Der Ergotherapeut Wolfgang Scheid hat im Bereich der visuell-räumlichen Störungen einen großen Erfahrungsschatz. Er weiß: Diese besonderen Wahrnehmungsstörungen in einem frühen Stadium zu entlarven, ist keine einfache Sache; insbesondere für Eltern, die wenig Vergleichsmöglichkeiten haben, beispielsweise, wenn es das erste oder einzige Kind ist. Hinzu kommt, dass eine Vielzahl von Symptomen auf eine visuell-räumliche Wahrnehmungsstörung hinweisen können. Dennoch ermutigt der Ergotherapeut Eltern, das eigene Kind immer genau im Blick zu haben und auch beim geringsten Zweifel den Kinder- oder bei Jugendlichen den Hausarzt beziehungsweise die -ärztin zu befragen und gegebenenfalls wegen wiederholter eigener Beobachtungen beharrlich zu bleiben.
Verhaltensauffälligkeiten beobachten, mögliche Störung erkennen
Der Ergotherapeut nennt exemplarisch einige typische Verhaltensbeispiele und gibt Tipps, worauf Eltern schon vor dem fünften Lebensjahr mit Umsicht, aber dennoch gezielt, achten können: Stolpert das Kind häufig oder übersieht es Menschen oder Gegenstände auf einer bestimmten Seite? Bastelt, baut oder malt das Kind im Kindergarten nicht gerne? Ab dem Schulalter: Kommt es zu Problemen beim Rechnen im Zahlenraum über 10 und später generell in Mathematik und Geometrie? Zeigt das Kind unspezifische Ängste – bei genauerem Hinsehen, weil es sich nicht gut orientieren kann, vielleicht den Weg zu Freunden nicht alleine wiederfindet? Dabei betont der Ergotherapeut, dass dies Hinweise sein können, manches, was als Symptom daherkommt, aber auch andere Ursachen haben oder ein Persönlichkeitsmerkmal sein kann. Das lässt sich jedoch durch das ärztliche und das ergotherapeutische Urteil sicherer abgrenzen.
Formen der visuellen Wahrnehmung
Zum besseren Grundverständnis des Störungsbildes fasst der Experte die Bereiche der visuellen Wahrnehmung kurz zusammen: Die visuelle Wahrnehmung ermöglicht unter anderem, Formen voneinander zu unterscheiden oder zu erkennen, ob sie unterschiedliche Winkel haben, eng oder weit voneinander entfernt sind. Die räumliche Vorstellung ist nötig, um sich beispielsweise im Zahlenraum oder auf dem Zahlenstrahl zurechtzufinden oder Buchstaben in unterschiedlichen Darstellungsformen oder aus verschiedenen Perspektiven wiederzuerkennen. Mithilfe der räumlichen Konstruktion kann der Mensch einen Gegenstand abzeichnen, nach eigenen Ideen oder angeleitet mit Bausteinen oder Lego etwas konstruieren oder ein Puzzle anfertigen. Die räumliche Orientierung ist die Voraussetzung, sich selbst im Raum verorten und bewegen zu können, zu wissen, wo rechts und links ist und Richtungen zu unterscheiden.
Spezielles ergotherapeutisches Programm
Visuelle Wahrnehmungsstörungen lassen sich mithilfe bewährter Therapiekonzepte und Herangehensweisen behandeln. Auch gibt es aus ergotherapeutischer Feder stammende Programme, die bereits für Kinder ab fünf Jahren in Betracht kommen. „Wichtig ist, zunächst das Hauptproblem zu identifizieren“, sagt der Ergotherapeut Scheid und erklärt weiter: „Oft haben die Kinder nicht nur in einem Bereich ihre Schwierigkeiten, sondern auch mangelnde planerische Fähigkeiten“. Dass es gilt, im ersten Schritt an dieser gravierenderen Störung zu arbeiten, leuchtet ein. Ebenso wie die von dem Ergotherapeuten vorgeschlagene Hierarchisierung der Themen. Die Schwierigkeiten in Folge und aufeinander aufbauend anzugehen, hat sich in der ergotherapeutischen Praxis bewährt. Auf diesem Weg lassen sich in einem so spezifischen Bereich wie visuellen Wahrnehmungsstörung bessere Erfolge erzielen. Hat der Ergotherapeut dann außer den bestehenden Schwierigkeiten herausgefunden, welche Vorlieben das Kind hat und wie es sich maximal motivieren lässt – im Wettbewerb, im Team oder wenn es als Spielführer das Sagen hat –, kann das Training starten.
Vorlieben der Kinder beherzigen
Bei einer Vielzahl von Aufgaben und Möglichkeiten ist eines sicher: es ist für jedes Kind und dessen Bedürfnisse etwas dabei. Denn darauf legen Ergotherapeut:innen großen Wert: alles muss individuell passen, das Kind soll Lust haben, mitzumachen. Die Aufgabenstellungen erfolgen derart, dass es den Kindern gelingt, erfolgreich zu sein – etwas zu können, fördert bekanntlich die Motivation. Um dies zu ermöglichen, regen Ergotherapeut:innen zunächst das laute Denken und das genaue Beobachten bei ihren jungen Klient:innen an: ‚was habe ich gerade gemacht, warum hat das funktioniert, wie war meine Strategie?‘ Die Strategien sind meist einfach, etwa ganz genau hinzuschauen, etwas abzumessen, Teile aufeinanderzulegen oder etwas abzuschätzen. Das Schöne und Nachhaltige an dieser Vorgehensweise und dem Entwickeln von Kompensationsstrategien ist, dass diese bei allen auftretenden Schwierigkeiten anwendbar sind. Die Kinder lernen nicht etwa, wie sie eine bestimmte Aufgabe lösen, sondern erarbeiten sich ihre persönlichen Problemlösungsstrategien für alle Situationen.
Mit ergotherapeutischer Hilfe Selbstwirksamkeit und Erfolg herbeiführen
Infolgedessen wird das Ganze zu einer Art Selbstläufer. Die Kinder lernen, mithilfe ihrer persönlichen Kompensationsstrategien Aufgaben oder Schwierigkeiten erfolgreich zu lösen. Sie werden dadurch mutiger und trauen sich, Neues zu probieren und zwar ohne die Angst, zu versagen. Es kommt zu einer Wechselwirkung zwischen Übung, Erfolgserlebnis, Selbstwirksamkeit. „Kann mein Kind mit dieser Störung die Regelschule besuchen, kommt es mit“, ist eine Frage, die Eltern gerne stellen. Das lässt sich dank einer entsprechenden ergotherapeutischen Intervention, die nach einer bestimmten Zeit manchmal einer Auffrischung bedarf, in vielen Fällen mit ‚Ja‘ beantworten.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeuten vor Ort; Ergotherapeuten in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche
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