Zur Deeskalation kann auch die Wirtschaft ihren Teil beitragen. Wirtschaft kann Politik nicht ersetzen, aber sie kann ihre spezifischen Dialogkanäle nutzen. Der Ost-Ausschuss feiert dieses Jahr seinen 70. Geburtstag. Über unsere wirtschaftliche Funktion hinaus, haben wir uns immer auch als „Brückenbauer“ gesehen, der zur politischen und gesellschaftlichen Verständigung und Aussöhnung mit einer Region beiträgt, in der Deutschland im 20. Jahrhundert unvorstellbar großes Unheil angerichtet hat. Das Resultat unserer Bemühungen sind enge, über Jahrzehnte gewachsene wirtschaftliche Beziehungen mit der Ukraine und mit Russland. Aus verlässlichen Geschäftspartnern sind dabei Freunde geworden. Deutsche Unternehmen tragen allein in Russland die Verantwortung für rund 280.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Durch ihre Arbeit legen sie auf allen Ebenen – von der Führungsposition bis zu den Beschäftigten in Werken und Büros – tagtäglich die Grundlage für Vertrauen und gegenseitige Anerkennung. Dies ist die langjährige, hart erarbeitete Basis für eine friedliche und erfolgreiche Zusammenarbeit in der Zukunft. Menschen, nicht Staaten, bauen Vertrauen auf.
Wer die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland in Frage stellt, der sollte umgekehrt einmal überlegen, welche Gesprächs- und Einflussmöglichkeiten Deutschland ohne Wirtschaftsbeziehungen mit Russland noch bleiben. Diese Brücken ganz abzubrechen, würde unsere Welt nicht sicherer machen. Die Bundesbürger wünschen sich übrigens mehrheitlich eine engere Kooperation zwischen EU und Russland: Zwei von drei Deutschen (62 Prozent) sprachen sich in einer repräsentativen Forsa-Umfrage im Auftrag des Ost-Ausschusses für intensivere Beziehungen zwischen der EU und Russland aus.
In der aufgeregten politischen und medialen Diskussion zu den möglichen Auswirkungen des Konflikts auf die deutsche Wirtschaft wird zudem die wirtschaftliche Bedeutung Russlands häufig heruntergespielt und rein auf das Handelsvolumen reduziert. Der Außenhandel ist aber nur ein Ausschnitt unserer Wirtschaftsbeziehungen: Russland ist der größte Markt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft und ein wichtiger Investitionsstandort. Deutsche Unternehmen haben auf Grund der Bedeutung des Landes bereits jetzt lokale und regionale Wertschöpfungsketten aufgebaut, um die Kundenbedürfnisse nicht nur in Russland selbst, sondern auch auf anderen Märkten der Eurasischen Wirtschaftsunion und im übrigen Zentralasien zu bedienen, die sich von Russland aus gut erschließen lassen.
Man darf außerdem nicht vergessen, dass ein wesentlicher Teil unserer Öl- und Gasimporte aus Russland stammt, nämlich über 40 Prozent. Die letzten Monate haben uns sehr deutlich gezeigt, dass wir im Zuge der europäischen Energiewende auf Erdgas angewiesen bleiben. Wir brauchen daher mittelfristig eher mehr als weniger Gasimporte aus Russland. Sowohl Nord Stream 2 als auch die Kapazitäten des ukrainischen Gastransitnetzes werden gebraucht, um Europa bis zum endgültigen Ausstieg aus fossiler Energie sicher mit Erdgas und perspektivisch mit Wasserstoff zu versorgen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat kürzlich das Potential Russlands für Wasserstoff und Windkraft hervorgehoben. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat in Moskau die Notwendigkeit des Dialogs und der Zusammenarbeit mit Russland etwa bei der gemeinsamen Bekämpfung des Klimawandels betont.
Neue Wirtschaftssanktionen, sei es gegen Nord Stream 2 oder gegen den russischen Finanzsektor, führen dagegen zu hohen Kosten auf beiden Seiten. Ein präventiver „Überbietungswettbewerb“ schafft für die Unternehmen extreme Unsicherheiten, stärkt den Wettbewerber China und schweißt Russland und China auch sicherheitspolitisch noch enger zusammen. Die weltweiten politischen Konflikte und die Pandemie haben dem gefährlichen Trend ohnehin schon neue Nahrung gegeben, Globalisierung und freien Handel als Gefahr statt als Chance zu begreifen. Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen werden zunehmend zum Instrument der Außen- und Geopolitik. Nach 30 Jahren Hyperglobalisierung droht eine Entflechtung von etablierten Wertschöpfungsketten.
Die global ausgerichtete deutsche Wirtschaft ist grundsätzlich gegen jede Form des Decouplings. Nicht nur im Handel, im Energie- und Finanzsektor, sondern auch im Sicherheitsbereich brauchen wir ein europäisches „Coupling“, das heißt, eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands und der Ukraine. Es sei daran erinnert, dass schon bei den KSZE-Verhandlungen, die 1975 in die Schlussakte von Helsinki mündeten, nicht nur über militärische Sicherheit geredet wurde, sondern dass es außerdem um die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt sowie im humanitären Bereich ging. Sicherheit wurde damals viel breiter gedacht als nur in militärisch-politischen Dimensionen.
Wir brauchen jetzt ein Helsinki 2.0. Die gemeinsame Überwindung der Corona-Folgen durch neue Medikamente und Medizintechnik wäre ein wichtiger Ansatz. Initiativen zur Digitalisierung und zur Fachkräfteaus- und Weiterbildung gibt es bereits, sie könnten aber stärker vernetzt werden. Ähnliches gilt für den Agrarbereich – die Ukraine und Russland sind Rekordweizenproduzenten und setzen stark auf deutsche Landtechnik. Vor allem aber das Thema Energie verbindet Deutschland, Russland und die Ukraine seit über 50 Jahren miteinander. Aus den bestehenden Energiebeziehungen eine trilaterale Klimapartnerschaft zu machen, ist daher ein logischer und überfälliger Schritt. Es ist Zeit für eine Konferenz für Sicherheit und Klimazusammenarbeit in Europa – gerne wieder in Helsinki.
Oliver Hermes ist Vorsitzender des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft e.V. sowie Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe und Vorsitzender des Kuratoriums der Wilo-Foundation. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.
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