- Solides Ergebnis in Mittelosteuropa kompensiert Verluste im Russland-Geschäft
- Belebung im Zentralasien-Handel
- Ukraine-Geschäft besser als erwartet
- Harms: Trotz zahlreicher Krisenfaktoren kein Grund für puren Pessimismus
Trotz des schwierigen politischen Umfelds hat der deutsche Osthandel im ersten Halbjahr 2022 sowohl bei den Importen als auch bei den Exporten einen neuen Höchstwert erreicht. Dabei standen den erwarteten Exporteinbrüchen im Geschäft mit Russland (-4,4 Milliarden Euro) und Belarus (-250 Millionen Euro) insbesondere Zuwächse im Export nach Polen (+6 Milliarden Euro) und Tschechien (+3,9 Milliarden Euro) gegenüber. Der deutsche Handel mit der Ukraine sank im ersten Halbjahr um elf Prozent, wobei die Rückgänge zuletzt im Monat Juni nur noch bei fünf Prozent lagen, was auf eine weitere Stabilisierung der Lage hoffen lässt. Mit der Region Südosteuropa wurde ein solides Handelsergebnis erreicht, dynamisch entwickelte sich der deutsche Handel mit Zentralasien und dem Südkaukasus. Deutsche Unternehmen, die ihr Russland-Geschäft zurückfahren, schauen sich verstärkt in diesen Regionen um, wie jüngst auch große Delegationsreisen des Ost-Ausschusses nach Usbekistan, Kasachstan und Kirgisistan zeigten.
Handelsvolumen legt um 14 Prozent zu
„Der Krieg Russlands, die Sanktionen, gerissene Lieferketten, explodierende Rohstoffpreise, Fachkräftemangel – es gibt zahlreiche Risikofaktoren für die Konjunktur, aber dennoch keinen Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Dass purer Pessimismus fehl am Platz ist, zeigt die positive Handelsentwicklung“, kommentierte der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses Michael Harms die aktuellen Zahlen.
Nach den durch den Ost-Ausschuss ausgewerteten Zahlen des Statistischen Bundesamts lag das Handelsvolumen mit den 29 Ländern der Region im ersten Halbjahr 2022 wertmäßig bei fast 280 Milliarden Euro und damit um 14 Prozent über dem Ergebnis des Vorjahres (246 Milliarden Euro). Die deutschen Exporte in die Ost-Ausschuss-Länder stiegen im Vergleich zum ersten Halbjahr 2021 um über zehn Milliarden auf nun 134,8 Milliarden Euro (+8,4 Prozent), die deutschen Importe nahmen um gut 23 Milliarden Euro auf 144,5 Milliarden Euro (+19 Prozent) zu. Das für die Region ungewöhnlich große deutsche Handelsbilanzdefizit lässt sich mit den gravierend gestiegenen Beschaffungskosten für Öl- und Gasimporte aus Russland erklären.
Solide Entwicklung in Mittelosteuropa
Polen unterstrich im ersten Halbjahr 2022 mit einem Plus von 13 Prozent auf nun 81 Milliarden Euro erneut seine Ausnahmestellung für den deutschen Osthandel. Die deutschen Ausfuhren in das Nachbarland kletterten dabei um 16 Prozent auf rund 44 Milliarden Euro, die Importe stiegen um zehn Prozent auf 37 Milliarden Euro. Ähnlich gut entwickelte sich der Handel mit Tschechien, dem zweitwichtigsten Handelspartner der Region. Der deutsch-tschechische Handel wuchs um 17 Prozent auf nun 56 Milliarden Euro. Dabei nahmen die deutschen Exporte um 17 Prozent auf 27 Milliarden Euro zu, die Importe aus Tschechien stiegen um 16 Prozent auf 29 Milliarden Euro. Nimmt man die weiteren Visegrád-Staaten Ungarn und die Slowakei noch hinzu, so handelte Deutschland allein mit dieser mittelosteuropäischen Ländergruppe im ersten Halbjahr 2022 Waren im Wert von 186,8 Milliarden Euro (Vorjahreszeitraum: 167 Milliarden Euro). Im Vergleich dazu erreichte der deutsch-chinesische Handel im ersten Halbjahr ein Volumen von 149 Milliarden Euro.
Polen konnte sich im ersten Halbjahr als fünftwichtigster Handelspartner Deutschlands vor Italien behaupten. Tschechien rückte vor Großbritannien auf Rang zehn vor, Ungarn liegt nun direkt vor Russland auf Platz 13. Rumänien als wirtschaftlich stärkstes Land Südosteuropas rangiert nach einem soliden Handelsergebnis im ersten Halbjahr 2022 (+12 Prozent) auf Platz 21, vor der Slowakei (+8 Prozent) auf Rang 22.
Zentralasien gewinnt an Bedeutung
Die bevölkerungs- und rohstoffreichen zentralasiatischen Länder Usbekistan und Kasachstan belegen im Handelsranking zwar noch hintere Plätze, versprechen aber ein enormes Potenzial: So wuchs der deutsche Handel mit Kasachstan im ersten Halbjahr um rund 80 Prozent auf über vier Milliarden Euro, der Handel mit Usbekistan legte um über 100 Prozent auf nun 600 Millionen Euro zu. Auch für die drei südkaukasischen Länder Georgien, Aserbaidschan und Armenien sind starke Steigerungsraten zu vermelden. Diese Region dürfte derzeit ebenfalls davon profitieren, dass sich Unternehmen nach Alternativen zu Russland umsehen. Insbesondere das öl- und gasreiche Aserbaidschan konnte bereits von gestiegenen Rohstoffexporten nach Deutschland profitieren. Der deutsch-aserbaidschanische Handel wuchs um über 200 Prozent.
Gravierende Verschiebungen im Russland-Handel
Im Handel mit Russland gab es im ersten Halbjahr 2022 die erwartet gravierenden Veränderungen: Durch die Einführung weitreichender Sanktionen brachen die deutschen Exporte in das Land ab März massiv ein. Im Vergleich zum ersten Halbjahr 2021 sanken die deutschen Exporte um 34,5 Prozent auf nur noch 8,3 Milliarden Euro. Ein ähnlich niedriges Niveau war zuletzt 2004 registriert worden. Gleichzeitig schnellten durch die weltweite Rohstoffpreishausse die Beschaffungskosten für Rohstoffe und Energie aus Russland in die Höhe. Im ersten Halbjahr mussten dadurch für Importe aus Russland insgesamt 22,6 Milliarden Euro aufgewendet werden, ein Plus von 51 Prozent, obwohl die Einfuhren aus Russland im selben Zeitraum mengenmäßig um fast ein Viertel zurückgingen. Durch diese gegenläufigen Entwicklungen ergibt sich im Handel mit Russland ein historisch hohes Bilanzdefizit von 14 Milliarden Euro für das erste Halbjahr 2022. Zum gleichen Zeitpunkt 2021 hatte das Defizit nur bei zwei Milliarden Euro gelegen.
Im zweiten Halbjahr 2022 dürften die deutschen Exporte nach Russland weiter sinken, da Verpflichtungen aus Altverträgen inzwischen abgearbeitet sind, die Sanktionen immer weitere Handelsbereiche betreffen und viele Unternehmen ihr Russland-Geschäft heruntergefahren haben. Allerdings ist in den kommenden Monaten auch mit signifikant sinkenden Rohstoffimporten aus Russland zu rechnen: Seit dem 10. August gilt ein Einfuhrverbot für russische Kohle, bis zum Jahresende soll auch der Import von russischem Erdöl auslaufen. Zudem hat Russland seit Juni trotz langfristig bestehender Lieferverpflichtungen den Gastransit über die Pipeline Nord Stream 1 stark reduziert.
Gegen Visa-Beschränkungen
Mit Sorge betrachtet der Ost-Ausschuss jüngste Überlegungen in der EU, die Vergabe von Schengen-Visa für russische Staatsbürger zu erschweren oder gar ganz zu stoppen. „Der Reiseverkehr zwischen der EU und Russland ist bereits auf einem Tiefpunkt. Russische Staatsbürger, die noch in die EU reisen wollen, sollten dazu ermutigt und nicht abgeschreckt werden“, äußert sich Ost-Ausschuss-Geschäftsführer Michael Harms. „Mit pauschalen Maßnahmen zur Ausgrenzung der russischen Bevölkerung und weiter eingeschränkten Gesprächsmöglichkeiten lässt sich nicht überzeugend für freie Gesellschaften werben. Wir sprechen uns dagegen für Visa-Erleichterungen aus, insbesondere um russischen Fachkräften den Weg in die EU zu ebnen.“
Positiv sei, dass die EU weiterhin Sektoren wie das Gesundheitswesen und die Landwirtschaft von Sanktionen ausgenommen habe. Auch Klimaschutzmaßnahmen in Russland wolle die EU erklärtermaßen eher fördern als behindern. „Diese Kontakte auf Feldern mit gemeinsamen Interessen sind wichtig, um weiter im Austausch zu bleiben“, so Harms. „Die zuletzt erzielte Einigung zum Schiffstransit ukrainischer Getreidelieferungen ist hier zumindest ein kleiner Hoffnungsschimmer, dass Lösungen noch möglich sind.“
Unterstützung für die Ukraine
Positiv kommentiert Michael Harms die relativ stabile Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen mit der Ukraine: Während etwa der Handel mit dem sanktionierten Belarus im ersten Halbjahr 2022 um 31,5 Prozent einbrach, gab der deutsch-ukrainische Handel trotz des Krieges nur um elf Prozent nach, wobei die deutschen Importe aus der Ukraine sogar nur um fünf Prozent sanken. „Deutsche Unternehmen in den weniger vom Krieg betroffenen Gebieten tun alles, um Produktion und Geschäft am Laufen zu halten. Der Nachschub etwa bei Zulieferteilen für die deutsche Automobilindustrie funktioniert wieder, auch die ukrainische Landwirtschaft arbeitet hart daran, die Ernteausfälle möglichst gering und die Transportwege offen zu halten“, so Harms. „Es wäre völlig falsch, die Ukraine als Investitionsstandort abzuschreiben. Es gibt international eine hohe Bereitschaft, jetzt die ukrainische Wirtschaft zu unterstützen. Entscheidend ist ein klugstrukturierter, transparenter Wiederaufbauplan mit klaren Zielvereinbarungen“.
In diese Arbeit, die bereits mit der Wiederaufbaukonferenz im Juli in Lugano begonnen wurde, wird sich der Ost-Ausschuss mit seinem Arbeitskreis Ukraine weiter aktiv einbringen: Derzeit laufen die Vorbereitungen für die 6. Deutsch-Ukrainische Wirtschaftskonferenz, die der Ost-Ausschuss gemeinsam mit dem DIHK und der AHK Ukraine sowie in enger Abstimmung mit der Bundesregierung noch im Oktober in Berlin durchführen möchte. Sowohl aus der deutschen als auch der ukrainischen Politik und Wirtschaft wird dazu mit hochrangiger Beteiligung gerechnet. Bereits am 14. Oktober wird der Ost-Ausschuss zudem zusammen mit der GHA – German Health Alliance die Unterstützung des ukrainischen Gesundheitssystems zum Thema machen. Das German – East European & CIS Health Forum, das zum fünften Mal abgehalten wird, ist das Official Side Event für die Region Osteuropa im Rahmen des World Health Summit in Berlin.
Hinweis zum aufbereiteten Datenmaterial:
Auf unserer Internetseite www.ost-ausschuss.de finden Sie:
- Tabelle der Handelsergebnisse mit den 29 Ost-Ausschuss-Ländern im ersten Halbjahr 2022
- Einzelauswertung für den Monat Juni
- Übersicht über die wichtigsten 25 deutschen Handelspartner
Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V. (gegründet 1952) fördert die deutsche Wirtschaft in den 29 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens. Der deutsche Osthandel steht insgesamt für rund ein Fünftel des gesamten deutschen Außenhandels und ist damit bedeutender als der Handel mit den USA und China zusammen. Der Ost-Ausschuss hat rund 350 Mitgliedsunternehmen und -verbände und wird von sechs Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft – BDI, BGA, Bankenverband, DIHK, GDV und ZDH – getragen.
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