Im Jahr 2021 wurden in Deutschland wieder deutlich mehr Arbeitskämpfe geführt. Mit insgesamt 221 Arbeitskämpfen hat sich die Anzahl der von Streiks begleiteten Tarifauseinandersetzungen gegenüber dem sehr stark von der Corona-Pandemie geprägten Vorjahr wieder deutlich erhöht, als lediglich 157 Arbeitskämpfe identifiziert wurden. Das zeigt die neue Studie zur Arbeitskampfbilanz 2021 des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.*

Auch die Anzahl der Streikenden und das in Ausfalltagen gemessene Arbeitskampfvolumen hat im zweiten Jahr der Corona-Pandemie wieder deutlich zugenommen. So haben sich 2021 insgesamt 917.000 Beschäftigte an Streiks beteiligt, es gab 590.000 arbeitskampfbedingte Ausfalltage. Im Jahr 2020 waren es hingegen lediglich 276.000 Streikbeteiligte und 342.000 Ausfalltage (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten).

"Nachdem der Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 zunächst zu einer deutlichen Einschränkung von Arbeitskämpfen geführt hat, hat sich im zweiten Pandemie-Jahr das Arbeitskampfgeschehen wieder normalisiert", schreiben die WSI-Experten und Autoren der Studie Prof. Dr. Thorsten Schulten, Dr. Heiner Dribbusch und Jim Frindert. "Im Vergleich der vergangenen 15 Jahre lag das Arbeitskampfvolumen 2021 im oberen Mittelfeld."

Während die Anzahl der Arbeitskämpfe vor allem durch die hohe Zahl von betrieblichen Tarifkonflikten geprägt wird, wird die Anzahl der Streikenden und das Arbeitskampfvolumen vor allem durch die großen branchenweiten Tarifrunden beeinflusst. Die umfangreichsten Streikaktionen fanden 2021 im Rahmen der Tarifrunden der Metall- und Elektroindustrie sowie während der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder, dem Arbeitskampf bei der Deutschen Bahn und im Einzelhandel statt.

Die große Mehrheit der Arbeitskämpfe waren jedoch auch 2021 auf einzelne Firmen begrenzte Auseinandersetzungen um Haustarife. Häufig war das Ziel, Unternehmen zum Anschluss an bestehende Branchentarifverträge zu bewegen, nicht selten ging es aber auch darum, überhaupt eine Tarifbindung zu erreichen oder die Abwehr von Tarifflucht, weil die Arbeitgeberseite Tarifverträge einseitig aufkündigen wollte.

Vor dem Hintergrund der anhaltenden Corona-Pandemie wurden die Gewerkschaften nach der WSI-Analyse auch 2021 wieder vor eine Reihe spezieller Herausforderungen gestellt, für die sie oft kurzfristig neue Formate entwickelten. Für die Durchführung von (Warn-)Streiks mussten weiterhin die bestehenden Auflagen des Infektionsschutzes berücksichtigt und umfangreiche Hygienekonzepte entwickelt werden. Gleichzeitig galt es, die Einbeziehung von Beschäftigten zu organisieren, deren Arbeit sich ins Homeoffice verlagert hatte. Dabei griffen die Gewerkschaften häufig auf kreative, innovative Formen des Arbeitskampfes zurück, die bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 erfolgreich erprobt wurden, so z.B. der internetbasierte "digital-Streik", Streikkundgebungen im Autokinoformat oder Autokorsos.

– Wo 2021 gestreikt wurde –

Die große Mehrheit der Arbeitskämpfe fand wie in den Vorjahren im Rahmen von Auseinandersetzungen um Haus-, Firmen oder Konzerntarifverträge statt. Dieser hohe Anteil betrieblicher Tarifkonflikte spiegelt nach Analyse der WSI-Experten die andauernde "Zersplitterung" des Tarifsystems wider. Nach wie vor versuchten sich viele Unternehmen übergreifenden Regeln durch den Flächentarifvertrag zu entziehen oder lehnten es grundlegend ab, überhaupt Tarifverträge zu verhandeln. Das bekannteste, aber keineswegs einzige Beispiel hierfür ist der Arbeitskampf von ver.di beim Versandhändler Amazon, der 2022 in sein zehntes Jahr eintritt. Zwar hat Amazon unter dem Druck wiederholter Arbeitsniederlegungen nach und nach die Bezahlung seiner Beschäftigten verbessert, verweigert sich aber nach wie vor dem Abschluss eines Tarifvertrags.

Auch 2021 wurden mehrere Auseinandersetzungen um sogenannte Sozialtarifverträge geführt, bei denen die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften versuchten, Schließungen und Verlagerungen, wenn schon nicht zu verhindern, so zumindest in ihren Folgen abzumildern.

Schaut man auf die Zahl der Streikbeteiligten und der ausgefallenen Arbeitstage, fallen solche Auseinandersetzungen in einzelnen Unternehmen aber meist weitaus weniger ins Gewicht als branchenweite Konflikte mit umfangreichen (Warn-)Streikwellen in großen Flächentarifrunden. Das gilt auch für 2021:

Der mit Abstand umfangreichste Arbeitskampf wurde im Rahmen der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie geführt. Nahezu den gesamten März 2021 gab es wiederholt bundesweit große Warnstreikwellen, bis am 30. März in NRW ein erster Abschluss erzielt werden konnte. Bis Mai zog sich die Tarifrunde im IG Metall-Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen hin, wo die Gewerkschaft eine Ausgleichszahlung für die im Vergleich zum Westen längeren Wochenarbeitszeiten forderte und dafür in mehreren Großbetrieben zu 24-stündigen Warnstreiks aufrief.

Überregionale Arbeitskämpfe gab es auch während der Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder sowie im Groß- und Einzelhandel.

In der Fleischindustrie kam es erstmals seit langem wieder zu branchenweiten Tarifverhandlungen, an deren Ende als erster Schritt im Mai 2021 ein neuer Tarifvertrag über einen branchenweiten Mindestlohn stand. Während der Tarifverhandlungen gelang es der Gewerkschaft NGG im April 2021, eine Welle von Protest- und Warnstreikaktionen zu organisieren, an der sich auch Arbeiterinnen und Arbeiter aus Mittel- und Osteuropa beteiligten.

Nicht nur um mehr Geld, sondern vor allem auch um bessere Arbeitsbedingungen ging es in einem mehrwöchigen Streik an den Berliner Kliniken von Charité und Vivantes. Dieser von ver.di organisierte Streik war der Höhepunkt einer über Monate hinweg vorbereiteten und über mehrere Stufen in die Öffentlichkeit getragenen Kampagne für eine Entlastung der Beschäftigten und damit auch für eine bessere Versorgung der Patientinnen und Patienten.

Erfolgreich war 2021 auch eine mehrwöchige von Warnstreiks begleitete Tarifauseinandersetzung der IG Metall im Kfz-Handwerk Baden-Württembergs. Dort gelang es, eine von der Arbeitgeberseite angestrebte drastische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen abzuwehren und eine Verbesserung der Entgelte zu erreichen. Der Schlüssel zum Erfolg war nach der WSI-Analyse eine von den Handwerksbetrieben so nicht erwartete breite Mobilisierung der Beschäftigten.

– Internationaler Vergleich: Deutschland bleibt im Mittelfeld –

In der internationalen Streikstatistik, bei der die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte miteinander verglichen werden, liegt Deutschland weiterhin im unteren Mittelfeld (siehe Abbildung 2 in der pdf-Version dieser PM).

Nach Schätzung des WSI fielen hierzulande in den zehn Jahren zwischen 2011 und 2020, dem jüngsten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen, aufgrund von Arbeitskampfmaßnahmen im Jahresdurchschnitt rechnerisch pro 1.000 Beschäftigte 18 Arbeitstage aus. In Belgien waren es im gleichen Zeitraum 97 und in Frankreichs Privatwirtschaft, deren aktuellste Streikdaten lediglich den Zeitraum 2011 bis 2019 umfassen, im Jahresdurchschnitt 93 Ausfalltage. Ebenfalls deutlich mehr Ausfalltage als die Bundesrepublik weisen Kanada, Finnland, Spanien und Dänemark aus.

Geringfügig über dem Arbeitskampfniveau in Deutschland liegt das der Niederlande und Großbritanniens, geringfügig darunter liegen Polen oder Irland. Weniger als zehn Ausfalltage pro 1.000 Beschäftigte zählten im Jahresdurchschnitt die USA und Ungarn, lediglich zwei pro 1.000 Beschäftigte ergeben sich für Schweden und Österreich, einen Ausfalltag gab es im Schnitt in der Schweiz. In Italien und Griechenland wird seit vielen Jahren keine Streikstatistik mehr geführt. In Großbritannien wurde die Arbeitskampfstatistik 2020 eingestellt; ob und wann sie wieder aufgenommen wird, ist unbekannt.

Beim internationalen Vergleich ist laut WSI zu beachten, dass die Arbeitskampfstatistiken auf teilweise sehr unterschiedlichen Erfassungsmethoden basieren. So beziehen sich die Zahlen für Frankreich allein auf die Privatwirtschaft (einschließlich der Staatsunternehmen), berücksichtigen aber auch Proteststreiks gegen sozialpolitische Beschlüsse der Regierung. Während ähnliches für die belgische Statistik gilt, sind in Spanien die großen Generalstreiks der vergangenen Jahre nicht enthalten. Im Vereinigten Königreich werden, wie bei der amtlichen Statistik in Deutschland, nur Arbeitsniederlegungen ab 10 Beteiligten und einem Tag Dauer mit einbezogen, in den USA sogar nur Streiks mit mindestens 1.000 Beteiligten, in Dänemark gibt es hingegen gar keine Untergrenzen. In Dänemark und Kanada wird das Arbeitskampfvolumen zudem stark durch einzelne, große Aussperrungen beeinflusst.

Erhebliche Lücken hat auch die amtliche Statistik in Deutschland, die von der Bundesagentur für Arbeit erstellt wird. Aufgrund von Defiziten in der Erhebung weist sie von 2011-2020 mit jahresdurchschnittlich acht Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigten lediglich knapp die Hälfte des vom WSI ermittelten relativen Streikvolumens aus. Die Bundesagentur ist sich dabei der Defizite ihrer Statistik bewusst, die im Wesentlichen auf lückenhaften Meldungen der Arbeitgeber basieren.

– 2022: ein Ausblick mit vielen Unbekannten –

Nach zwei Jahren Corona-Pandemie deuteten die Prognosen zu Beginn des Jahres 2022 eigentlich wieder auf einen deutlichen Konjunkturaufschwung, der die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewerkschaftlicher Tarifpolitik deutlich verbessert hätte. Viele Aktiengesellschaften meldeten für 2021 hohe Gewinne und zahlen in diesem Jahr sehr hohe Dividenden aus. Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine haben sich jedoch auch die Rahmenbedingungen für die Tarifpolitik schlagartig verändert. Da Verlauf und Dauer des Krieges noch vollkommen unklar sind, lassen sich auch die damit verbundenen wirtschaftlichen Folgen kaum abschätzen.

In den ersten drei Monaten des Jahres 2022 gab es bereits eine Reihe von Tarifverhandlungen, wie z.B. bei Banken und Versicherungen, der Druckindustrie, Teilen der Nahrungsmittelindustrie oder den Sicherheitskräften an den Flughäfen, bei denen teilweise größere Warnstreikaktionen durchgeführt wurden.

Hinzu kommen einzelne besondere Tarifauseinandersetzungen, in denen es um strukturelle Verbesserungen für die Beschäftigten geht. Die Tarifrunde um Aufwertung- und Entlastung im Sozial- und Erziehungsdienst hat bereits mit ersten Warnstreiks begonnen. Nach den erfolgreichen Tarifabschlüssen bei den Berliner Krankenhäusern Charité und Vivantes will ver.di dieses Jahr ähnliche Tarifverträge bei den Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen durchsetzen und hat ab Mai 2022 vermehrt Aktionen und Warnstreiks angekündigt.

Anmerkung zur Methode der WSI-Arbeitskampfstatistik
Die Arbeitskampfbilanz des WSI ist eine Schätzung auf Basis von Gewerkschaftsangaben, Pressemeldungen und eigenen Recherchen. Warnstreiks, insbesondere wenn sie lokal begrenzt sind, werden nicht von allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb des Tarifgeschehens, wie z. B. betriebliche Proteststreiks, werden nur in Ausnahmefällen bekannt. Die Zahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage (bzw. Streiktage) ist ein rechnerischer Wert, in den neben den von Gewerkschaften gemeldeten Personen-Streiktagen (d.h. der Summe der Kalendertage, an denen individuelle Mitglieder Streikgeld empfingen) auch der vom WSI geschätzte Arbeitsausfall bei Warnstreiks ohne Streikgeldzahlungen einbezogen wird. Analog zur amtlichen Statistik werden bei der Streikbeteiligung Beschäftigte, die an zeitlich getrennten Streiks oder Warnstreiks innerhalb eines Arbeitskampfes teilnehmen, teilweise mehrfach gezählt. Die erfasste Streikbeteiligung ist daher zumeist erheblich höher als die Anzahl der individuellen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die im Verlauf eines Jahres ein- oder mehrmals gestreikt haben.

*Jim Frindert, Heiner Dribbusch, Thorsten Schulten,
WSI-Arbeitskampfbilanz 2021: Normalisierung des Arbeitskampfgeschehens im zweiten Jahr der Corona-Pandemie, WSI-Report Nr. 74, April 2022. Download: https://www.wsi.de/…

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