facharztstelle für Neurochirurgie weiblich besetzt. Vor allem Führungspositionen werden in der Neurochirurgie selten von Frauen besetzt. Die Gründe dafür sind vielschichtig, die geladenen Expert*innen identifizierten u.a. ein archaisches Arbeitsumfeld, welches oft wenig Raum für eine moderne Lebens- und Karriereplanung bietet. Neue Arbeitszeitmodelle, innovative Lösungen für Weiterbildung und eine Überarbeitung des zur Facharztqualifikation geforderten OP-Katalogs wurden diskutiert.  Zunehmend gehen zwar auch männliche Kollegen in Elternzeit, aber noch immer sind es weit überwiegend Neurochirurginnen, die Familie und Karriere vereinbaren müssen. Die Fokus-Session auf der diesjährigen DGNC-Tagung zeigt aber, dass das Thema in der Gesellschaft angekommen ist und jetzt gemeinsam zukunftsweisende Lösungen zur Chancengleichheit gesucht werden.

Symbolisch übergaben Prof. Gerlach und Prof. Rosahl in der Schlussveranstaltung den Staffelstab an den DGNC-Präsidenten Prof. Dr. med. Roland Goldbrunner, Köln, der ihn für die 73. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie übernahm, die vom 29.Mai bis 01. Juni 2022 in Köln stattfinden wird.  

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