Der Koalitionsvertrag wird an vielen Stellen sehr konkret, beispielsweise in Bezug auf Reproduktionstechnologien – das begrüßen wir. Allerdings fehlen an anderer Stelle, beispielsweise zur Gentechnikregulierung, klare Bekenntnisse.
Reproduktionstechnologien
Laut Koalitionsvertrag soll es eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin geben. Eine Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafgesetzbuchs ist dringend angezeigt. Dass aber die Prüfung diesbezüglicher Regulierungsmöglichkeiten in einem Atemzug mit der Legalisierung der sogenannten Eizellspende und Leihmutterschaft genannt wird, ist beunruhigend. „Die Frage der reproduktiven Selbstbestimmung ist im Bezug auf Kinderwunschbehandlungen mit ‚Eizellspende‘ und/oder ‚Leihmutterschaft‘ deutlich komplexer und anders gelagert als im Rahmen individueller Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch. Wir werden weiterhin auf die gesellschaftlichen, politischen und ethischen Probleme reproduktiver Ausbeutung hinweisen und uns für die Aufrechterhaltung des Verbots von ‚Eizellspende‘ und ‚Leihmutterschaft‘ einsetzen“, so Taleo Stüwe, Mediziner und Experte für Reproduktionstechnologien des GeN.
Präimplantationsdiagnostik
Darüber hinaus sieht der Koalitionsvertrag zukünftig eine grundsätzliche Kostenübernahme für Präimplantationsdiagnostik vor. „Ein gleichberechtigter, einkommensunabhängiger Zugang ist gerechter. Allerdings ist auch mit einer Zunahme der Inanspruchnahme von Präimplantationsdiagnostik zu rechnen. Die Herausforderung wird sein, im Blick zu behalten, dass die straffreien Ausnahmen gemäß Präimplantationsdiagnostikgesetz sich weiterhin auf begründete Einzelfälle beschränken“, meint Taleo Stüwe.
Pränataldiagnostik
Überraschend und bedauerlich ist, dass zum Thema Pränataldiagnostik kein einziges Wort im Koalitionsvertrag steht; wurde doch die Orientierungsdebatte im Deutschen Bundestag zu vorgeburtlicher Diagnostik im Frühjahr 2019 von vielen SPD-, Grünen- und FDP-Abgeordneten als Beginn einer wichtigen Auseinandersetzung bezeichnet. Taleo Stüwe fordert: „Der Deutsche Bundestag muss hier endlich Verantwortung übernehmen. Gerade die kürzlich beschlossene Kassenfinanzierung vorgeburtlicher Bluttests auf das Down-Syndrom erhöht die Dringlichkeit einer politischen und gesamtgesellschaftlichen Debatte zu pränataldiagnostischen Untersuchungen, die gezielt nach Behinderungen beim Embryo/Fötus suchen.“
Gentechnik in der Landwirtschaft
In Bezug auf die neuen Gentechnikverfahren wie CRISPR-Cas fehlt im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zur Regulierung. Bei diesem umstrittenen Thema umgeht die Ampel eine Festlegung. Die Verfahren müssen nach Einschätzung von Pia Voelker, Expertin im Bereich Landwirtschaft & Lebensmittel im GeN, weiterhin entsprechend des EU-Vorsorgeprinzips reguliert bleiben. „Gentechnikregulierung bedeutet umfassende Risikoprüfung und -bewertung, Zulassungsverfahren, Kennzeichnungspflicht, Rückverfolgbarkeit, Transparenz und Haftung. Die Unterstützung der Züchtung klimarobuster, regional anpassungsfähiger Pflanzensorten ist ein wichtiger Schritt, jedoch sollte hier auf einen systemischen Wandel hin zu widerstandsfähigen Anbausystemen statt auf technologiefixierte Lösungen gesetzt werden!“
Einsatz von Pestiziden
Laut Koalitionsvertrag sollen Pflanzen so geschützt werden, dass Nebenwirkungen für Umwelt, Gesundheit und Biodiversität vermieden werden. Darüber hinaus sollen die Zulassungskriterien optimiert und Alternativen zu chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln gestärkt werden. Außerdem soll Glyphosat bis Ende 2023 vom Markt genommen werden. All diese Punkte sind ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings bleibt unklar, was sich die neue Bundesregierung unter einer Optimierung der Zulassungskriterien für Pestizide vorstellt und wie Alternativen konkret aussehen. „Wünschenswert wäre vielmehr ein kompletter Verzicht auf Pestizide und stattdessen eine Stärkung von Alternativen des Öko- und Biolandbaus“, so Pia Voelker.
Forschung und Datenschutz
Wir begrüßen die Pläne, Daten aus Forschung, vor allem wenn diese aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde, im Rahmen eines Open Access-Standards für alle zugänglich zu machen. Bedenken haben wir jedoch, wenn es heißt, in einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur und innerhalb eines Europäischen Datenraums sollen „vollständig anonymisierte und nicht personenbezogene Daten für Forschung im öffentlichen Interesse“ zugänglich gemacht werden. „Biologische, insbesondere genetische Daten sind grundsätzlich nicht anonymisierbar, da sie hochindividuell sind. Diese äußerst sensiblen Daten aus biomedizinischer Forschung zu sammeln und beforschen zu lassen, gefährdet den Datenschutz der Betroffenen“, so Dr. Isabelle Bartram, Referentin für Medizin beim GeN.
„Ebenso kritisch wird es bei den Plänen zur wissenschaftlichen Nutzung von Daten aus der elektronischen Patientenakte (ePA) von gesetzlich Versicherten. Laut Koalitionsvertrag soll dies zwar freiwillig sein, doch als Opt-out. Das heißt Bürger*innen müssen aktiv widersprechen – wie leicht dies in der Praxis ist und wie transparent diese Option kommuniziert wird, ist entscheidend“, so Bartram. Das GeN fordert zudem, dass diese hochsensiblen Gesundheitsdaten nachhaltig vor privatwirtschaftlicher Nutzung geschützt werden.
Wissenschaftssystem
Die angestrebten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für Hochschulmitarbeiter*innen des wissenschaftlichen Mittelbaus, also Doktorand*innen und Postdocs, sind längt überfällig. Die momentan üblichen, kurzen Vertragslaufzeiten schaffen prekären Lebensbedingungen. Hinzu kommt die schlechte Vereinbarkeit von Familie und Beruf – diese Umstände sorgen dafür, dass Menschen ohne Mittelschichtshintergrund sowie Frauen* es schwerer haben, Teil des Forschungsbetriebs zu bleiben. Diverse Perspektiven in der Wissenschaft sind jedoch notwendig, wenn deren Produkt dem Wohl der Gesellschaft dienen soll. Wir sind dementsprechend gespannt, wie „mit Citizen Science und Bürgerwissenschaften Perspektiven aus der Zivilgesellschaft stärker in die Forschung“ einbezogen werden sollen. „Die Beteilung zivilgesellschaftlicher Perspektiven an öffentlich geförderter Forschung ist notwendig, damit die Forschungsziele tatsächlich dem Allgemeinwohl dienen. Das Gen-ethische Netzwerk setzt sich seit über 35 Jahren dafür ein, die Interessen von Betroffenen und der Zivilgesellschaft in der Wissenschaft zu berücksichtigen“, so Dr. Isabelle Bartram.
Gemeinnützigkeit
Zum Thema Gemeinnützigkeit freuen wir uns über die Aussagen im Koalitionsvertrag: die Ampel-Koalition will das Gemeinnützigkeitsrecht modernisieren, Zwecke ergänzen und Unsicherheiten beseitigen. Offen bleiben allerdings viele Detailfragen, wie: Wer wird sich hauptsächlich mit dem Gemeinnützigkeitsrecht beschäftigen? Wie werden zivilgesellschaftliche Organisationen eingebunden? „Die Fragen zur Gemeinnützigkeit sind grundlegend für die unabhängige Arbeit des Gen-ethischen Netzwerks. Deswegen werden wir auch hier sehr genau auf die Details der kommenden Entwicklungen schauen“, so Lissy Kynast, Verwaltungsmanagerin im GeN.
Weitere Aspekte im Koalitionsvertrag
Wir begrüßen die geplante Abschaffung von Barrieren und Diskriminierungen queerer Personen und Eltern beispielsweise im Abstammungs- und Familienrecht sowie die Streichung des ‚Transsexuellengesetzes‘ und die Einführung eines Selbstbestimmungsgesetzes.
Gen-ethisches Netzwerk e.V. (GeN)
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