Die EZB ist von ihrer im Juni abgegebenen Prognose einer Zinserhöhung um 25 Basispunkte im Juli abgewichen und hat stattdessen eine Anhebung um 50 Basispunkte vorgenommen. Lagarde nannte dafür zwei Gründe. Erstens hätten die Inflationsrisiken zugenommen, da die Inflation erneut überraschend gestiegen sei und sich der Preisdruck verstärke. Zweitens ist die EZB der Ansicht, dass flexible PEPP-Reinvestitionen und das neu eingeführte Transmissionsschutzinstrument (Transmission Protection Instrument, TPI) eine reibungslose Übertragung des geldpolitischen Kurses auf alle Länder gewährleisten können.

Natürlich hat die Abkehr von früher gegebenen Prognosen ihren Preis: Alle künftigen Prognosen werden nur noch bedingt glaubwürdig sein. Derzeit lehnt die EZB es auf jeden Fall ab, überhaupt Prognosen abzugeben, was in einem höchst unsicheren stagflationären Umfeld wahrscheinlich eine sinnvolle Strategie ist. Die EZB geht davon aus, dass eine fortlaufende Normalisierung der Geldpolitik angemessen ist, doch wird sie das Vorgehen von Sitzung zu Sitzung, auf der zum jeweiligen Zeitpunkt verfügbaren Datengrundlage, festlegen. Vermutlich bedeutet Normalisierung der Geldpolitik, dass die EZB den Leitzins in Richtung eines neutralen Wertes bringen wird. Die Zentralbank lehnt es jedoch ab, einen Hinweis darauf zu geben, wo in ihren Augen der neutrale Wert liegen könnte. In Verbindung mit dem äußerst unsicheren wirtschaftlichen Umfeld bedeutet dies, dass die Märkte keinen klaren Anhaltspunkt haben, welche Maßnahmen die EZB künftig ergreifen wird. Dies könnte in Zukunft zu zusätzlicher Volatilität an den Anleihemärkten führen.

Die EZB möchte dem Risiko einer Loslösung der Inflationserwartungen entgegenwirken und steht damit vor einer Herausforderung, die Zentralbanken anderer Industrieländer nicht haben. Die Währungsunion ist durch ein zu geringes Maß an realer, finanzieller und sicherlich auch fiskalischer Integration beeinträchtigt. Dies macht die Eurozone sehr anfällig für destabilisierende interne Kapitalströme. Sollte dies eintreten, hätten Kreditnehmer mit identischen Risikomerkmalen je nach Land, in dem sie ihren Wohnsitz haben, unterschiedliche Kreditkosten zu tragen. Eine solche finanzielle Fragmentierung ist eindeutig unerwünscht.

Ein geldpolitischer Straffungszyklus hat das Potenzial, solche destabilisierenden internen Kapitalströme auszulösen, weil er die Divergenz der Wirtschaftsleistung im Euroraum verstärken könnte. Insbesondere liegen die Gleichgewichtsrenditen in den Peripherieländern aufgrund der seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltenden Unterfinanzierung und der allgemein restriktiveren Finanzbedingungen wahrscheinlich deutlich unter denen im Kern. Daher wird ein für die Region im Durchschnitt neutraler geldpolitischer Kurs für die Peripherieländer restriktiv wirken. Dies könnte dazu führen, dass die Anleger zunehmend an der Tragfähigkeit der Staatsschulden der Peripherieländer zweifeln. Sollten die Anleger beginnen, auf diese Zweifel zu reagieren, werden diese zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wie es während der Staatsschuldenkrise von 2010-12 der Fall war.

Um diese negative Entwicklung zu unterbrechen, benötigen die Staaten eine Liquiditätsgarantie, die nur die EZB bieten kann. Die Zentralbanken anderer Industrieländer können dies problemlos leisten, da sie es nur mit einem einzigen Staat zu tun haben. Die EZB hat es jedoch mit 19 (bald 20) verschiedenen Staaten zu tun, und jeder von ihnen könnte in dem Wissen, dass die Kosten eines solchen Handelns weitgehend von anderen getragen werden, der Versuchung einer Finanzverschwendung nachgeben. Bei der Ausgestaltung einer Liquiditätssicherung durch die EZB muss daher ein Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit, Staatsanleihen ein gewisses Maß an Sicherheit zu verleihen, und der Notwendigkeit, Staaten, die sich nicht an die Haushaltsregeln halten, durch höhere Kreditkosten zu disziplinieren, gefunden werden.

Die jüngste politische Unsicherheit in Italien ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein solches Disziplinierungsinstrument von Zeit zu Zeit nützlich sein kann. In den Jahren 2018-19 hatte Italien eine Regierung, die sich über die Haushaltsregeln hinwegsetzen wollte, ihre Pläne aber aufgrund der Ausweitung der italienischen Spreads aufgeben musste. Nach dem Rücktritt von Draghi ist eine vorgezogene Neuwahl wahrscheinlich, die erneut eine italienische Regierung an die Macht bringen könnte, die die Spielregeln der Währungsunion nicht ernst genug nimmt.

Das richtige Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Disziplin bei der Gestaltung einer Liquiditätssicherung zu finden, ist eindeutig ein Prozess, in dem die EZB mit der Einführung des TPI einen weiteren Schritt getan hat. Dieses neue Instrument soll neben den bestehenden Liquiditätssicherungsinstrumenten, d. h. den flexiblen PEPP-Reinvestitionen und den OMT (Outright Monetary Transactions), eingesetzt werden. Das TPI wird im Falle einer ungerechtfertigten gestörten Marktdynamik eingesetzt, womit die EZB vermutlich einen sich selbst verstärkenden Anstieg der Spreads in den Peripherieländern meint, der nichts mit den zugrunde liegenden Fundamentaldaten zu tun hat.

Eine Schlüsselfrage in diesem Zusammenhang: Wie hoch sollte der grundsätzliche Spread eines Staates in einer Währungsunion sein? Vermutlich wird dies durch das Redenominierungs- und Ausfallrisiko (neben einer Liquiditätsprämie) bestimmt, aber da es sich hierbei um Ereignisse mit unvorstellbaren Folgen handelt, ist es für die Märkte sehr schwierig, diese Risiken genau zu bewerten. Natürlich ist dies genau der Grund, warum die Renditen der Peripherieländer anfällig für sich selbst verstärkende Ausweitungen sind.

Aus diesem Grund und weil die EZB das Risiko minimieren will, der monetären Finanzierung hoch verschuldeter Staaten beschuldigt zu werden, wird sie einen großen Ermessensspielraum behalten, unter welchen Umständen das TPI aktiviert werden sollte und wie schnell die Ankäufe dann erfolgen sollten. In jedem Fall wird das TPI prinzipiell für alle Mitgliedstaaten gelten, sofern sie bestimmte Kriterien der fiskalischen und makroökonomischen Nachhaltigkeit erfüllen. Bei der Bewertung dieser Kriterien wird die EZB auch die Meinung anderer internationaler Organisationen wie der Europäischen Kommission, des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) mit einbeziehen. Außerdem verspricht die EZB, dass das TPI nicht in den geldpolitischen Kurs eingreifen wird, bleibt aber vage, wie sie das erreichen will.

Alles in allem bleibt abzuwarten, ob die bisher bekannten Details des TPI die Nerven der Anleger beruhigen können. In einer idealen Welt würde die EZB eine glaubwürdige Liquiditätssicherung mit unbegrenzter Schlagkraft ankündigen. Wäre sie dazu in der Lage, käme kein Anleger auf die Idee, sich mit der EZB anzulegen, und die EZB müsste infolgedessen keine einzige Anleihe kaufen. In der realen Welt ist die EZB jedoch erheblichen politischen Zwängen unterworfen. Wie ihre 23-jährige Geschichte deutlich zeigt, können diese nur überwunden werden, wenn der Druck dazu groß genug wird. Das letzte Wort über die Liquiditätssicherung ist also möglicherweise noch nicht gesprochen.

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