Manchmal sagt einer zu einem anderen, und das klingt dann ein wenig spöttisch oder sogar vorwurfsvoll: „Du bist doch ein richtiger Märchenerzähler.“ Aber das ist ungerecht. Denn Märchen zu erzählen ist eine große Kunst. Und Märchen zu lesen oder auch zu hören (das ist eine sehr alte Kunst, die wahrscheinlich noch vor dem Aufschreiben existierte), das kann ein großes Vergnügen sein, es kann Freude auslösen und manchmal auch Traurigkeit, meist aber kann man sich in die handelnden Figuren hineinversetzen, mit ihnen fühlen, durch das Märchenland spazieren, mit ihnen leben, kämpfen und lieben, mit ihnen fröhlich und traurig sein und die große Hoffnung haben, dass am Ende alles gut werden wird. Wie es eben im Märchen so zugeht.

Eine solche Märchenerzählerin und ihre märchenhaften Geschichten kann man im dritten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters lesen, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 12.08. 22 – Freitag, 19.08. 22) zu haben sind. In „Pechvogel Glückspilz“ – einer von drei Geschichten des gleichnamigen Buches erzählt Holda Schiller von einem jungen Mann, der beides zugleich ist sowie von zwei Jungen, die immer kleiner werden, bis sie kaum noch zu sehen sind und am Ende doch noch auf zauberhafte Weise gerettet werden können und von einem im besten Sinne des Wortes verrückten Huhn, das einen abenteuerlichen Ausflug unternimmt.

In „Der Brillenindianer“ machen Hildegard und Siegfried Schumacher mit einem kleinen Jungen bekannt, der nach dem Umzug in die neue Stadt an die falschen Freunde und in große Schwierigkeiten gerät.

Gedichte über die Liebe und das Glück des Verliebtseins und des Zusammenseins, aber auch über Verlust und Tod, Trauer und Einsamkeit präsentiert „Die Liebe und der Tod“ von Erik Neutsch und zeigt damit eine ganz andere Seite dieses Autors.

Den verworrenen Beziehungen zweier Schwestern und deren Hintergründen ist Dorothea Iser in „Besuchszeit“ auf der Spur. Jule, die ältere von beiden, liegt mit schweren Verletzungen im Krankenhaus. Was war passiert? Und hätte man das Unglück verhindern können?

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Eines dieser großen Themen ist der menschliche Umgang der Menschen miteinander – und zwar mit allen Menschen. Egal, ob sie nun weiß oder schwarz sind oder noch eine andere Hautfarbe haben. Aber das scheint nicht so einfach zu verstehen und zu praktizieren zu sein. Und wahrscheinlich machen sich noch zu wenige Leuten Gedanken, wenn sie zum Beispiel dunkelhäutige Menschen neugierig fragen, wo sie denn eigentlich herkommen. Und nicht selten sind diese dunkelhäutigen Menschen Deutsche wie sie und kommen wie sie von hier. Und eine solche Frage ist Rassismus, Alltagsrassismus. Jedenfalls beginnt er da. Scheinbar harmlos. Manchmal ist es aber auch schlimmer.

Erstmals 2002 erschien im Projekte Verlag Halle „Peggy Vollmilchschokolade“ von Siegfried Maaß: Ihr seltsames und fremdes Aussehen hatte Peggy natürlich schon bemerkt, ehe sie ein Schulkind geworden war und wenn es ihr damals nicht selbst aufgefallen wäre, hätten die Bemerkungen der anderen Kinder sie darauf aufmerksam gemacht. Sie erinnert sich, dass einmal ein Junge, der nur etwas größer war als sie selbst, zu ihr herantrat, vorsichtig seinen Finger ausstreckte und damit ihre Wange berührte.

„Du bist ja ganz braun“, sagte er erstaunt und betrachtete dann aufmerksam seinen Finger und schien sich zu wundern, dass der nicht ebenfalls braun geworden war. Das war, als sie sich nach einem Spaziergang im Stadtpark von der Hand der Mutter losgerissen hatte, um den Spielplatz zu erobern, der verlassen und scheinbar völlig vergessen vor ihr in der Sonne lag. Und fast jeden Morgen hat Peggy, die wir gleich kennenlernen werden, eine große Wut vor dem großen Spiegel im Bad:

1.

Jeden Morgen, wenn Peggy im Bad vor dem großen Spiegel steht, fällt ihr erneut auf, dass sie so ganz anders aussieht als Stefan und die übrigen Kinder in ihrer Klasse. Oder als ihr großer Bruder Mike und auch ihre Mutter. Dann wischt sie manchmal wütend über die Spiegelscheibe, als könnte sie damit das Bild, das sich ihr bietet, auslöschen oder zumindest nach ihren Wünschen verändern. Aber alles bleibt so, wie es schon seit sieben Jahren ist: Die kurze dicke Nase, die ihre Mutter als ‚Stupsnase‘ bezeichnet, und das schwarze krause Haar, das buschig vom Kopf absteht und das sie mit keinem normalen Kamm bezwingen kann. Ihre Augen sind so dunkel, dass sie manchmal selbst erschrickt, wenn sie sich ansieht und ihre Haut hat die Farbe von Vollmilchschokolade.

„Richtig zum Anbeißen“, hat dann auch mal jemand zu ihr gesagt und nachdem die Frau, die eine Bekannte ihrer Mutter war, sie sogar auf die Wange geküsst hatte, prüfte Peggy erst einmal vorsichtig, ob die Frau nicht tatsächlich ein Stück von ihr abgebissen hatte. Aber zum Glück fehlte nichts von ihrem Gesicht und es gab auch kein Loch in ihrer Wange. Trotzdem war sie seitdem sehr vorsichtig, wenn sie die Frau zufällig trafen, die ihr Hündchen ausführte, das so aussah, als hätte sie es selbst gestrickt. Meistens hielt sich Peggy dann an der Hand der Mutter fest und versteckte sich sogar hinter der Mutter, sobald sich die Frau zu ihr hinabbeugte. Von ihr wollte sich Peggy weder berühren oder auch nur übers Haar streichen lassen.

„Was hat sie denn nur?“, fragte die Frau Peggys Mutter darauf. Dann sah sie auf Peggy hinunter und schüttelte verständnislos den Kopf, wobei ihre langen blonden Haare wie ein Tuch im Wind flatterten. „Ich tu dir doch gar nichts.“

„Komm vor“, sagte die Mutter dann lachend und zog Peggy sanft nach vorn, sodass sie nun der Frau wieder gegenüber stand. Doch die rührte keine Hand mehr, um Peggy zu streicheln und die Lust zu einem Kuss auf Peggys Wange schien ihr dieses Mal auch vergangen zu sein. Sie bückte sich stattdessen zu ihrem Hündchen hinunter und strich beruhigend über dessen struppiges Fell, nachdem es böse zu knurren begonnen hatte, weil es wohl nicht begreifen konnte, dass jemand sein Frauchen nicht leiden mochte.

Ihr seltsames und fremdes Aussehen hatte Peggy natürlich schon bemerkt, ehe sie ein Schulkind geworden war und wenn es ihr damals nicht selbst aufgefallen wäre, hätten die Bemerkungen der anderen Kinder sie darauf aufmerksam gemacht. Sie erinnert sich, dass einmal ein Junge, der nur etwas größer war als sie selbst, zu ihr herantrat, vorsichtig seinen Finger ausstreckte und damit ihre Wange berührte.

„Du bist ja ganz braun“, sagte er erstaunt und betrachtete dann aufmerksam seinen Finger und schien sich zu wundern, dass der nicht ebenfalls braun geworden war. Das war, als sie sich nach einem Spaziergang im Stadtpark von der Hand der Mutter losgerissen hatte, um den Spielplatz zu erobern, der verlassen und scheinbar völlig vergessen vor ihr in der Sonne lag. „Peggy!“, rief die Mutter, aber Peggy achtete nicht darauf. Endlich würde ihr der schöne große Spielplatz einmal ganz allein gehören! Zuerst kletterte sie auf das Eisengerüst und kreischte erschreckt auf, weil die einzelnen Stäbe in der Sonne heiß geworden waren. Indem sie ihre in den Knien eingeknickten Beine wie ein Paar Haken benutzte, ließ sie mutig den Kopf herabhängen, der plötzlich von ihrem Rock wie von einem Vorhang verdeckt wurde. Als sie davon genug hatte, nahm sie einen weiten Anlauf und schwang sich auf das kleine Karussell, wo sie so lange ausharrte, bis es wieder stillstand. Anschließend lief sie zur Wippe, wo es ihr aber allein kein Vergnügen bereitete, sodass sie zu guter Letzt in den Sandkasten sprang, wo der Sand aufspritzte wie das Wasser in der Wanne, wenn sie mit der flachen Hand darauf schlug. Der Sand war sehr warm, was Peggy gut gefiel, genau wie heißes Badewasser und am liebsten hätte sie jetzt ‚Engel‘ gespielt und sich im Sand auf den Rücken gelegt und Arme und Beine weit von sich gestreckt. Aber sie wusste, dass die Mutter es nicht leiden konnte, wenn sie sich schmutzig machte und unterließ es darum. Die Mutter hatte sich inzwischen auf eine der Bänke gesetzt, die im Schatten großer Kastanienbäume standen und Peggy sah, dass sie sich eine Zigarette anzündete und sie hoffte deshalb, dass sie selbst nun genug Zeit zum Spielen haben würde. Bald darauf setzte sich eine fremde Frau auf eine der anderen Bänke und der Junge, der zu ihr gehörte, kam langsam auf den Sandkasten zu und blieb dann bewegungslos davor stehen. Er sah Peggy neugierig an, ehe er schließlich zu ihr trat und mit seinem Finger ihre Wange berührte.

„Das ist von der Sonne in Afrika und färbt nicht ab“, sagte Peggy, als sie bemerkte, wie der Junge erstaunt seinen Finger betrachtete. Dann versteckte er ihn unter den anderen und ballte eine Faust.

„Afrika ist aber weit“, meinte er und musterte Peggy so genau, dass sie unsicher wurde und drohend sagte: „Sieh mich bloß nicht so an, du, sonst …“

„Ich hab keine Angst vor dir“, antwortete der Junge und hielt nun wie zur Abwehr seine Faust vor die Brust. „Auch wenn du aus Afrika bist.“

„Ich doch nicht“, sagte Peggy und achtete auf die Faust des fremden Jungen.

„Kommst du denn nicht von dort?“

„Nur mein Vater. Jetzt ist er wieder in Afrika. Und er ist viel dunkler als ich, sagt meine Mutter.“

„Meiner ist ganz hell, so wie ich, und er hat rote Haare.“ „So wie du? Vielleicht hat er auch solche Pickel.“

„Das sind keine Pickel, sondern Sommersprossen.“ Peggy lachte plötzlich laut und hielt sich die Hand vor den Mund. „Bekommst du dann auch Wintersprossen? Ich meine, wenn es richtig kalt wird?“

Der Junge streckte seine Faust angriffsbereit vor. „Du bist blöd“, sagte er. „Wintersprossen! So was Dummes habe ich noch nie gehört. Wintersprossen! Gibt es die vielleicht bei euch in Afrika?“

„Selbst blöd. Wintersprossen in Afrika! Ohne Winter vielleicht?“

„Ist es denn dort nie kalt?“

Peggy wusste nicht, was sie antworten sollte. Warum fragte der rothaarige Junge auch so doof! Sie ist doch selbst noch nie in Afrika gewesen und wenn sich ihre Mutter mit Rufino, ihrem Vater, nicht wieder vertrug, würde sie bestimmt auch niemals nach Afrika kommen. „Lass mich bloß in Ruhe!“, sagte sie böse und ahnte sofort, dass sie eigentlich auf sich selbst viel mehr böse war als auf den Rothaarigen. Er war doch nur neugierig und stellte seine dummen Fragen.

Wie auch sie welche stellte, das wusste sie doch von ihrer Mutter, die oft genug zu ihr sagte: „Verschon mich bloß mit deinen dummen Fragen!“

Der Junge hatte sich inzwischen in den Sand gesetzt und begann nun mit den Füßen einen Wall um sich aufzuschichten. Peggy blickte erstaunt zu seiner Mutter, die ihm von ihrer Bank aus zusah und sie wunderte sich, dass die fremde Frau kein Wort darüber verlor. Ihr Blick wanderte nun zu ihrer Mutter, die jedoch mit sich selbst beschäftigt schien und nicht auf ihre Tochter achtete. Langsam ließ sich Peggy darauf in den Sand nieder, zog sittsam ihren Rock über die Knie und versuchte nun ebenfalls einen Sandwall um sich aufzuschichten, was ihr aber nicht gelingen wollte. Darum legte sie sich flach auf den Rücken und streckte Arme und Beine von sich. „Ich bin jetzt ein Engel“, sagte sie zu dem Jungen, der seine Beschäftigung unterbrach und ihr zusah. Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Erstmals 1982 veröffentlichten Hildegard und Siegfried Schumacher im Kinderbuchverlag Berlin „Der Brillenindianer“: Otto alias Häuptling Adlerauge ist mit seinen Eltern in eine andere Stadt gezogen. Dort, in dem Wald hinter dem Neubaugebiet, findet er auf einem seiner Streifzüge eine geheime Burg, die drei größere Jungen sich errichtet haben. Ihr Häuptling Branco nimmt Otto in die Bande auf. Warum Bande, fragt sich Otto, dann sind sie ja gar keine Indianer. Tatsächlich zwingen sie Otto zu Dingen, die nichts mit seiner Indianerehre zu tun haben. Als er auch noch in einen Kaufhallendiebstahl verwickelt und seine Brille gestohlen wird, sucht er die Unterstützung seiner Eltern. Doch ganz allein mit seiner Freundin Antje will er die drei Großen zur Rede stellen. Aber zunächst wird den jungen Leserinnen und Lesern eine wichtige Frage gestellt, eine die nicht ganz einfach und die nur mit einem Indianer-Ehrenwort zu beantworten ist:

1. Kapitel

Hast du jemals einen Indianer mit Brille gesehen?

Du kennst doch Indianerfilme noch und noch, und was sahst du da? Geritten wurde, geschossen, geschlichen, geschwommen, Friedenspfeife rauchte man, grillte ganze Bären am Spieß, Tomahawks wirbelten durch die Luft, scharfäugig spähten Indianer nach dem Feind aus, oder sie blickten voller Verachtung vom Marterpfahl auf ihre Gegner. Eine Brille aber, nein, eine Brille trug niemand! Es hatte auch keiner Sommersprossen. Niemand lag einfach so auf der Wiese und träumte in die Wolken. Und hast du auch nur einen gesehen, der am Fluss saß und rein zum Spaß die Beine ins Wasser baumeln ließ?

Unmöglich — sagst du, und du kennst dich mit diesen Filmindianern aus —, da kommen weder Wolkenträumer noch Beinebaumler vor, und eine Brille — sagst du —, wie sieht denn das aus: Federkrone, Adlerblick und ’ne Brille davor! Außerdem gibt es von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf der Prärie keinen Optiker, das weiß doch jeder, und jedermann weiß auch, Indianer haben fortwährend kühn und unheimlich aktiv zu sein.

Aktiv ist unser Indianer. Er rennt — nein, er hüpft gerade die Treppe hinunter, und obwohl gar nicht Frühling, sondern herrlich heiße Sommerzeit ist, pfeift er „Alle Vögel sind schon da“. Mal wirft er das linke, mal das rechte Bein beim Hüpfen vor.

Das ist kein echter Indianer! Er sieht nur so aus. Aber dich kann er nicht täuschen, schon darum nicht, weil er eine Brille trägt und, statt zu schleichen oder sich sonst nach weit und breit bekannter Indianerart fortzubewegen, vergnügt vor sich hin pfeifend Stufe für Stufe abwärts hopst. In einem Neubau dazu! Nein, und hätte er sich sieben Häuptlingsfederkronen auf den Kopf gestülpt, dich täuscht er nicht!

Der nachgemachte Indianer ist Otto aus dem fünften Stock.

[*] Kapite

Gestern war Otto eingezogen im Neubaublock am Stadtrand von Eichberge. Natürlich nicht allein, sondern mit seinen Eltern und Elle, der kleinen Schwester. Das heißt, Elle war einstweilen bei Onkel Udo und Tante Gitta in Drosseldorf. Kleine Kinder stören beim Umzug. Otto sollte auch dort bleiben. Er hatte abgelehnt und seine Armmuskeln spielen lassen, der Vater musste sie abfühlen, und dann hatte er beschlossen: Gut, weil Onkel Udo der Ernte wegen beim Umzug ausfällt, machst du mit. Ein bisschen hilft es doch.

Ein bisschen! Darüber konnte Otto nur lachen. Er hatte sich nicht geschont, war treppauf, treppab gelaufen, hatte keuchend Kisten und Kasten geschleppt, an die zehn Liter Schweiß verloren und zum Ausgleich mindestens zehn Brausen getrunken. Todmüde war Otto abends ins Bett gefallen. Auch am Morgen blieb noch viel zu räumen und einzurichten. Trotzdem hatte die Mutter ihm beim Frühstück zugeredet: „Guck dich draußen um, geh spielen, Junge!“ Zuerst wollte Otto das weit von sich weisen. Wie gesagt, er war ja kein kleines Kind wie Elle, aber nach kurzem Überlegen gelangte er zu der Einsicht, dass man Eltern nicht durch zu große Hilfsbereitschaft verwöhnen dürfte. Also hatte er sich dem Willen der Mutter gefügt und war in seiner Indianeruniform samt Pfeil und Bogen und Kriegsbeil frohgemut abgezogen. Die Sonne schien, wie es sich in den großen Ferien gehört, die Eltern hatten ihre Beschäftigung, und Otto fühlte sich frei, so frei wie ein Adler in den Lüften. Was kann der Mensch mehr verlangen!

Otto hatte seine Indianeruniform bisher nur in Drosseldorf getragen. Dort hatte er eine Menge Freunde, und der Wald begann gleich hinter der Wiese, die an den großen Garten grenzte. Es war nur ein Katzensprung ins freie Indianerleben mit den Drosseldorfer Rothäuten.

Während der Schulzeit war an solch ein Leben nicht zu denken gewesen. Otto hatte vor dem Umzug auch in der Stadt gewohnt. Links lauter hohe Häuser, Typ 1900, rechts dasselbe, unten Geschäft an Geschäft und vor der Nase der Busbahnhof. Dort passten Indianer wie er und seine Stammesbrüder aus Drosseldorf nicht hin. Schade, dass die Freunde so weit weg wohnten, denn hier in Eichberge lag der Wald genau wie bei Onkel Udo und Tante Gitta hinterm Haus, sogar noch dichter. Vom Balkon im fünften Stock hatte Otto direkt in die Baumkronen gucken können. Endlich im Grünen! Die Mutter freute sich, doch der Vater hatte gesagt, dass in den nächsten Jahren abgeholzt und weitergebaut werden sollte. Vorläufig fehlte jedes Anzeichen dafür, weder Planierraupen noch Turmdrehkran und Zementsilo. Jahre — eine Ewigkeit.

Vor der Haustür lag kein Indianerland. Überall machten sich Sandberge breit. Bis zur festen Straße füllte man sich die Schuhe voll. Otto fand, die Gegend vorm Haus sah nach halbhohen Ostseedünen aus, nur das Meer war nicht da. An seiner Stelle reihte sich Neubau an Neubau, und wo ihre Balkons die erste Sommerbleiche hinter sich hatten, durchquerten rechteckig angelegte Plattenwege und abkürzende Trampelpfade die Rasenflächen. Dahinter die große Kaufhalle und der Komplex mit Sparkasse, Friseur und Restaurant. Zivilisation also und uninteressant.

Otto schickte einen Späherblick zu den Dünen hinüber. Dort buddelten Kleinkinder im Sand. Auch uninteressant. Elle würde natürlich sofort hinrennen. Dem Findlingsstein vorm nächsten Block spendeten drei von den Bauleuten verschonte Kiefern spärlichen Schatten. Ein paar Halbgroße hockten auf dem Findling. Die Jungen gaben an, und die Mädchen kicherten. Albern! Otto hielt alle Halbgroßen für albern. Weit und breit kein vernünftiger Mensch, denn die beiden Weiber mit dem Dackel an der Leine, die so alt wie er sein mussten, zählte Otto nicht. Indianerleben ist Männersache. Tokei-ito und Chi’ngachgook hatten keine Squaw, wie man auf der Prärie höflich zu Weibern sagt, und die wussten, warum. Sie mochten sich vor ihrem Tipi nicht dauernd die Schuhe abputzen und immerzu Hände waschen müssen.

„Hallo“, sagte die mit den langen blonden Haaren.

Otto sah sich um. Meinte sie ihn? Ohne es zu wollen, sagte er ebenfalls: „Hallo!“

„Wohnst du im Fünften? Ich wohne im Dritten und heiße Antje, und das ist Manuela aus dem Zweiten.“ Sie zeigte auf die Dunkelhaarige neben sich, die eine Kaugummiblase vor ihrem Mund zerknallen ließ und dann auch „hallo“ sagte.

Aufdringliche Weiber! Otto wandte sich ab, wie es ein Häuptling zu tun pflegt, wenn er seine Verachtung zeigen will, und schritt davon. Was sie hinter ihm her tuschelten, konnte er nicht verstehen, nur dass Antje sagte: „Süß sieht der aus mit seinen Sommersprossen!“ Der Dackel, diese Leberwurst auf vier krummen Beinen, kläffte. Otto interessierte alles so wenig wie Fliegengesumm.

Er umging das Haus und steuerte den Wald an. Kiefern, Blaubeerkraut ohne Beeren, mageres Gras. Er nahm den Bogen von der Schulter und hielt einen Pfeil schussbereit. Man konnte nie wissen, vielleicht lief ihm ein Büffel über den Weg. Da hieß es blitzschnell den Bogen spannen, und zack! Was würde aber die Mutter sagen, wenn er mit einem ganzen Büffel angeschleppt käme? Bestimmt: Junge, der passt doch nie und nimmer in den Kühlschrank! Otto beschloss, lieber einen Hasen zu erlegen und gar nicht erst Kühlschrankprobleme zu verursachen. Schwerer als riesige Büffel sind Hasen jedoch zu treffen. Außerdem rennen sie ungeheuer schnell und schlagen auch noch Haken. Du schießt, zack! schlägt der Hase einen Haken, und du schießt vorbei. Büffel war sicherer.

Otto spannte den Bogen, um sich einzuschießen. Die dicke Kiefer war ein Büffel. Zielen. Der Pfeil schnellte von der Sehne! Er flog an der Kiefer vorbei. „Treffer!“, schrie Otto. Klar, Treffer! Eine Kiefer kann kein Büffel sein, aber hinter der Kiefer hervorschielen, das konnte der Büffel gut und gern, und wäre er dort gewesen, hätte Otto ihn mitten zwischen die Hörner getroffen. Glatter Kopfschuss! Otto war mit sich zufrieden und las den Pfeil vom Boden auf.

Von den Neubauten kaum noch ein heller Schimmer. Laubbäume und Unterholz mischten sich zwischen die Kiefern, der Wald wurde dichter. Um sich eine Rückspur zu markieren, wollte Otto mit seinem Kriegsbeil Zeichen in die Baumstämme schlagen. Doch nicht mal Rinde ließ sich mit dem Plasteding abschaben. Er musste sich auf der nächsten Handelsstation oder zur Not im Küchenschrankkasten etwas Schärferes eintauschen. Nach alter Indianertradition, fiel ihm ein, konnte er auch ab und zu einen Zweig als Wegzeichen knicken. Zweimal überquerte Otto eine Schneise. Wege waren langweilig. Tiefer und tiefer drang Otto in den schweigenden Dschungel ein.

Halt, den gab es nicht im Indianerland, aber Otto fand, dass sich Dschungel so verdammt gut anhörte, und wenn er auf einen Tiger traf, war das nicht weiter schlimm. Bevor solch ein Vieh loslegt, peitscht es eine Weile mit dem Schwanz die Erde, sodass man in aller Ruhe zielen kann, und wenn es abspringt, zischt ihm der Pfeil in den weit aufgerissenen Rachen. Es überschlägt sich, bleibt liegen, zuckt kurz und ist mausetot. Otto brauchte ihm nur noch das Fell abzuziehen, um es als Siegestrophäe über die Schulter zu hängen. Die beiden Weiber, die Blonde und die Dunkle, würden ganz schön gucken, käme er so dahergeschlendert. Und die anderen Indianerstämme erst! Die wollten das Tigerfell bestimmt für sich erbeuten. Sollten sie kommen!“

Erstmals 2003 erschien im Scheffler-Verlag Herdecke „Pechvogel Glückspilz“ von Holda Schiller: Das E-Book präsentiert gleich drei märchenhafte Geschichten, die sowohl für Kinder als auch für erwachsene Märchenliebhaber ein reizvolles Lesevergnügen bieten.

Die Titel-Geschichte „Pechvogel Glückspilz“ ist eine Art osteuropäische Version von „Hans im Glück“, sie könnte unter dem Motto stehen: Wo eine Tür sich schließt, tut sich eine andere auf – sei es von Menschen- oder Engelhand.

Die Däumlingsgeschichte „Tim und Wim und Zauberer Friedolin“ ist neu in dieser Art, wo Tim und Wim zu Däumlingen schrumpfen, dann aber durch Friedolins Zauberkraft und nach Erfüllen bestimmter Aufgaben wieder normale Größe erreichen.

In „Stromerin Leila“ gerät eben diese Leila mit der Pflicht in Konflikt, sie reißt aus, geht in die Welt und kehrt nach allerlei Abenteuern und um eine ganz besondere Erfahrung reicher wieder zurück.

Die märchenhaften Geschichten von Holda Schiller sind spannende, schwungvolle, mit viel Fantasie und feinem Humor erzählte kleine Werke – zum Vergnügen und Nachdenken zugleich. Hier der Anfang der Titelgeschichte. In der – aber erst viel später – auch etwas Rumänisch vorkommt:

Pechvogel Glückspilz

Die Geschichte vom Pechvogel Glückspilz hat sich vor fünfzig oder sechzig Jahren in einem Dorf nahe am Schwarzen Meer und sehr weit von Deutschland entfernt zugetragen.

In ihr wird von Ismael berichtet, einem jungen und schönen Mann mit braunem Haar, brauner Haut und braunen Augen, der mit seinem Vater, dem alten Morun, in einem kleinen Dorf lebte, das, wie zum Schutz gegen die harten östlichen Winterwinde, in einer Senke lag und nur aus Lehmhäusern bestand. Die Bewohner dieses Ortes konnten von sich nicht sagen, sie seien mit Gütern gesegnet, und am wenigsten waren es Ismael und sein Vater. Ihr wertvollster Besitz war ein Mutterschaf, das im Jahr ein bis zwei Lämmer zur Welt gebracht und bald wie eine Kuh Milch gegeben hatte, doch inzwischen alt geworden war und nicht mehr lammte.

Im Frühjahr, Sommer und Herbst verbrachte Morun den Tag im Freien, oft vor seinem Haus unter der Akazie sitzend, die ihren Schatten, je nach Sonnenstand, mal aufs Dach der niedrigen Hütte, mal auf den Hof warf. Er saß in einem lustigen Vehikel von Lehnstuhl, den Ismael aus einem Hocker, Weidenruten und mit Stricken aus Hanf zusammengebaut hatte, das Ergebnis einer der vielen Ideen, die ihm täglich kamen, und die der Vater durchweg als „dummes Zeug" abtat. Den Lehnstuhl hatte er aber gnädig angenommen und gemeint, er säße darin besser als der König in Bukarest auf seinem Thron.

Die Leute im Dorf meinten, wenn Ismael immer noch allein und einsam lebe wie ein Kuckuck, dann seien seine wunderlichen Einfälle daran schuld, die ihm keine Zeit ließen, sich nach einer Braut umzusehen. Das war übrigens auch die Ansicht des Vaters, der Ismael manchmal drängte, sich zu verheiraten. So ein sanftes Täubchen im Haus würde ihn, den Sohn, von seinen skurrilen Ideen kurieren, meinte er. Doch Ismael liebte seine skurrilen Ideen viel zu sehr, als dass er davon hätte kuriert werden wollen, und so ließ er sich Zeit. Auch die Dorfbewohner hatten sich auf die manchmal grotesken Einfälle Ismaels ihren Vers geschmiedet, sie nannten sie Windeier, Luftblasen oder Schnapsgeburten. Und wie der Vater hatten auch sie irgendwo recht. So wollte er einen artesischen Brunnen bauen, wo das Wasser aus der Erde in einem dichten Strahl hoch in die Luft schießt. Das würde nicht nur den Leuten das Schöpfen ersparen, sondern auch noch eine Attraktion darstellen, die Neugierige aus allen näheren und weiteren Orten anlockt und das kleine Dorf berühmt macht. So etwas hatte er in der Stadt gesehen. Darum gab er vor, einen Apparat konstruieren zu können, der laut aufheult, wenn der Steuereintreiber auf seinem Zweispännerwagen auf das Dorf zugefahren kommt. Dann hätten die Leute Zeit, schnell die Türen zu verriegeln, auf die Felder zu flüchten, und der Steuereintreiber müsste unverrichteter Dinge wieder abziehen. Stets war der Zweck vernünftig, doch das erdachte Mittel ein Hirngespinst.

Eines Tages sagte Morun zu seinem Sohn: „Das Mutterschaf lammt nun nicht mehr, wir könnten es verkaufen, etwas Geld drauflegen und dafür ein junges anschaffen. Dann hätten wir wieder Milch zum Maisbrei, könnten Schafkäse bereiten und brauchten weniger oft nur trockenes Brot zu essen.

Ismael war einverstanden. Schon am nächsten Morgen stand er auf, als am Himmel noch die Sterne glitzerten und sich die Milchstraße wie ein Weg aus flimmerndem Licht über das noch nächtliche dunkle Firmament hinzog und machte sich mit einer Kalebasse voll Wasser, mit Maisfladen und dem Mutterschaf, das er am Strick führte, auf den Weg zum Basar.

Kurz bevor er dort ankam, ging die Sonne gerade auf. Es begeisterte ihn, sie wie einen gewaltigen Feuerball aus dem Morgenrot heraufsteigen zu sehen, das für kurze Zeit Felder und Wege und ihn selbst samt seinem Mutterschaf in goldenen Schein hüllte. Er zog den Strohhut, verneigte sich tief und sagte zu seinem Schaf: „Sie ist unsere Königin, die Königin aller Kreaturen, das musst du wissen, die du auch eine Kreatur bist." Da er bei der Bewunderung des Morgenrots und Sonnenaufganges ein wenig zu lange stehen geblieben war, hatten die Händler und Marktweiber das Streiten und Rangeln um gute Plätze bereits beendet, und er musste eine Lücke suchen, wo er sich aufstellen konnte. Eine Bäuerin, die Hühner und Eier zum Verkauf anbot, rückte ein bisschen zur Seite und bot ihm einen Platz für sein Schaf an.

Ein schwerer Geruch von Früchten, Gemüse und Pferdemist, durchschallt von den wie zum Gebet rufenden Händlern, die ihre Waren anpriesen, lag betäubend über dem Areal. Wie jedesmal, wenn Ismael den Markt besuchte, bekam er auch jetzt Kopfschmerzen und wünschte sich, so bald wie möglich seine Geschäfte erledigen zu können. Er hatte Glück. Bald war das alte Mutterschaf verkauft und ein junges dafür erstanden, und er war froh, den Heimweg antreten zu können. Rechtzeitig fiel ihm noch ein, eine Flasche Pflaumenschnaps für den Vater zu kaufen, wofür das Geld gerade noch reichte.“

Erstmals 1999 erschien im Verlag Janos Stekowics Halle (Saale) „Die Liebe und der Tod. Gedichte“ von Erik Neutsch. Wie immer bei Erik Neutsch wurde auch bei diesem seiner Bücher auf Wunsch des Autors nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt. In diesem Band sind die ersten Gedichte des Autors aus den 1940er bis 1950er Jahren enthalten, vor allem jugendlich schwärmerische Liebesgedichte, die aber schon die Zukunft eines großen Literaten erahnen lassen. Der zweite Teil aus den 1990er Jahren präsentiert reife Gedichte, die vor allem seiner Frau, ihrer tapfer ertragenen Krankheit, dem Tod und dem Abschied gewidmet sind. Sie sind sehr persönlich und lassen die tiefen Gefühle des Autors erahnen. Hier einige Beispiele für die frühen lyrischen Texte:

ICH SEHE DICH KOMMEN, SEHE DICH GEHEN,

und so warte ich täglich auf dein Gesicht.

Du bist auf dem Schulhof für mich wie ein Licht,

der Sonne gleich, die Wolken durchbricht,

mir erhellt den finstersten Unterricht.

Ach, könnte ich dir meine Liebe gestehen

und deiner Lippen Berührung erflehen …

Ich schenkte dir mehr als nur dieses Gedicht.

(1. 4. 48)

DU LIESSEST MICH WARTEN

In den Büschen hör ich’s flüstern,

schwanke Schatten seh ich spielen

dort im Dunkel. Alte Rüstern

wiegen linde

     sich im kühlen

Abendwinde.

Deine Augen, deine Wangen

seh ich jetzt im Busch versinken.

Sehnsucht packt mich, ein Verlangen,

deinen warmen

     Leib zu trinken,

zu umarmen.

Doch mein Schrei verfällt den Winden,

Echo kommt von keinem Munde.

Sag, wo bist du? Will dich finden,

glücklich wissen

     diese Stunde

und dich küssen.

(17. 8. 48)

NÄCHTLICHE GEDANKEN

Ich habe an dich gedacht,

als der Mond in die Wolken stieg.

Ich sah in der Sterne Pracht

dein Bild vor mir und schwieg.

Es krallte sich um mein Herz

eines Riesen gewaltge Hand.

Sie preßte gehemmten Schmerz

in die Augen mir und entschwand.

In Tränen vernahm ich bald

einen Schrei aus geliebtem Mund.

Du riefest mich. Schaurig verhallt

noch der Schrei mir im Herzens Grund.

Ich wollte mit dir dann fliehn,

dich zu retten, doch höhnend hielt

die Faust mich, ich sank dahin,

hab dem Himmel mein Los gebrüllt.

Ich habe an dich gedacht,

als der Mond in die Wolken stieg.

Ich habe gebangt die Nacht

und gebetet um unser Glück.

(17. 8. 48)

ERWACHEN

Und manchmal wähne ich, es sei nicht wahr,

ein Sehnen höchstens, das ein Traum gebar,

dem Meere gleich, das wild im Sturme schäumt.

Mein Gott, dann hätt ich lieber nie geträumt.

Es können keine Träume, Lügen sein.

Ich fühlte doch die heißen Tränen. Nein.

So träumte nie ein Mensch, so lügt kein Gott,

so treibt der Himmel nicht mit Menschen Spott.

Durchbohre mir die Brust. Mit aller Kraft

würg mir den Dolch ins Herz, bis an den Schaft,

wenn ich die Schlünde rings um mich vergaß,

mich schamlos glücklich fühlte am Parnass.

Doch manchmal wähne ich, es sei nicht wahr,

ein Sehnen höchstens, das ein Traum gebar,

dem Meere gleich, das wild im Sturme schäumt…

Mein Gott, dann hätt ich lieber nie geträumt.

(24. 9. 48)

VIELLEICHT EIN ABSCHIED

Ich schaue dir tief in die Augen,

ich küsse dir Wangen und Mund.

Ich fühle die bitteren Tränen,

ein Herz voller Liebe, doch wund.

Ich nenne ganz leis deinen Namen,

ich presse dich fest an die Brust.

Ich will dich nicht fortgehen lassen

und weiß, daß du fortgehen mußt.

Doch wer zwingt dich, Abschied zu nehmen?

Verflucht sei, was gestern noch Dank!

Bleib… Oder geh… Aber wisse:

Ich bin auf den Tod schon krank.

(27. 9. 48)

Erstmals 1991 veröffentlichte Dorothea Iser im Verlag Neues Leben Berlin „Besuchszeit“: Bettina wollte ihre Schwester Jule nie wiedersehen. Sie kann nicht vergessen, dass Jule sie belogen und betrogen und ihr den Freund weggenommen hat. Auch vor der Begegnung mit Albert, der ihrer Schwester nicht hat widerstehen können, fürchtet sie sich. Und trotzdem fährt sie zu Jule, die mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus liegt. Zuerst einmal aber kommt Bettina wieder zu Hause an, wo sie schon lange nicht mehr gewesen ist:

1. Kapitel

Bettina stand im Treppenhaus. Niemand hörte ihr Klingeln. Sie suchte in der Tasche nach dem Schlüssel, den sie als Kind auf der Brust getragen hatte, die andere Hand streckte sie noch einmal nach dem Klingelknopf aus, sie hätte ihn streicheln mögen. Die winzige Schramme erkannte sie sofort. Sie stammte von ihrer Zirkelspitze, mit der sie versucht hatte, Papier in den Spalt zu drücken. Sie hatte Jule mit dem Dauerklingeln ärgern wollen, warum, das wusste sie nicht mehr. Sie war abgerutscht und hatte diese Schramme gezogen, die ihr so vertraut war wie der Geruch nach frischen Äpfeln, der sich im Hause gehalten hatte. Die Nachbarin öffnete ihre Tür spaltbreit und sagte, die Eltern seien im Krankenhaus. Heute sei Besuchszeit. Dann drückte Frau Lutter ihr stumm und mitfühlend die Hand. Bettina schloss ihre Tür auf und zog sie hastig hinter sich ins Schloss. Frau Lutter redete in die Stille hinein. Auch das war Bettina vertraut. Sie stand mit dem Rücken gegen die Wand gepresst und wehrte sich gegen all ihre Sinne, die signalisierten: Ich bin zu Hause! Aber ich will hier nicht zu Hause sein. Sie löste sich von der Tür und lief mit schnellen Schritten durch die Zimmer. Sie legte die Hände auf den Küchentisch, tastete über die Schranktüren, öffnete sie. Gläser, Tassen, Teller, es waren immer noch dieselben, und sie standen immer noch auf ihrem Platz. Alles auf der Welt muss seinen Platz haben.

„Du gehörst zu uns“, hatte die Mutter weinend gesagt, als Bettina damals fortging.

„Das wird sie noch begreifen“, fügte der Vater hinzu.

Auf Strümpfen lief Bettina durch das Wohnzimmer, strich mit den Fingerspitzen über Sessellehne, über Buchrücken und Kerzenständer. Sie könnte die Augen schließen und würde sich doch sicher bewegen. Es waren ihr hundert Jahre vergangen, seit sie die Eltern verlassen hatte. Alle Zeit schmolz ihr nun zusammen. Nur einen Augenblick lang war sie fortgewesen. Was ist schon ein Jahr.

Bettina stand am Fenster und sah auf die Autos, die in langer Schlange im Neubauviertel parkten. Der blaue Skoda, der sich einordnete, gehörte den Eltern. Bettina beobachtete, wie sie ausstiegen. Dabei hielt sie sich am Bücherregal fest. Die Frau dort unten war ihre Mutter. Sie trippelte mit kleinen Schritten über die Straße. Der Mann schlug die Autotür zu. Er holte die Frau ein, ging an ihr vorüber wie ein Fremder an einer Fremden. Sie verschwanden im Hauseingang. Bettina blieb, wo sie war, auch als die Eltern die Korridortür aufklinkten. Nun wussten sie, dass ihre Tochter da war. Sie mussten Mantel und Tasche bemerken. Sie zögerten die Begegnung hinaus. Schließlich standen sie sich unbeholfen gegenüber. „Gut, dass du gekommen bist“, sagte die Mutter und wagte nicht, die Tochter in die Arme zu nehmen.

„Was ist mit Jule?“

„Willst du dich nicht setzen?“, fragte der Vater.

Sie schwiegen, als fürchteten sie sich voreinander. Der Regulator schlug viermal. Die Mutter flüchtete in die Küche und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Der Vater holte Kognakschwenker aus dem Schrank, nur Bettina blieb unbeweglich am Fenster stehen. „Was wollt ihr von mir?“, fragte sie schroff. Hier sollte gekittet werden. Es beginnt immer mit Kaffee und Kognak, dachte sie. Sie lehnte beides ab, aber sie setzte sich in den Sessel, in dem sie früher so gern eingeschlafen war. Mutter hatte sie dann ins Bett getragen und ihr Gesicht gestreichelt, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.

„Der Arzt …“, begann die Mutter.

„Sie wissen gar nichts“, unterbrach sie der Vater. Seine schmalen Lippen schimmerten weiß. Er griff zur Tasse, führte sie an die Lippen. Jede seiner Bewegungen wirkte kantig.

„Sie will dich sehen“, sagte die Mutter.

Unsinn, dachte Bettina. Jule hasst mich. Bis in den Tod. Tod?

„Wenn sie nicht durchkommt …“, sagte die Mutter.

„Wir hätten nicht dulden dürfen, dass Jule zu Albert zieht. Einer, der seine Freundinnen so schnell wechselt …“, sagte der Vater.

„Einer, der mit sich selbst nicht zurechtkommt“, fügte die Mutter hinzu.

Sie könnten einen Sprechchor aufmachen. Einer spricht vor, der andere setzt noch eins drauf, bis sie gemeinsam wiederholen, dachte Bettina. „Jule war neunzehn, als sie auszog“, sagte sie schnell. Die Mutter hatte schon zu einer langen Erklärung angesetzt. Sie machen es sich leicht. Schuld ist Albert und fertig. Denn erstens hat er keine ordentliche Arbeit. Die paar Stunden, die er bei der Post arbeitet, zählen nicht. Ein junger und kräftiger Bursche, was könnte der leisten. Zweitens will er studieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber Malerei und Grafik! Bei allem Verständnis! Drittens macht er die Töchter verrückt mit seinen Hirngespinsten. Liebenswürdig kann er sein, das ja, wir haben uns alle einfangen lassen.

Feindlich saß Bettina den Eltern gegenüber.

„Albert hat uns nur benutzt, wie er jeden Menschen benutzt. Die Wohnung hätte er ohne unsere Hilfe nicht bekommen“, sagte die Mutter. Gleich würde der Vater zustimmen.

„Ach ihr“, sagte Bettina. „Als ob ohne euch nichts ginge.“

„Wir haben gern geholfen.“ Die Mutter beschränkte sich auf diesen kurzen Satz. Bettina spürte, dass die lange Aufzählung von guten Taten und von Entsagungen unterdrückt wurde, mit schmerzlichem Lächeln zwar, aber immerhin.

Unerträglich, dachte Bettina. Sie sind so unerträglich perfekt, so selbstlos, sie wissen immer, was richtig ist, das ist nicht zum Aushalten. Albert, warum bist du nicht hier? Ich sehne mich nach einem Albert, den es nicht mehr gibt und nie mehr geben wird, dachte Bettina. Der Albert, den sie in Erinnerung hatte, würde sagen, sei froh, dass du solche Eltern hast. Er hätte das Glas Kognak erhoben und den Vater mit einer Frage abgelenkt. Vielleicht hätte er nach den Roten-Khmer-Truppen gefragt, die ganze Schichten der Bevölkerung vernichtet hatten und nun an Verhandlungen teilhaben wollten, oder er hätte gefragt, warum es in Dublin keinen Frieden geben wird. Und ob es überhaupt ohne Kriege gehen kann. Die Ursachen sind Besitz und Macht. Oder sind das nur Symptome? Wo immer Menschen zusammen leben, gibt es Gerangel um die Macht. Vielleicht würden sie auch über die Affen sprechen, die im Menschen stecken. Der Vater hätte sich gegen Albert durchgesetzt. Albert hätte hinterher gesagt, das muss man den Vätern lassen, besonders deinem, er findet schlüssige Argumente. Mein Vater setzt sich nur durch, weil er Vater ist. Einen Augenblick lang wünschte Bettina, es hätte nicht den Morgen gegeben, an dem Albert vor ihr gestanden und gesagt hatte: „Ich bleibe bei Jule, ich will mit ihr leben. Bettina, versteh mich doch.“

Wie gern würde sie dem friedlichen Streit zuhören und staunen, worüber Albert nachdenkt. Jule könnte sie wieder auslachen. Das hatte sie oft getan. „Ergreift’s dich wieder, Schwesterchen? Gib zu, dass deine Seele schmülzt.“

„Schmülzt.“ Alles zog Jule ins Lächerliche. Lächerlich! Wie das Wort in diese Situation passte. Mutter mit ihren Vorwürfen, ihrem Gerede, ihrem Selbstmitleid. Man schmülzt dahin.

„Jule war neunzehn“, wiederholte Bettina langsam. Was kann ein Mensch einem anderen verbieten? dachte sie. Gefühle wohl zu allerletzt.

„Wir hätten wissen müssen, dass es mit den beiden nicht gut gehen wird“, sagte die Mutter.

Bevor Bettina sagen konnte, Jule hätte es selber wissen müssen, durchfuhr sie ein Verdacht. War es kein Unfall gewesen, wie es im Telegramm hieß? Bettinas Frage schreckte die Eltern auf. So hatten sie das nicht gemeint. Die Mutter erklärte, der Vater schenkte Kognak ein. Bettina hatte Mühe, sich vorzustellen, was die Mutter beschrieb: Jule sollte auf einer Leiter stehend gegen das Fenster gekippt und keinen Halt gefunden haben. Was hatte sie auf der Leiter gewollt? Warum war sie weggerutscht? Und wo war Albert, als das passierte?

„Jule war betrunken“, sagte der Vater mit gequältem Gesicht, und er setzte schnell hinzu, „das war sie in letzter Zeit oft.“

„Sagen die Leute.“ Die Mutter milderte den harten Vorwurf.

„Was haben wir nur falsch gemacht?“ Während die Mutter diese Frage mehrmals wiederholte, beobachtete sie, wie sich in ihrer Tasse Milch und Kaffee vermischten.

Bettina war es, als wäre sie in einen von Jules Superträumen gerutscht, in denen die Schwester beschließt, ein klein bisschen zu sterben, weil sie sich unverstanden fühlt. Adios Mutter und Vater und Bettina, ja auch du hast mir wehgetan. Bettina drückte die Handflächen gegen die Stirn.

„Wirst du zu ihr gehen?“

Bettina hob unschlüssig die Schultern.

„Vater fährt dich hin.“

„Er hat getrunken.“

Da zuckte die Mutter zusammen. „Warum bist du so …?“ Sie suchte nach einem treffenden Wort. Bettina hätte es ihr zurufen können: Kalt. Oder hart. Oder so verdammt selbstzufrieden. Das meinte Mutter doch. Bettina wünschte, sie könnte weinen.

„… so unbarmherzig“, beendete die Mutter schließlich ihren Satz. Bettinas Augen blieben heiß und trocken, während ihr Herz schmerzhaft zuckte. Sie musste fort hier, raus, allein sein.“

Schon an diesem Textausschnitt von „Besuchszeit“ erfährt man, dass da einiges passiert sein muss, zwischen den beiden Schwestern, in der Familie und auch in der Gesellschaft jener Zeit, in der dieser Roman spielt. Und es ist anstrengend und sehr aufschlussreich zugleich, die Vorgeschichte(n) des verhängnisvollen Leitersturzes und der ihm folgenden lebensgefährlichen Verletzungen nachzuvollziehen. Nach und nach erst ergibt sich ein deutlicheres Bild. Und Leserinnen und Leser dürfen sich fragen, ob sie die familiären und gesellschaftlichen Probleme erkannt und wie sie selbst darauf reagiert hätten. Ein spannendes Buch.

Viel Vergnügen beim Lesen und Nachdenken, weiter einen schönen August, lassen Sie es nicht zu heiß werden und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Ach, und was halten Sie eigentlich von Märchen? Haben Sie noch welche im Gedächtnis?

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