Hintergrund: Eine handlungsfähigere Union in einer sich verändernden strategischen Lage
Seit mehr als einer Dekade hat sich das Sicherheitsumfeld der Europäischen Union kontinuierlich verschlechtert. Die Krisen in Syrien und Libyen gehen in ihr zweites Jahrzehnt, aber die Europäer haben bei den Bemühungen um ihre Beilegung kaum eine Rolle gespielt. Der Afghanistan-Einsatz ist gescheitert und der chaotische Abzug hat den Europäern ihre militärische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten schonungslos vor Augen geführt. Die europäischen Bemühungen um Stabilität in Mali und in der weiteren Sahelzone haben nicht den erhofften Erfolg gebracht. Die Entführung einer europäischen Ryanair-Passagiermaschine durch das Regime von Präsident Lukaschenko in Belarus sowie die Instrumentalisierung von Flüchtlingen als Waffen an der Grenze zu Polen und Litauen haben die EU mit neuen Mitteln der hybriden Kriegsführung konfrontiert. Gleichzeitig hat sich der strategische Wettbewerb zwischen den Großmächten USA und China zum dominierenden Faktor der internationalen Politik entwickelt. Angesichts all dieser Entwicklungen ist die Kluft zwischen den Ambitionen der Europäer, wie sie in der Globalen Strategie von 2016 formuliert wurden, und ihrem tatsächlichen weltweiten Einfluss immer größer geworden. Es ist seit langem klar, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten ihr auswärtiges Handeln, insbesondere ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik, an die neuen Realitäten anpassen müssen, um nicht zu einem Spielball internationaler Entwicklungen zu werden, sondern diese auch weiterhin gestalten zu können.
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat diesem Ziel eine neue Dringlichkeit verliehen. Die Bemühungen, Russland in die europäische Sicherheitsordnung einzubinden, sind gescheitert. Auf absehbare Zeit wird es nun darum gehen, in enger Allianz mit den USA Moskaus Aggression abzuschrecken, das Allianzgebiet zu verteidigen und eine Ordnung zu managen, die nicht mehr von Kooperation, sondern von Konfrontation geprägt ist. Deswegen haben die EU-Mitgliedstaaten in der Erklärung von Versailles vom März 2022 beschlossen, ihre Verteidigungsfähigkeiten grundlegend zu stärken und ihre Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen. Dänemark hat inzwischen ein erfolgreiches Referendum über einen Beitritt zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU abgehalten; Schweden und Finnland werden der NATO beitreten.
Die zentralen Inhalte des Strategischen Kompasses
Der Strategische Kompass geht auf eine Initiative der Bundesregierung zurück. Der Prozess zu seiner Erarbeitung wurde in der zweiten Jahreshälfte 2020 unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft initiiert und am 25. März 2022 nach einer intensiven Dialog- und Schreibphase unter französischer Ratspräsidentschaft abgeschlossen. Das Dokument stellt weniger eine umfassende Strategie dar, als einen konkreten und realistischen Fahrplan für die Entwicklung der Fähigkeiten, Mittel und Instrumente, welche die EU braucht, um in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik endlich handlungsfähiger zu werden. In diesem Sinne dient der Kompass als ein Handbuch, sowohl für die sofortige Reaktion auf eine Kriegssituation mitten in Europa als auch für das Voranschreiten der europäischen Verteidigungszusammenarbeit und -integration auf längere Sicht. Ob es gelingt, die avisierten Ziele auch zu erreichen, liegt dabei entscheidend am politischen Willen der Mitgliedstaaten.
Den Ausgangspunkt des Dokuments bildet eine umfassende gemeinsame Bedrohungsanalyse, die der Europäische Auswärtige Dienst mit Hilfe nationaler ziviler und militärischer Nachrichtendienste erarbeitet hat, und die als geheim eingestuft ist. Auf Basis dieser Bedrohungsanalyse, die den Blick auf die nächsten fünf bis zehn Jahre richtet, zeichnet der Strategische Kompass ein düsteres Bild des strategischen Umfelds Europas und sieht die EU klar einem geopolitischen Wettbewerb ausgesetzt. Auch wenn der Kompass eine globale Perspektive einnimmt, fokussiert er sich primär auf die europäische Nachbarschaft. Angesichts des russischen Einmarschs in die Ukraine wurde der Kompass im Monat vor seiner Veröffentlichung noch einmal grundlegend überarbeitet. Dies bezog sich insbesondere auf die Sprache zu Russland, das im Dokument nun gleich zu Beginn mit scharfen Worten als zentrale Bedrohung identifiziert wird, sowie auf eine noch stärker verankerte Komplementarität zwischen EU und NATO. Auch die Aussagen zu den Verteidigungsausgaben und hybriden Bedrohungen sowie Cyberangriffen wurden im Text noch einmal angepasst.
Ziel des Kompasses ist es, mehr Kohärenz in die existierenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Initiativen (jährliche Überprüfung der Verteidigung (Coordinated Annual Review on Defence, CARD); Europäischer Verteidigungsfonds (European Defence Fund, EDF) und Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO)) zu bringen und neue Impulse für europäische Kooperation zu geben. Letztlich soll der Kompass mehr Klarheit darüber bringen, welche Ziele die EU als sicherheitspolitische Akteurin eigentlich verfolgen soll und welche Mittel von den Mitgliedstaaten dafür bereitgestellt werden.
Das gesamte Dokument umfasst 64 Seiten und stellt die wichtigsten Maßnahmen in vier Bereichen vor: Krisenmanagement (ACT), Resilienz (SECURE), Fähigkeiten (INVEST) und Partnerschaften (PARTNER). Der Kompass verfolgt dabei einen handlungsorientierten Ansatz; er nennt konkrete Vorschläge und Aktionspunkte, Zieldaten und Meilensteine zur Messung der Fortschritte, welche der Rat der EU und der Europäische Rat auch regelmäßig überprüfen sollen. Die gesamte Umsetzung soll bis 2030 erfolgt sein, vieles ist aber bereits bis 2025 avisiert.
Im Bereich Krisenmanagement (ACT) geht es um die Notwendigkeit, Europa in die Lage zu versetzen, bei Ausbruch einer Krise rasch und entschlossen zu handeln, „wenn möglich mit Partnern, wenn nötig allein“. Zu diesem Zweck sind eine Reihe von Maßnahmen vorgesehen, unter anderem der Aufbau einer Rapid Deployment Capacity von bis zu 5.000 Einsatzkräften, die maßgeblich auf modifizierten EU-Battlegroups aufbauen und regelmäßig gemeinsam üben sollen. Der Kompass spricht sich für die Stärkung der militärischen EU-Kommando- und Kontrollstrukturen und die Flexibilisierung von Missionen und Operationen aus, zum Beispiel durch die Möglichkeit, im Rahmen des Art. 44 EUV Koalitionen der Willigen innerhalb des EU-Rahmens zu etablieren. Es sollen zusätzliche Anreize für die Mitgliedstaaten geschaffen werden, Streitkräfte für zivile und militärische GSVP-Missionen aufzustellen, indem der Anwendungsbereich für gemeinsame Kosten erweitert wird. Außerdem betont der Strategische Kompass ausdrücklich die Notwendigkeit, mit europäischen ad-hoc-Koalitionen, die sich außerhalb des EU-Rahmens bewegen (wie zum Beispiel dem Spezialkräfteverband Takuba im Sahel), enger und effektiver zusammenzuarbeiten.
Im Bereich Resilienz (SECURE) zielt der Kompass darauf ab, die Fähigkeit der EU zu stärken, Bedrohungen zu antizipieren, einen sicheren Zugang zu den „strategic domains“ – dem Weltraum, dem Cyberraum und den Weltmeeren (space, cyber, maritime) – zu gewährleisten und die europäischen Bürger besser zu schützen. Der Kompass nennt unter anderem den Ausbau der nachrichtendienstlichen Kapazitäten der EU und die Schaffung einer umfassenden EU Hybrid Toolbox, mit Hilfe deren Instrumente sich die EU und die Mitgliedstaaten besser und koordinierter gegen hybride Angriffe zur Wehr setzen können. Der Kompass regt insbesondere an, die Cyberverteidigungspolitik der EU weiterzuentwickeln um besser auf Cyberangriffe vorbereitet zu sein.
Besondere Bedeutung kommt dem Bereich Fähigkeiten (INVEST) zu, in dem es um koordinierte und verstärkte Investitionen in Verteidigungskapazitäten und innovative Militärtechnologien geht – einer der größten Schwachpunkte der europäischen Verteidigung bislang. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, mehr und besser zu investieren, Fragmentierung zu überwinden, auf volle Interoperabilität ihrer Streitkräfte hinzuwirken, kritische Fähigkeitslücken gemeinsam zu schließen und eine resiliente, wettbewerbsfähige und innovative technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung zu schaffen. Mit der Verabschiedung des Dokuments sind die Mitgliedstaaten wichtige Verpflichtungen eingegangen, die, wenn sie eingehalten und umgesetzt werden, nicht nur zu höheren Verteidigungsausgaben führen werden, sondern auch zu hochmodernen militärischen Fähigkeiten.
Zuletzt widmet sich der Kompass dem Bereich Partnerschaften (PARTNER). Für die EU ist die Zusammenarbeit mit Partnern nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Wert an sich. Partnerschaften sind Ausdruck des europäischen Engagements für Multilateralismus und eine regelbasierte internationale Ordnung. Ziel des Strategischen Kompasses ist es, die Partnerschaften der EU auf globaler, regionaler und bilateraler Ebene strategischer zu gestalten. Dazu soll unter anderem die Schaffung des EU-Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaftsforums dienen.
Schwerpunkt 1: EU-NATO-Kooperation
Auf zwei zentrale Aspekte des Strategischen Kompasses soll im Folgenden besonders eingegangen werden. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer stärkeren EU im Bereich Sicherheit und Verteidigung war bislang, dass es keinen Konsens darüber gab, welche Ziele die EU insgesamt verfolgen sollte – insbesondere in Bezug auf die NATO. Besonders deutlich wurde dies während der Jahre der Präsidentschaft Donald Trumps in den USA, als die Europäer eine polarisierende Debatte über die Notwendigkeit von mehr „strategischer Autonomie“ geführt haben. Einige EU-Mitgliedstaaten, vor allem in Mittel-, Ost- und teilweise Nordeuropa, sehen darin einen Versuch der Abkopplung von Amerika und damit eine Bedrohung.
Glücklicherweise versucht das Dokument in keiner Weise, die EU als Alternative zur NATO zu positionieren. Im Gegenteil: Die Betonung der Notwendigkeit einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen zieht sich wie ein roter Faden durch das Dokument. Zwei Dinge sind dabei als besonders wichtig hervorzuheben. Zum einen sorgt der Strategische Kompass für eine klarere Arbeitsteilung zwischen beiden Organisationen. Er identifiziert die NATO eindeutig als diejenige Allianz, die sich um Abschreckung und Verteidigung kümmert. Zwar spielt die EU eine Rolle bei der Verteidigung der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer Beistandsklausel (Art. 42.7 EU), aber sie versucht in keiner Weise, in Konkurrenz zur NATO zu treten. Gleichzeitig positioniert sich die EU aber als Ermöglicherin einer besseren europäischen Verteidigung, indem sie dafür Sorge trägt, kritische Fähigkeitslücken zu schließen, die Widerstandsfähigkeit der europäischen Gesellschaften zu stärken und Stabilität in die europäische Nachbarschaft zu projizieren. Der größte Beitrag, den die EU zur Lastenteilung in der NATO beitragen kann, ist die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, mehr und besser in ihre Verteidigungsfähigkeit und in innovative Technologien zu investieren. Hauptziel sollte es daher zukünftig sein, im Rahmen der EU gemeinsame militärische Fähigkeiten zu beschaffen, die auch der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit der NATO stärken können.
Je mehr die Europäer in den kommenden Jahren in ihre eigenen Verteidigungsfähigkeiten investieren, desto attraktiver werden sie als Partner für die USA. Dies wird aber nicht ohne Reibungen ablaufen, insbesondere wenn es um Industriepolitik geht und um die Frage, ob die vielen zusätzlichen Milliarden für die Verteidigung für europäische oder amerikanische Produkte ausgegeben werden sollen. Dabei müssen die Europäer Washington immer wieder signalisieren, dass zu einem fähigeren Europa in Sachen Sicherheit und Verteidigung auch eine starke, innovative und wettbewerbsfähige Verteidigungsindustrie gehören muss, deren Expertise in strategischen Zukunftstechnologien der anderer Großmächte ebenbürtig ist.
Die EU hat sich im Strategischen Kompass das Ziel gesetzt, die military mobility in Europa weiter zu verbessern, indem sie eine Verkehrsinfrastruktur im gesamten transeuropäischen Verkehrsnetz entwickelt, die in der Lage ist, umfangreiche Bewegungen von militärischem Personal, Material und Ausrüstung für operative Einsätze nahtlos zu bewältigen. Dies kommt auch der NATO-Verlegefähigkeit zugute, wie auch das neue Strategische Konzept der NATO betont.
Noch haben beide Organisationen das volle Potenzial ihrer Kooperation nicht ausgeschöpft und die Gefahr von unnötigen Schönheitswettbewerben zwischen beiden Organisationen ist nicht ausgeschlossen. Fraglich ist zum Beispiel, in welchen Verhältnis der im Strategischen Kompass erwähnte europäische „Defence Innovation Hub“ zum durch die NATO geplanten „Innovation Fund“ steht. Dennoch stehen die Zeichen für eine für beide Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit besser denn je. Der bevorstehende Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO und das Opt-In der Dänen zur GSVP werden die Friktionen zwischen der NATO- und der EU-Mitgliedschaft weiter verringern.
Schwerpunkt 2: Krisenmanagement der Zukunft
Auch wenn die NATO den Bereich Krisenprävention und Krisenmanagement weiter als einen Schwerpunkt benennt, liegt ihr klares Hauptaugenmerk auf Abschreckung und Verteidigung. Die Europäer werden künftig mehr Verantwortung übernehmen müssen, wenn es darum geht, in ihrer eigenen Peripherie für Sicherheit zu sorgen. Nach den Erfahrungen in Afghanistan und Mali hat sich eine Interventionsmüdigkeit eingestellt. Der Krieg in der Ukraine lenkt nun zusätzlich die Aufmerksamkeit vom Krisenmanagement ab. Diese Kernaufgabe dürfen die Europäer aber nicht aus den Augen verlieren, vor allem angesichts der massiven Auswirkungen des Krieges auf Regionen wie Nord- oder Westafrika oder den Nahen Osten durch drohende Hungersnöte aufgrund von Nahrungsmittelknappheit und steigenden Preisen.
Während die EU in den letzten Jahren ihre operativen Strukturen und Fähigkeiten auf dem Papier gestärkt hat, haben ihre Mitgliedstaaten nur wenig davon Gebrauch gemacht. Heute gibt es im Rahmen der GSVP weit weniger Missionen und Operationen als in ihren Anfangsjahren. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 konzentriert sich das Krisenmanagement der EU vor allem auf den Aufbau von Kapazitäten und die Ausbildung von Sicherheits- und Streitkräften. Immer wieder haben sich die Mitgliedstaaten schwergetan, die erforderlichen militärischen und zivilen Kräfte bereitzustellen, nachdem sie im Europäischen Rat für eine EU-Mission oder -Operation gestimmt haben. Diejenigen Mitgliedstaaten, die in den Einsatz gehen wollten, haben die schwerfälligen und Konsens erfordernden Abstimmungsprozesse in Brüssel oft gescheut und sind stattdessen ad-hoc-Kooperationen eingegangen.
Richtigerweise versucht der Strategische Kompass nun, das europäische Krisenmanagement flexibler, schneller und effektiver zu gestalten. Er enthält einige konkrete Ideen: Die Umsetzung von Artikel 44 EUV, der den Staaten die Möglichkeit gibt, nach einer Mandatierung durch den Europäischen Rat in flexibleren Einsatzgruppen der Willigen zu operieren, könnte die Entscheidungsfindung beschleunigen. Auch wenn dies sicherlich kein Allheilmittel ist, so könnte es doch für die Mitgliedstaaten attraktiver werden, militärische Kräfte und Fähigkeiten für Operationen bereitzustellen.
Der Kompass schlägt auch vor, dass die EU einen finanziellen Beitrag zur Unterstützung der kollektiven Maßnahmen der Mitgliedstaaten durch die neu eingerichtete Europäische Friedensfaszilität leisten könnte. Bislang gilt bei GSVP-Missionen und -Operationen das Prinzip „costs lie where they fall“, was bedeutet, dass jeder Mitgliedstaat sich genau so viel an den Kosten einer Mission beteiligt, wie er dazu an Kräften und Fähigkeiten beiträgt. Letztlich hängt es jedoch vom Willen der Mitgliedstaaten ab, ob die im Strategischen Kompass vorgeschlagenen Mittel und Instrumente eingesetzt werden. Dies gilt auch für die neu geschaffene Rapid Deployment Capacity der EU, deren Nützlichkeit erst noch unter Beweis gestellt werden muss, basiert sie doch auf modifizierten EU-Battlegroups, die selbst bislang noch nie eingesetzt worden sind.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Der Strategische Kompass gibt viele richtige Impulse, wie die EU ihren internationalen Fußabdruck im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik verstärken könnte. Ohne den konkreten politischen Willen der Mitgliedstaaten zu mehr Handlungsfähigkeit hilft jedoch auch das beste Handbuch nichts. Die Europäer hatten bereits in der Vergangenheit weniger ein Erkenntnis- als vielmehr ein Umsetzungsproblem. Es bleibt zu hoffen, dass Russlands Krieg in der Ukraine endlich dazu geführt hat, dass sie ein höheres Bewusstsein für die Dringlichkeit dieser Umsetzung entwickeln.
Die steigenden Budgets für Verteidigung und die größere Rolle der EU-Kommission könnten anders als in der Vergangenheit nun tatsächlich zu einer echten europäischen Verteidigungsintegration und -konsolidierung führen. Auf ihrem Krisengipfel in Versailles am 11. März 2022 haben die Staats- und Regierungschefs der Kommission den Auftrag erteilt, in Zusammenarbeit mit der Europäischen Verteidigungsagentur eine Analyse der Investitionslücken im Verteidigungsbereich vorzulegen und weitere Initiativen vorzuschlagen, die zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis Europas erforderlich sind. Diese Vorschläge liegen nun auf dem Tisch; sie ergänzen bestehende Instrumente wie den Europäischen Verteidigungsfonds und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit und verfügen über eine zusätzliche finanzielle Schlagkraft.
Das starke Engagement der Biden-Administration in der Ukraine sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Prioritäten Washingtons sich in den letzten Jahren nach Asien verschoben haben und die transatlantischen Beziehungen neu austariert werden müssen. Die Europäer neigen manchmal dazu, ihren Blick zwanghaft nach Washington zu richten, anstatt sich darauf zu konzentrieren, wie sie selbst die europäische Verteidigung voranbringen wollen. Letztlich aber liegt es maßgeblich an ihnen, ob sie es schaffen, Sicherheit und Stabilität in Europa zu gewährleisten – und so letztlich auch die USA in Europa engagiert zu halten. Der Strategische Kompass weist den Weg in die richtige Richtung, aber die Europäer müssen diese nun auch einschlagen.
Dr. Jana Puglierin ist Head of Office des European Council on Foreign Relations (ECFR) Berlin und Stellvertretende Sprecherin des Beirats für die BAKS. Die Autorin gibt ihre persönliche Meinung wieder.
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