Die Zahl weltweit betriebsbereiter Atomkraftwerke ist zwischen Mitte 2021 und Mitte 2022 um vier auf 411 in 33 Ländern weiter gesunken.  Trotz Inbetriebnahme von sechs neuen Anlagen sank im Jahr 2021 zugleich der Anteil der Atomkraft an der kommerziellen Stromerzeugung weltweit mit 9,8 Prozent auf den niedrigsten Stand seit 40 Jahren, während der Anteil von Wind- und Solarkraft auf über 10 Prozent anstieg und damit die Atomkraft erstmalig überholte.

Das sind einige Ergebnisse des 385-Seiten starken World Nuclear Industry Status Report 2022 (WNISR2022), der heute in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vorgestellt wurde. Der Bericht, der erstmalig 1992 veröffentlicht wurde, befasst sich in seiner aktuellen Ausgabe neben den Länder-Status-Berichten in thematischen Kapiteln insbesondere mit der Situation um Fukushima, Fokus-Ländern wie u.a. Deutschland und Frankreich, SMRs oder Small Modular Reactors (kleine modulare Reaktoren) wie auch anlässlich des Überfalls auf die Ukraine mit Risiken und potentiellen Auswirkungen kriegerischer Handlungen auf Atomkraftwerke. Russland spielt zudem laut dem Bericht eine entscheidende Rolle im internationalen Nuklearmarkt, so auch bei Neubauten in China, Indien, der Türkei, Bangladesh und Ägypten.

Zur Vorstellung des Berichts sagte Mycle Schneider, Koordinator und Herausgeber des WNISR: “Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet. Fast alle Indikatoren haben ihre Höchstwerte seit Jahrzehnten überschritten, z.B. die Anzahl laufender AKW 2002, der Anteil der Atomkraft am Strommix 1996 oder die Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er Jahre. Ohne staatliche Hilfe geht nichts. Fast 90 Prozent der im Bau befindlichen AKW werden außerdem entweder in Atomwaffenstaaten gebaut oder von solchen in Nichtatomwaffenstaaten errichtet. Russland ist mit Abstand der größte Akteur in diesem Nischenmarkt.“

Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung sagte: „Die akribisch recherchierten und belegten Daten des Bericht 2022 zeichnen ein ernüchterndes Bild der tatsächlichen Potentiale nuklearer Stromerzeugung. Neubauten und zum Teil Betrieb sind derzeit nur in sehr wenigen Ländern und unter massivsten öffentlichen Subventionen finanzierbar – Wind- und Solarkraft sind mittlerweile erheblich günstiger. Damit blockiert jede zusätzliche Investition in den Atomsektor zugleich Mittel für den Umstieg in eine nachhaltige, sichere und preiswerte Energiezukunft.  Der Trend an den internationalen Märkten bestätigt diese Einschätzungen eindrücklich: Allein 2021 flossen mit 366 Milliarden US-Dollar bereits 69 Prozent der globalen Investitionen in Stromerzeugung in Erneuerbare Energien.

Doch noch entscheidender in diesen Zeiten: Kernkraft ist mit seiner Abhängigkeit von einer funktionierenden Strom- und Kühlmittelversorgung vor allem in Kriegssituationen ein unkalkulierbares Risiko, wie die Entwicklungen rund um das Kernkraftwerk im ukrainischen Saporischschja zeigen. Der größte und dominante Player im internationalen Nuklear-Geschäft ist zudem Russland, im Technologie- und auch Uran-Export.  Von 20 Reaktorbauten des russischen Atom-Unternehmens Rosatom werden 17 in sieben anderen Ländern realisiert. Angesichts des Ukraine-Krieges und seiner geopolitischen Implikationen ist eine neue Risikobewertung der Technologie und dieser Abhängigkeiten unvermeidlich.“

Der World Nuclear Industry Status Report 2022 wurde von einer internationalen ExpertInnengruppe rund um den Projektleiter Mycle Schneider und Co-Hauptautor Antony Froggatt erstellt und bietet Beiträge u.a. von Christian von Hirschhausen, M.V. Ramana, Alexander James Wimmers, Michael Sailer und Tatsujiro Suzuki. Die diesjährige Ausgabe wurde u.a. von der Heinrich-Böll-Stiftung, der MacArthur Foundation, des Natural Resources Defense Council, den Elektrizitätswerken Schönau, und der Swiss Renewable Energy Foundation unterstützt.

Download des WNISR 2022

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