Beschimpfungen, Beleidigungen und Aggression gehören für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zum Berufsalltag – Tendenz steigend. Jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst erlebt Gewalt im Job. Dass sich daraus eine langfristige Berufskrankheit entwickeln kann, wird oft nicht gesehen, „Erste Hilfe“ für die Psyche nicht angeboten. Dabei kann verbale Gewalt schwere und langwierige Folgen haben: Eine psychisch erkrankte Person fällt laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde durchschnittlich 43 Arbeitstage aus.

Ereignisse, die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit haben können, sollten genauso in das Verbandbuch des Unternehmens eingetragen werden, wie physische Verletzungen. Genauso, wie aus einer kleinen Schnittverletzung am Finger eine Blutvergiftung entstehen kann, kann aus der rüden Beschimpfung eine Angsterkrankung entstehen. Deshalb sollte jedes Ereignis dokumentiert werden – im Zweifel auch in Form einer Unfallanzeige. „Der Vorteil ist, dass durch eine Unfallanzeige etablierte Strukturen greifen und die gesetzliche Unfallversicherung in der Pflicht ist. Sie sorgt dafür, dass die betroffene Person bei Bedarf innerhalb sehr kurzer Zeit, meist einer Woche, psychotherapeutische Unterstützung erhält. Auf private Initiative einen Therapieplatz zu bekommen, dauert oft Monate“, so Tiana-Christin Schuck, Psychologin bei TÜV NORD. Gerade bei psychischen Traumen ist eine möglichst schnelle Hilfe entscheidend, um dem Betroffenen den Leidensdruck zu nehmen und die Fehlzeiten gering zu halten.

Unternehmerische Verantwortung beachten

Die Prävention von traumatischen Ereignissen am Arbeitsplatz und die Rehabilitation bei entsprechenden Berufskrankheiten ist ein DGUV-Grundsatz und hat damit Richtliniencharakter. Aus diesem Grund sollte sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber folgende Fragen gestellt haben: Welche traumatischen Ereignisse könnten sich aus der Tätigkeit meiner Mitarbeitenden ergeben, wie schwerwiegend sind diese und wie wahrscheinlich ist die potenzielle Gefährdung am Arbeitsplatz? Polizist:innen oder Feuerwehrpersonal stehen vermutlich öfter vor belastenden Ereignissen, als Sachbearbeiter mit eingeschränktem Kundenkontakt. Aber auch, wer im Jobcenter oder beim Bürgeramt arbeitet, wird ein potenzielles Risiko haben, den geballten Frust eines Kunden oder einer Kundin abzubekommen. Neben den Folgen für Betroffene sollten auch finanzielle Schäden, etwa falls etwas zu Bruch geht oder entwendet wird, und etwaige Ausfallzeiten berücksichtigt werden.

In einem Präventionsplan sollten alle Eventualitäten enthalten sein, sodass Handlungssicherheit besteht und im Fall der Fälle alle Beteiligten wissen, was wann von wem wie zu tun ist. Das umfasst die Zeitspanne von der Gefährdungsbeurteilung bis hin zur Wiedereingliederung, falls die betroffene Person ausfällt. Davon profitieren nicht nur die Beschäftigten, sondern auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, betont Tiana-Christin Schuck: „Wer rechtzeitig vorsorgt, kann einem späteren Ausfall seiner Mitarbeitenden vorbeugen oder die Wiedereingliederung erleichtern.“

Zentral dabei ist die Gefährdungsbeurteilung: Können traumatische Ereignisse am Arbeitsplatz nicht ausgeschlossen werden, müssen diese Eingang finden in die durch das Arbeitsschutzgesetz vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung. Passiert tatsächlich etwas, kann und sollte dann schnell gehandelt werden. „Gehen Sie intern in den Austausch. Klären Sie für alle Beschäftigten, was traumatische Ereignisse sind, möglichst mit konkreten Beispielen – und sorgen Sie dafür, dass jeder Fall dokumentiert wird“, rät Psychologin Schuck. Die Dokumentation kann durch die betroffene Person selbst, etwaige Zeug:innen, oder die Führungskraft vorgenommen werden. Aber auch Ersthelferinnen und Ersthelfer, die in der Regel ohnehin fünf bis zehn Prozent der Belegschaft ausmachen, können unterstützen: „Ratsam ist es, in der Ersthelferausbildung auch psychologische Erstbetreuung zu schulen. Dann hat man automatisch einen Pool an Menschen, die betroffenen Person emotional hilfreich zur Seite stehen können. Dazu gehört beispielsweise, die betroffene Person aus der Situation zu nehmen, sie nicht alleine zu lassen, wenn nötig, psychologische Betreuung zu organisieren, eine Unfallanzeige zu stellen oder eine Krankmeldung anzulegen“, so Tiana-Christin Schuck. Orientierung für derartige Maßnahmen bieten zum Beispiel die betrieblichen Strukturen der Rettungskette. Es gilt: sensible Daten müssen vor dem Zugriff Unbefugter geschützt werden.

Nicht alle Menschen werden aus belastenden Situationen eine psychische Erkrankung entwickeln. Einige möglicherweise deshalb nicht, weil sie das Ereignis durch die Unterstützung von geschulten Kolleginnen und Kollegen oder einer Psychologin oder einem Psychologen für sich klären können. Je besser sich ein Unternehmen vorbereitet hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine betroffene Person am Ende vielleicht sogar gestärkt an den Arbeitsplatz zurückkehrt.

„Nur, weil kein Blut fließt, heißt das nicht, dass keine Verletzung passiert ist.“

„Der muss sich doch nur mal ein bisschen zusammenreißen“. Psychische Erkrankungen gehen häufig Hand in Hand mit Unverständnis und Stigmatisierung. Dabei kann es jeden und jede treffen. Beispielsweise durch private Schicksalsschläge oder traumatisierende Ereignisse im Berufsleben.

Diese plötzlich auftretenden Situationen, welche außergewöhnlich belastend sind und die vorhandenen Bewältigungsmechanismen überfordern, stellen, bildlich gesehen, unsere Welt auf den Kopf. Fakt ist: Man weiß nie, ob und wann man in eine solche Situation gerät. Fakt ist: Es ist dann ein Trauma entstanden, eine seelische Wunde, eine psychische Verletzung. Fakt ist: Man weiß im Vorfeld auch nicht, ob diese Wunde von selbst verheilt, ob und wie viel Unterstützung von Fachmenschen notwendig ist, damit sie schneller und besser verheilt oder ob eine (psychische) Erkrankung daraus wird, welche eine Psychotherapie nötig macht. Menschen reagieren verschieden auf ein und dasselbe Erlebnis und nicht jedes Erlebnis triggert jeden Menschen gleich stark. Das liegt unter anderem an Vorerfahrungen, ob beispielsweise in der Vergangenheit bereits seelische Traumata entstanden sind und wie diese verheilten.

Fakt ist übrigens auch: Menschen reagieren in akuter Überlastung verschieden. Unruhe, Gereiztheit und Hyperaktivität sind genauso typisch wie Starre, Desorientiertheit oder dass man von außen das Gefühl hat, es sei „alles wie immer“.

Achtung: Die Situation ist für die Betroffenen und meist auch für das (Arbeits-)Umfeld maximal belastend bis akut überfordernd. Sich erst dann zu überlegen, was man tun kann und muss, ist fahrlässig. Deshalb sind Präventivstrategien und der möglichst offene Umgang im Team und das Schulen von zentralen Personen im Betrieb (wie etwa Führungskräfte und Ersthelfende) so wichtig.

Im Wissensblog der TÜV NORD Akademie erfahren Interessierte mehr darüber, wie eine gute Gefährdungsbeurteilung erstellt wird und an welchen Normen Verantwortliche sich orientieren können: Wissen Kompakt | Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz 

Unterstützung, etwa bei der Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung traumatische Ereignisse, bietet MEDITÜV: Psychische Gesundheit | MEDITÜV (medituev.de)

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