Hintergrund: Direkte Demokratie ermöglicht den Bürger*innen einer Kommune oder eines Landkreises, das politische Agenda-Setting mitzugestalten: Das geschieht in einer ersten Stufe mit einem Bürgerbegehren (Unterschriften sammeln) und in einer zweiten Stufe durch einen Bürgerentscheid (Abstimmung durch Wahlen). In beiden Fällen gibt es eine bestimmte Anzahl von gesammelten Unterschriften oder abgegebenen Stimmen, die erreicht werden müssen, ein sogenanntes Quorum. Bei den über 50 Radentscheiden in Deutschland reagierte die lokale Politik aber konsequent auf den mit den Unterschriften verbundenen Bürger*innenwillen und leitete Verhandlungen mit den Initiator*innen ein. Denn wenn es zur Abstimmung kommt, ist das Ergebnis, also die Forderungen des Radentscheids, für die Kommune bindend.
Millionen Deutsche leben in Gemeinden wie Kaarst und wollen ihren Lebensraum mitgestalten. „Vordergründig geht es um Radwege, tatsächlich kämpfen wir aber auch dafür, dass die Bürger*innen ernst genommen und nicht länger auf die Zuschauerränge verwiesen werden. Alle fünf Jahre den Rat zu wählen reicht uns nicht“, sagt Werner Kindsmüller vom Radentscheid Kaarst.
Mit mehr als 2.600 Unterschriften haben die Kaarster*innen das geforderte Quorum erreicht – und damit die bisherige Politik des Stadtrats herausgefordert. Die Aktivist*innen haben die Zusammenarbeit mit der Ratsmehrheit angeboten. Aber statt ernstzunehmenden Verhandlungen mit der Zivilgesellschaft und verbindlicher Zusagen hat der Kaarster Rat als erster in Deutschland den Weg über die Wahlurne gewählt. Er zweifelt damit die lokale Rückendeckung des Radentscheids an. 35.000 wahlberechtigte Kaarster*innen haben es nun in der Hand, ob die Politik damit durchkommt und lebendige Demokratie ein Großstadt-Thema bleibt.
Bundesweit haben fast eine Million Menschen für regionale Radentscheide unterschrieben. Allein in NRW gibt es zehn Radentscheide und das erste Fahrradgesetz eines Flächenlandes mit dem Ziel, den Radverkehr von neun auf 25 Prozent zu erhöhen.
Der schwarz-grüne Stadtrat in Kaarst bestreitet auch nicht den Bedarf einer Neuausrichtung der Mobilität, aber er verweigert konsequent eine Kooperation mit der Zivilgesellschaft: Politik sei Sache des Rates und nicht der Bürger*innen, so ihr Selbstverständnis. Bürgerbeteiligung wird geradezu verhindert, denn nicht einmal bei den Informationsveranstaltungen der Stadt zur Wahl am 6. März dürfen die Initiator*innen des Radentscheids ihre Forderungen selbst vorstellen.
„Von Berlin aus hat die Radentscheidbewegung in über 50 Städten und Gemeinden Gehör gefunden. Nur in Kaarst soll das nicht möglich sein? Wir unterstützen ausdrücklich das zivilgesellschaftliche Engagement vor Ort und fordern alle Kaarster*innen auf, ein bundespolitisches Zeichen zu setzen. Es geht vordergründig um Verkehrspolitik, ja, aber verhandelt wird hier auch das Recht, als Bürger*in gehört und beteiligt zu werden. Die Kaarster*innen können am 6. März mit ihrer Stimme selbstbewusst für lebendige Demokratie entscheiden”, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities.
Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.
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