Ebenfalls um eines der größten menschlichen Gefühle, die Liebe, geht es in dem biografischen Essay „Stendhal oder Ich liebe, also bin ich. Der Liebhaber – Der Seelenkenner – Der Erzähler“ von Margit und Volker Ebersbach.
Mit dem Leben und der Lebensleistung eines großen deutschen Schriftsellers setzt sich Volker Ebersbach in „Heinrich Mann – Leben, Werk, Wirken“ auseinander. Eine Einladung, diesen Autor erstmals oder erneut kennenzulernen.
In „Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks. Ein Traktat – Ein Spiel – Ein Vergleich“ kommt Gerhard Branstner auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen – die Heiterkeit.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Mit Blick auf den schwarzen Kontinent geht es diesmal um Krieg und Frieden, um gesellschaftlichen Fortschritt und um Solidarität aus jenen Ländern, in denen damals der Sozialismus gesiegt zu haben schien:
Erstmals 1982 veröffentlichte Jürgen Leskien im Kinderbuchverlag „Das Brot der Tropen“: Mit seinem Großvater fängt es an – das Buch, das der Schriftsteller Jürgen Leskien über Afrika geschrieben hat, genauer gesagt über die Volksrepublik Angola. Großvater, der eigentlich ein Kutscher war, wusste viel, weil er immer genau zuhörte und weil er ein Lexikon besaß – zwar nur einen Band von zwanzig Bänden. Aber immerhin. Band eins von A bis Atlantiden. Und seinem Enkel erklärte er manches von Afrika.
Als der Jahre später wirklich in Afrika ist, in der Volksrepublik Angola, lernt er dort zum Beispiel die Hafenstadt Lobito kennen, trifft einen Wachsoldaten, der ihm mit seinem Seitengewehr eine Kokosnuss öffnet – eine Kokosnuss, die vielleicht aus Brasilien über das Meer nach Angola geschwommen war.
Viel erfährt Leskien während seines Aufenthaltes über das Leben und die politische Entwicklung in Angola von der Kolonialzeit bis zum Befreiungskampf, er erfährt von den mehr als hundert Stämmen, die sich untereinander nur schwer verständigen können, von der ersten Militärparade der Soldaten der angolanischen Volksarmee am 4.Februar 1976 über die Magistrale der Hauptstadt Luanda und von der großen Bedeutung von Sprichwörtern in der Kultur dieses Landes. Und erzählt, wie er als Mitglied einer FDJ-Freundschaftsbrigade half, junge Angolaner in der Reparatur von Lastwagen zu unterweisen und mit ihnen gemeinsam die Autos in Gang zu halten.
Jürgen Leskien berichtet, wie er in Angola Freunde, schwarze Freunde findet, aber er berichtet auch von den Tagen, da er sich nach seinem 9.000 Kilometer entfernten grünen Heimatland sehnt. Er sieht Affenbrotbäume und Maniokfelder – das Brot der Tropen – und leider keine Elefanten. Und irgendwie ist in Afrika immer auch sein Großvater mit dabei. Sein Großvater aus dem fernen Berlin. Und als er wieder nach Hause kommt, da stellt ihm der Großvater eine wichtige Frage. Und damit gleich zu diesem Großvater, von dem der Autor zu Beginn seines Buches erzählt und zwar aus gutem Grund:
„1. Kapitel
Am besten ist, ich erzähle gleich von meinem Großvater, dann wisst ihr, woran ihr seid; und warum ich nach Afrika gefahren bin, ist leichter zu verstehen. Also, mein Großvater! Mein Großvater ist Berliner, schon immer. Damals wohnte er mit seiner Frau und seinem Sohn, der, wie richtig vermutet, mein Vater ist, in der Blumenstraße. Das ist die Gegend um den heutigen Ostbahnhof, aber mehr zum Alexanderplatz hin.
Großvater, Großmutter und der Apfelschimmel Oskar betrieben zu dritt eine kleine Kohlenhandlung. Das war in der Zeit zwischen den beiden Kriegen. Wer die Blumenstraße heute sucht, bemüht sich vergebens. Die Blumenstraße ist im Winter neunzehnhundertvierundvierzig verbrannt. Was danach blieb, waren Berge verkohlten Gesteins, Menschen, die in den Trümmern nach Menschen suchten.
Zu dieser Zeit war der Kohlenplatz schon lange ohne Kohlen, und Oskar lebte nicht mehr. Großvater hatte ihn, während ich mit Großmutter zitternd vor den Bomben im Hochbunker saß, mit der stumpfen Seite unserer alten Axt erschlagen und das Fleisch am gleichen Abend noch eingeweckt. Besser wäre gewesen, Großvater hätte unser Pferd an die Leute verteilt, die es kannten, an die Nachbarn zum Beispiel oder an die lange Schmidten von der gegenüberliegenden Straßenseite, die war immer auf Suche nach was Essbarem, die Schmidten hatte fünf Kinder. Aber nein, Großvater hatte eingeweckt.
So kam es, dass vom toten Oskar so recht niemand etwas hatte. Die Einweckgläser standen nur drei Tage im Keller, am vierten Tag war das Haus darüber eingestürzt und mit ihm die ganze Blumenstraße. Ich selbst hatte von Oskar, den ich wirklich gut leiden konnte, nur drei Buletten gegessen, die Großmutter nicht einmal das. Aber vergessen, vergessen konnten wir den Apfelschimmel nicht.
Im folgenden Sommer dann, eigentlich blühte man gerade der Frühling, quengelte Großvater und schimpfte. Er müsse raus, müsse sich kümmern, er käme hier um. Also an einem Frühlingstag fuhr Großvater mit dem Zug in Richtung Luckenwalde. Er wollte ein Pferd kaufen. Natürlich lachten alle, und die Soldaten des Kontrollpostens der Roten Armee am Stadtrand hörten sich ziemlich ungeduldig Großvaters Gerede an, aber dann lachten auch sie. Woher jetzt ein Pferd nehmen! Bevor der Krieg die Menschen verschlungen hatte, hatten die Menschen die Pferde geschlachtet! Die Panjepferde der Soldaten mit dem hochaufgewölbten Kummet, die? Die meinte er? Dass ihnen ein Deutscher ein Pferd der Roten Armee abhandeln wollte, das war den Soldaten noch nicht untergekommen. Aber Großvater ließ nicht locker. Die Soldaten wurden ärgerlich. Um ihn loszuwerden, setzten sie ihn auf ein Auto, das in Richtung Stadt den Kontrollpunkt passierte.
Später fuhr der Großvater immer wieder mit dem Zug in Richtung Luckenwalde, und die Soldaten staunten nicht schlecht, als er eines Tages mit einem Pferd vor dem Schlagbaum stand.
Und so hatte ich das Glück, nicht nur mit drei Brüdern, sondern auch mit einem Pferd aufzuwachsen. Und das mitten in Berlin!
Doch das ist nun schon eine ganz andere Geschichte. Ihr versteht, was ich sagen will: hatte sich Großvater einmal etwas in den Kopf gesetzt, ließ er nicht davon ab. Diese Hartnäckigkeit hielt die Familie in schlimmen Zeiten zusammen, aber sie bescherte meiner Großmutter auch so manche schlaflose Nacht. Ja, was der Großvater wusste, dass wusste er! Leute, die diese Zeit von damals genauer kennen, werden sagen, na, mit dem Wissen kann es ja nicht weit her gewesen sein. Nun ja, wahr ist, Großvater hatte nur sechs Jahre die Schule besucht; das lag am deutschen Kaiser. In seinem Auftrag wurde dem Vater meines Großvaters eines Tages die Pickelhaube mit feldgrauem Überzug auf den Kopf gestülpt, und man hieß ihn in einen Militärwagen einsteigen. Der Zug, zu dem der Waggon gehörte, stand auf dem Wriezener Bahnhof, nicht weit weg von der Blumenstraße, und Großvater bekam aus diesem Anlass schulfrei. Doch schon am übernächsten Tag hatte er sich ganz und gar von der Schule verabschieden müssen, denn mit seinen zwölf Jahren war er recht kräftig und wurde in der Kohlenhandlung gebraucht. Dabei blieb es zeit seines Lebens – Arbeit auf dem Kohlenhof.
Trotzdem – Großvater wusste viel. Er war in Berlin herumgekommen, kannte viele Leute, hörte immer genau hin, wenn sie sich in der Kutscherkneipe an der Warschauer Brücke ihre Geschichten erzählten. Und Großvater besaß ein Lexikon! Ja, ein Lexikon. Wie er zu dem kam, ist schnell erzählt.
Ihr könnt euch denken, dass nicht immer Kohlen zu fahren waren, auch später dann, im Frieden, als es wieder welche gab, war es in dieser Hinsicht nicht anders. Aber Felix, so hieß Oskars Nachfolger, sollte nicht kalt stehen, nicht nur das Futter in sich hineinmampfen. Außerdem musste ja auch die Familie ernährt werden. Und so fuhr Großvater für die Leute vom Friedrichshain ab und zu Möbel, half beim Umziehen. Eines Morgens, nach einem solchen Umzug, fand der Großvater in der Futterkiste des Wagens ein Buch. Das Buch war dick und schwer, ein richtiger Wälzer. Weiß der Teufel, wie es in die Futterkiste gekommen war, auf jeden Fall hing das mit dem letzten Umzug zusammen. Mehrfach versuchten wir, den Leuten das Buch zurückzugeben, doch vergebens.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Ganz neu im Verlagsprogramm von EDITION digital ist die soeben erschienene Eigenproduktion „Wildnis des Herzens oder Die Reisen des gelehrten Ritters Rodeger von Serimunt, eines Gesprächsfreundes der Heiligen Elisabeth von Thüringen“ von Volker Ebersbach: Der gelehrte Ritter Rodeger von Serimunt kommt aus dem Morgenland nach Teutschland zurück. Er ist den Mongolen entkommen, die ihn, einen gefangenen Kreuzritter, bei der Erstürmung Bagdads verschleppt hatten. Er sucht die Landgräfin Elisabeth von Thüringen, ohne zu wissen, dass sie längst verstorben ist. Ihr Beichtvater Konrad von Marburg, Gründer der Inquisition, inzwischen ermordet, hat ihn eines unkeuschen Umgangs mit Elisabeth verdächtigt. Rodeger wird deshalb gefangen und von Dominikanermönchen verhört. Sie wollen die Anklage dann fallenlassen, wenn er Wunder bezeugt, die für eine Heiligsprechung Elisabeths gesammelt werden. Nach einer Folter bestätigt er solche Wunder. Er muss in ein Kloster eintreten.
Der Roman wird auf dem Hintergrund geschichtlich verbürgter Ereignisse erzählt. Er mischt historische und erfundene Gestalten und erlaubt sich Freiheiten in der Chronologie, verzichtet aber auf modisch-skurrile Anachronismen. Die Erzählweise ist realistisch. Sie gleitet gelegentlich ins Märchenhafte. Rodeger, die Hauptgestalt, wird in der Vita der Heiligen Elisabeth von Thüringen erwähnt. Er war ein franziskanischer Laienbruder und ihr Magister disciplinae spiritualis. Seine Erlebnisse in der Zeit des letzten Stauferkaisers Friedrich II., mit dessen aufgeklärtem Geist er lange sympathisiert hat, eröffnen ein Weltpanorama des Hochmittelalters im Spannungsfeld der Kulturen zwischen dem christlichen Abendland und dem muslimischen Morgenland. Dynastische Probleme, Intrigen und Friedrichs Einknicken gegenüber der Kirche – sein Pragmatismus des Herrschens – schaffen Verhältnisse, die den gelehrten Ritter Rodeger von Serimunt immer wieder daran hindern, sinnvoll anzuwenden, was er gelernt hat. Das Erotische gestaltet der Roman als einen möglichen Teil des Geistigen. Und so hebt die lange Geschichte an:
„PRAEAMBULUM: Gottesminne
Es war einmal ein Ritter, in dem ein Gelehrter steckte. Wenn auch weder dem Ritter noch dem Gelehrten in seinem Leben je etwas glückte, bestand er doch viele Aventüren. Er hatte große Dinge erlebt, beglückende und arge, und war mehrmals dem Tod nur knapp entronnen.
Der Ritter muss gut beritten sein und reiten, reiten, gefährlich reiten und die Welt erkunden. Das Herz pocht in der Brust, die Hufe pochen auf den Weg. Im Vorfrühling des Jahres 1235 erreicht er, von Osten, aus der weiten, dunstigen pannonischen Ebene, aus dem Reich der Ungarn kommend, an den Ufern der Donau das Heilige Römische Reich, das SACRUM IMPERIUM ROMANUM, das teutsche Land. Es ist nicht seine Heimat. Dennoch hat er das Gefühl, er fände nach Hause. Ist es eine Todesahnung? Die Menschenwelt ist ihm so fremd geworden, dass er dem Sterben bisweilen so froh wie einer Heimkehr entgegensieht. Ein Alter hat er schon, das wenige Menschen in seiner Zeit erreichen. Nicht viele Kranke hat er heilen können. Aber sich selbst ist er der beste Arzt gewesen. Auf die Heilkunst und die Philosophie versteht er sich weit besser als auf das Ritterhandwerk. Und Frau Aventüre reitet wie eine Fee unfassbar immer vor ihm her. Inzwischen gehorcht eine arabische Rappenstute namens Muntane seinem Griff in die Zügel, seinen Schenkeln und seinen Sporen. Ihre Hufe greifen scharf aus. Er hat in den Pferdesätteln weit größere Entfernungen zurückgelegt als seine Vorväter auf Schiffskielen. Einmal, das weiß er, kommt jedoch der Tag, an dem der Ritter ausgeritten hat. Warum bin ich so lange ziellos in der Welt umhergeirrt? fragt er sich. Ist es meine Vaterlosigkeit? Ich wollte nicht mit denen gehen, die mich betrogen hatten, und ich geriet nur anderen Betrügern in die Hände. Wie ein Zugvogel kehrt dieser Ritter, Herr Rodeger von Serimunt, zurück in den kalten, dunklen Norden. Nirgends hat er den Stein gefunden, in dem blinkend ein Schwert gesteckt hätte, das allein von seiner Hand herausgezogen worden wäre. Sein Schwert heißt Springfeuer und nicht Excalibur. Er ist kein König, kein König Artus. Die Welt läuft ohne Gerechtigkeit weiter. Unterwegs hat er sich von Kaufleuten dafür bezahlen lassen, dass er sie auf Handelsstraßen ein Stück begleitete und ihnen die Waren vor Raubgesindel und Wegelagerern beschützte, von manch einem dankbar mit dem Heiligen Christophorus verglichen, von anderen mit Sankt Georg. So ist er den Gegenden, die er erreichen wollte, immer näher gekommen.
In den frühlingsgrünen Wäldern erkennt er die Vogelstimmen wieder, die ihn vor Zeiten an den Liebreiz schöner Frauen erinnert haben. Wahrhaftig! ruft er eines um das andere Mal in seinem Herzen sich selber zu: Wahrhaftig, homo viator! Wir sind Pilger auf dieser Welt, nur Pilger. An keinem Ort ist unseres Bleibens. Und erst im Sterben gelangen wir an unser Ziel. Aber noch stirbt er nicht, so leicht stirbt es sich nicht, das Sterben ist ein hohes Gut, das man nicht einfach am Wegrand findet. Er braucht vor dem letzten Ziel noch ein vorletztes. Sein inneres Auge hat ihm oft die Burg Kerlouan vorgeführt und die Gesichter der drei Damen, die vielleicht seine Cousinen waren. Er würde wohl nicht einmal ihre Asche finden, und von der Burg nichts als aschfarbene Ruinen. Hätte jemand die Burg wieder aufgebaut, ihm wären es Fremde. Der lachende Specht aber macht, dass er ein Frauenlachen hört. Es ist Elisabeth, die über seine Späße lacht oder ihn für irgendein ungeschicktes Wörtlein verspottet. Was wir wirklich lieben, geht uns nie verloren.“
Ebenfalls ganz neu bei EDITION digital ist der gleichfalls 2022 veröffentlichte biografische Essay „Stendhal oder Ich liebe, also bin ich. Der Liebhaber – Der Seelenkenner – Der Erzähler“ von Margit und Volker Ebersbach:
Stendhal, der diesen Namen 1817 annahm, als Henri Beyle ein Kind der Aufklärung und Zeitgenosse der Französischen Revolution, musste in den widerspruchsvollen Zeiten Napoleons und der Restauration um seine bürgerliche Existenz ringen. Dabei erwarb er die tiefe Menschenkenntnis, die seine Romane auszeichnen. Seine Erkundungen der menschlichen Seele und seine Erfahrungen mit schönen Frauen schlugen sich in dem großen Essay „Über die Liebe“ nieder. Der ebenso umfang- wie detailreiche Essay startet zunächst mit einigen Vorüberlegungen:
„Für Clelia und Andreas
EIN PAAR FRAGEN ZUVOR
Suchen wir nach den geschichtlichen Wurzeln unseres Denkens und Fühlens, nach uns verwandten Geistern, – warum ziehen dann gerade Phasen des Aufschwungs und der beschleunigten Entwicklung unseren Blick an? Stendhal versuchte immer wieder, die Leidenschaften, besonders die eigenen, vernünftig zu betrachten, und konnte doch die Vernunft nie leidenschaftslos verteidigen. Er fände eine Antwort vielleicht bei unserer Eitelkeit und verwiese darauf, dass schon so manchem Aufschwung ein jäher Absturz folgte und jede rasche Entwicklung bald gebremst wurde und sich verlief. Schreibend, die eigenen Erlebnisse und die Erfahrungen mit sich selbst reflektierend, ist er zum intimen Kenner des menschlichen Herzens geworden. Als Analytiker der Leidenschaften hat er unter den französischen Romanciers einen großen Nachfolger: Émile Zola. In Stendhals Reifejahren, an der Schwelle zum 19. Jahrhundert – noch ist der späterhin berühmte Romancier weder sich noch anderen mehr als der unbekannte Henri Beyle – drängen sich die neuen Ideen, die Revolten und Revolutionen, die Schlachten und Friedensschlüsse, die Änderungen alter Grenzverläufe und neue Kriegserklärungen. Sie erfassen die Köpfe vieler Menschen, sie werden bejubelt und verleumdet, und sie erneuern und verändern sich. Die Aufklärung hat nicht nur den Freiheitsdrang der Französischen Revolution beflügelt. Ideologien haben aus ihr, zuerst in der Diktatur der Jakobiner, auch einen neuen Absolutismus mit neuen Dogmen abgeleitet, die sich einer gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstellten. Mit der klaren Stimme Immanuel Kants hat sie zwar den Menschen zu dem unerhörten Wagnis aufgefordert, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sich keiner Autorität und keinem Dogma zu unterwerfen, weder einem kirchlichen noch einem staatlichen. Doch was sie in Bewegung gesetzt hat, die Revolution und das Kaiserreich als eine Variante des aufgeklärten Absolutismus, scheitert innerhalb weniger Jahre auf den Schlachtfeldern der napoleonischen Kriege.
Nun fühlt ein scharf und unbestechlich denkender, ein heiß und leidenschaftlich fühlender Mensch sich mit der Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, auf sich selbst zurückgeworfen. Er muss sich auf seine eigene Individualität besinnen, kann sich, nahezu autonom, in seiner Entwicklung nur noch auf sich selbst beziehen: Für aufgeklärt hielten sich auch die Monarchen, die gegen die Französische Republik ihre Koalitionsarmeen in Marsch setzten. Goethe begleitete seinen Herzog Carl August von Sachsen-Weimar und erlebte die Kanonade von Valmy, bei der die Aufklärung in Gestalt der Republik noch einmal siegen konnte. Wenige Jahre später überfluteten, noch immer die trotzige Marseillaise auf den Lippen, die Truppen Napoleons, eines neuen Kaisers, Europa. Sie setzten dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und dem alten deutschen Kaisertum ein Ende und forderten sowohl das bürgerlich fortgeschrittene Großbritannien mit seinen Dampfmaschinen und seiner Flotte als auch das zurückgebliebene Zarenreich gegen sich heraus. Sie befreiten die Völker von der alten Bedrückung und setzten an deren Stelle eine neue. Die Republik scheiterte, Napoleon scheiterte. Die Restauration schickte sich an, alles bis in Zustände zurückzurollen, wie sie vor den Anfängen der Aufklärung geherrscht hatten. Wozu war nun das Blut beim Sturm auf die Bastille geflossen, wozu das Blut der Guillotine, wozu das Blut der Großen Armee und das Blut der Befreiungskriege? Ein aufgeklärter Kopf, der sich dies fragte, musste seine Fragen auch an die Ideen richten, die ihn nicht weniger beflügelt hatten als die Revolutionäre und ihre Theoretiker, die Soldaten Napoleons und vielleicht auch den Kaiser der Franzosen selbst. Er musste dem Schicksal dieser Ideen in seinem eigenen Kopf, in seinem eigenen Herzen nachspüren.“
Erstmals 1978 erschien im Röderberg-Verlag Frankfurt am Main (als Röderberg-Taschenbuch Band 71) und im Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig „Heinrich Mann – Leben, Werk, Wirken“ von Volker Ebersbach: Heinrich Mann (1871-1950), der Autor der „Kleinen Stadt“, des „Professor Unrat“, des „Untertan“, des „Henri IV.“, hat ein umfangreiches Gesamtwerk hinterlassen. Thomas Mann zog eine Bilanz der Leistung des älteren Bruders: „Sein Kunsterleben ist vollendet ausgeklungen in den beiden letzten Romanen, dem „Empfang bei der Welt“, einer geisterhaften Gesellschaftssatire, deren Schauplatz überall und nirgends ist, und dem ,Atem‘, dieser letzten Konsequenz seiner Kunst, Produkt eines Greisen-Avantgardismus, der noch die äußerste Spitze hält, indem er verbleicht und scheidet. Auf ebendieselbe Weise hat der große Essayist sich vollendet in dem faszinierenden Memoirenbuch ,Ein Zeitalter wird besichtigt‘, einer Autobiografie als Kritik des erlebten Zeitalters von unbeschreiblich strengem und heiterem Glanz, naiver Weisheit und moralischer Würde, geschrieben in einer Prosa, deren intellektuell federnde Simplizität sie mir als die Sprache der Zukunft erscheinen lässt. Ja, ich bin überzeugt, dass die deutschen Schullesebücher des 21. Jahrhunderts Proben aus diesem Buch als Muster führen werden. Denn die Tatsache, dass dieser nun Heimgegangene einer der größten Schriftsteller deutscher Sprache war, wird über kurz oder lang auch von dem widerstrebenden Bewusstsein der Deutschen Besitz ergreifen. Hier der Anfang dieser Biografie von Volker Ebersbach:
„Verachtung und Güte
In der letzten Phase seines Schaffens, während Europa in Flammen steht, blickt Heinrich Mann auf ein Zeitalter zurück. Noch weiter kann ein Misserfolg nicht gehen. Der Strich unter einem Zeitalter war niemals dicker (1) Dies über das zu Ende gehende Abenteuer des imperialistischen Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt hat sich Heinrich Mann zu umfangreicheren Äußerungen nicht nur über seine Zeit, sondern auch über sich selbst entschlossen. Bis dahin war er sparsam geblieben mit Worten zur eigenen Person. Sein ausgeprägter Sinn für das öffentliche Leben (Heinrich Mann, Briefe an Karl Lemke, Berlin 1963, S. 122) verschmolz immer wieder unmittelbar persönliche Lebenserfahrung mit dichterischem und publizistischem Werk, mit einem leidenschaftlichen, ununterbrochenen Kampf, der an verschiedenen Fronten, mit unterschiedlichen Mitteln und von zeitbedingt widersprüchlichen Positionen aus der Verteidigung der Kultur, der Wahrung der Menschenwürde galt. Doch das Autobiografische tritt auch in „Ein Zeitalter wird besichtigt“ (2) noch hinter die essayistische Verarbeitung des Zeitgeschehens und seiner historischen Wurzeln zurück. Die Energie der antifaschistischen Streitschriften und Essays aus der Zeit des französischen Exils strömt weiter; statt einzelner Aufsätze entsteht ein Buch, ein Riesenessay über die erlebte Zeit und nur dadurch vermittelt über ihn selbst. Zu Privatem äußert er sich kaum.
Diese Zurückhaltung der eigenen Person gegenüber hat Heinrich Mann 1922 als Teil seiner Kunstauffassung begründet. Anderes als das in Kunstgebilde Gewandelte und aus uns Fortgestellte sollten wir weder von uns noch von einander preisgeben, es wird notwendig missverstanden (3). Vor Missverständnissen auf der Hut sein, ihnen nach Möglichkeit vorbeugen, wenn sich schon ein Geschichtsschreiber (4) des eigenen Lebens gefunden hat, ist auch der Duktus vieler Briefe an Karl Lemke (5). An den Memoiren Napoleons I. wie auch an Flaubert bewundert Heinrich Mann die göttliche Unpersönlichkeit (6), und so schreibt er längere Passagen im „Zeitalter“ über sich in der dritten Person. – Vielleicht ist er es; vielleicht bin ich es (7) beantwortet er Vermutungen, dass im „Zola“-Essay und im „Henri Quatre“ Züge eines Selbstporträts enthalten seien. Schwerlich ist zu übersehen, dass in den Porträtessays Heinrich Manns, vor allem in denen über Franzosen, Aussagen gemacht werden, aus denen sich Umrisse eines Selbstporträts zusammensetzen ließen. Nicht nur, dass über sich selbst spricht, wer über seine Vor- und Leitbilder spricht. Sondern Heinrich Mann rückt in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen über andere Dichter jeweils auch eigene Problematik und stellt gern als Lebens- und Schaffenskonflikt eines anderen dar, womit er soeben selbst fertig geworden ist. Die Zeitnähe und die Bedeutsamkeit seiner Probleme berechtigen ihn dazu. Sei es der antibürgerliche Ästhetizismus Flauberts, die Entwicklung zum sozialen Roman und zur Demokratie bei Zola oder die linksintellektuelle Hinneigung eines Anatole France zum Kommunismus – immer entlocken ihm die Reflexionen Selbstzeugnisse.
Was braucht ein Denkender, um das Leben recht zu fassen und nicht an ihm zu scheitern? fragt er im Zusammenhang mit Anatole France. Verachtung und Güte. Jene, um nicht zu hassen, diese, um von Menschen nur zu fordern, was sie leisten können (8). Am Schaffen seines langjährigen Freundes Lion Feuchtwanger ist ihm wichtig, dass es lehrt, weniger zu hassen als zu erkennen: es gewährt seinen Romanen und ihm die Lebenskraft und Dauer. Ihm ist erlaubt, gütig zu sein; Güte verlangt Echtheit, und er hat sie (9).“
Erstmals 1984 veröffentlichte Gerhard Branstner im Mitteldeutschen Verlag Halle –Leipzig „Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks. Ein Traktat – Ein Spiel – Ein Vergleich“. In einer kurz darauf erfolgten Rezension hatte der Theaterwissenschaftler Rudolf Münz ebenfalls 1984 sehr lobend über diese Schrift Branstners geschrieben:
„So hat noch keiner bisher über Theater geschrieben. Diese Schrift wird in der ausgesprochenen Dürre unserer Theaterliteratur (und -diskussion) wie ein Labsal wirken und insbesondere die nahezu trostlose Lage hinsichtlich des Standes von Theatergeschichtsbewusstsein bei uns erheblich positiv beeinflussen.
Die allgemeine Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst, die außerordentlich interessante und weitreichende Spieltheorie, die Bestimmungen von Spezifika des Theaters – seien es die Reprovisation, die verschiedenen Grade der Synthese des Theaters, das Verhältnis von Literatur und Theater, die Forderung nach zwei Probenphasen und damit die grundlegende Behandlung der Bedeutung von Publikum u.a.m. – es erscheint überflüssig, aufzählen zu wollen, was da alles an Lobenswertem, weil Neuem und Zukunftsweisendem, vorhanden ist …“ Hier ein kurzer Auszug, der aber gut den Ansatz von Gerhard Branstner erkennen lässt:
„Kurzgeschichte der Gesetze des Theaters
Das Wesen keiner Kunst ist so schwer zu fassen wie gerade dieser … aber fast alle Welt glaubt über das Theater reden und urteilen zu können
Ludwig Tieck
Alle bisherige Theorie des Theaters ist am Ende doch nur Theorie der Dramatik, der Stücke. Das führt zu dem folgenschweren Irrtum, das Stück nicht als Teil des Theaters, sondern das Theater als Reproduktionsanstalt von Stücken zu verstehen. „Spätestens seit Aristoteles“, konstatiert Rudolf Münz, „wird das Drama fast ausschließlich als literarische Erscheinung im Rahmen der Poetik betrachtet“, und das Theater selbst erscheint als „dienende Hilfskraft“ der Literatur.
Darstellungen „des Theaters als einer selbstständigen, eigengesetzlichen und schöpferisch-produktiven“ Kunst, resümiert Münz, „fehlen – soweit ich sehe – für den Gesamtbereich fast völlig“. Und Rudolf Penka fordert die Theaterwissenschaft auf, „nicht länger mehr eine ausschließlich idiografische“, beschreibende Wissenschaft zu sein, „die sich nur mit der Aufzeichnung von einmaligen, unwiederholbaren Ereignissen beschäftigt“, und stattdessen eine „Gesetze suchende“ Wissenschaft zu werden. Ohne Kenntnis der Gesetze einer Erscheinung haben wir nun einmal keine Wissenschaft von ihr. Das Schlimme ist nicht, dass wir keine Wissenschaft des Theaters haben – das Schlimme ist, dass wir glauben, wir hätten eine. Was man zu haben glaubt, das vermisst man nicht. Und man vermisst nicht, was man davon hätte, hätte man es.
Die Wissenschaft des Theaters kann nur die Geschichte seiner Gesetze: ihrer Ausbildung im Wechselspiel von Erfüllung und Verletzung sein. Allein die Gesetze des Theaters lassen uns sein seltsames Schicksal, seine Fortentwicklungen und Fehlentwicklungen, seine manchmal beglückende und oftmals bejammernswerte Erscheinung erkennen, – und seinen gegenwärtigen Zustand. Und sie lassen uns auch die Zukunft des Theaters voraussehen.
- Theater einstmals
Eine Erscheinung, die von der Urgesellschaft über die Klassengesellschaft bis zum Kommunismus reicht, kann nicht aus einem Teil der Geschichte begriffen werden, will man nicht zu Kurzschlüssen kommen. Der Ethnologe Henri Morgan wusste um diese Gefahr, als er davor warnte, die Klassengesellschaft (von ihm Zivilisation genannt) zum Maß aller Dinge zu machen: „Die seit Anbruch der Zivilisation verflossene Zeit ist nur ein kleiner Bruchteil der verflossenen Lebenszeit der Menschheit; nur ein kleiner Bruchteil der ihr noch bevorstehenden.“ Ein kleiner Bruchteil kann nicht Maß des Ganzen, er kann nicht einmal Maß seiner selbst sein. Und wenn laut Marx die menschliche Gesellschaft ihre Vorgeschichte hat und die eigentliche ihr erst bevorsteht, so hat auch das Theater als eine Erscheinung dieser Gesellschaft seine Vorgeschichte, und auch dem Theater steht seine eigentliche Geschichte noch bevor. Daher müssen alle Bestimmungen des Theaters, die aus seiner bisherigen Geschichte abgenommen sind, „uneigentliche“ sein, wenn nicht verkehrte. Nämlich dann, wenn sie dem zweiten Stadium der Vorgeschichte, dem Theater der Klassengesellschaft, abgenommen sind.
Eine Erscheinung, die dem Gesetz der Negation der Negation folgt, verkehrt in der zweiten Phase, in der Phase der Negation, ihr ursprüngliches Wesen in das gerade Gegenteil, um es in der Negation der Negation als eigentliches zu gewinnen. Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen aber ist Heiterkeit. Und das Theater lebt mehr als alle andere Kunst von diesem Wesen des Menschen. Daher ist die Phase der Negation als das zweite Stadium der Vorgeschichte des Theaters auch sein finsterstes. Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen sei Heiterkeit? Das ist zu belegen.
Zunächst die Heiterkeit als ursprüngliches Wesen des Menschen. Beginnen wir mit dem nördlichsten der Naturvölker, den Eskimo. Von ihnen sagt Eva Lips, dass sie „die fröhlichsten und lachlustigsten unter den Völkern Amerikas“ seien. Sie konstatiert „eine Fröhlichkeit des Herzens … die kaum vorstellbar“ ist und bezeichnet die „Lachlust als anerkannte Hauptemotion der arktischen Menschen“.
Von den Indianern Nordamerikas sagt Georg Catlin: „Unter den Irrtümern, in die man … hinsichtlich der Wilden verfällt, ist wohl keiner allgemeiner verbreitet und falscher und zugleich keiner so leicht zu widerlegen als der, dass der Indianer ein mürrisches, verdrießliches, verschlossenes und schweigsames Wesen sei.“ Und nach seinen Erfahrungen mit den Mandanern, die „von den mannigfachen Leidenschaften und Begierden des zivilisierten Lebens noch unberührt geblieben sind“, berichtet Catlin, dass er „Zeuge der unerschöpflichen Scherze und des unauslöschlichen Gelächters“ sein konnte.
Diese Wesensart zeichnet auch die südamerikanischen Indianer aus, solange sie von der Zivilisation „unberührt geblieben“ sind. So charakterisiert Karl von Steinen die zentralbrasilianischen Bakairi als „heiter“ und Maximilian zu Wied-Neuwied die Botokuden als „lustig“.´
Möge sich bei dieser Lektüre der Theater-Theorie von Gerhard Branstner die Heiterkeit einstellen und nicht zuletzt die Lust, wieder einmal selbst ins Theater zu gehen. Ganz ehrlich – mal abgesehen von den Corona-Einschränkungen – wann waren Sie das letzte Mal in einem richtigen Theater? Und was haben Sie dort gesehen?
Ansonsten wieder viel Vergnügen beim Lesen, weiter einen schönen Herbst und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter, natürlich auch soweit es die allgemeinen und besonderen Umstände dieses Jahres erlauben einigermaßen heiter, und bis demnächst.
Und was übrigens den Kreuzritter vom Kreuzritter vom Anfang dieses Newsletters angeht, dem können interessierte Damen und Herren auch in einem weiteren Buch von Volker Ebersbach begegnen – in der Erzählung „Das Rosenwunder“, in welcher Rodeger von Serimunt als Gesprächspartner der Elisabeth von Thüringen gezeigt wird. Alles ändert sich, als der gelehrte Ritter in den Kreuzzug ziehen muss …
Nebenbei bemerkt: auch „Das Rosenwunder“ ist bei EDITION digital als E-Book zu haben.
EDITION digital war vor 28 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.200 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.
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