Zur Vielfalt der Lebensformen in der deutschen Gesellschaft gehören auch Mehrkindfamilien. Sie sind eine Minderheit, insofern als nur etwa 15 Prozent der Erwachsenen mit drei oder mehr Kindern zusammenleben. Für Kinder ist diese Lebensform aber sehr bedeutsam. Mehr als ein Drittel von ihnen wächst in einer solchen Familie auf (1).

Trotzdem bleiben diese Familien häufig „unter dem Radar von Politik und Zivilgesellschaft“, wie eine Studie der Bertelsmann Stiftung über Mehrkindfamilien feststellt. Sofern sie doch auf diesem Radar auftauchten, dominierten Extreme: Entweder das Bild der „mit einem hohen Einkommen privilegierten oder der seit mehr als einer Generation von sozialstaatlichen Transferleistungen abhängigen Familie“. Auch seien Mehrkindfamilien mit dem Vorbehalt  konfrontiert, „ein eher traditionell-konservatives Lebensmodell zu favorisieren“. Der Alltag in Mehrkindfamilien, ihr Reichtum an Beziehungen, ihre „bunte Vielfalt“ und ihre Leistungen für den Generationenvertrag würden verkannt (2).

Tatsächlich klafft zwischen ihrer Lebenswirklichkeit und dem politisch-medialem Familienleitbild eine Kluft. In Politik und Medien wird die vollzeiterwerbstätige Mutter propagiert. Mütter sollen beruflich Karriere machen. Kinder in Krippen, Ganztagskindergärten und Ganztagsschulen betreut werden. Sofern die Mütter mit dem Vater ihrer Kinder zusammenleben, soll die Erwerbs- und Familienarbeit möglichst gleich, aufgeteilt werden. Das Familienmodell mit dem Vater als Ernährer gilt als überholt und überwinden.

Mehrkindfamilien leben aber mehrheitlich in „traditionellen“ Konstellationen: Viele Mütter von drei und mehr Kindern sind nicht erwerbstätig (etwa 40%). Von den erwerbstätigen Müttern haben die meisten einen Teilzeitjob. Nur etwa jede achte ist in Vollzeit erwerbstätig. Dafür wenden sie wesentlich mehr Zeit für Haushalt und Kindererziehung auf, im Vergleich zu Müttern mit weniger Kindern und erst recht zu Kinderlosen. Dasselbe Muster zeigt sich auch bei Vätern, die mit zunehmender Kinderzahl mehr Zeit für die Kinderbetreuung aufwenden. Zugleich sind kinderreiche Väter zu annähernd 80 Prozent in Vollzeit erwerbstätig. Der Vater als Familienernährer ist in kinderreichen Familien die Regel (3).

Diese Normalität des „Ernährermodells“ wird politisch gern ausgeblendet. Sofern man diese Realität wahrnimmt, gilt sie als Beleg für die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diesem etablierten Narrativ hat „das Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie schon oft die empirischen Befunde der Familienforschung gegenübergestellt. Demnach unterscheiden sich kinderreiche Eltern in ihren Wertvorstellungen und Präferenzen markant von anderen Gruppen: Berufliche Karriere sowie Konsum und Freizeit sind für sie tendenziell weniger wichtig. Eine umso höhere Bedeutung als Lebensinhalt haben Kinder. Die mit der Entscheidung für mehrere Kinder verbundenen Nachteile hinsichtlich des Einkommens und Lebensstandards nehmen diese Eltern oft bewusst in Kauf (4).

Die Ehe zwischen Mann und Frau ist bei ihnen die Regel, die Grundlage ihres Lebensmodells, das auf langfristigen Bindungen beruht. Viel häufiger als Singles und als andere Paare befürworten sie die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie, weil sie die Kinder zuhause betreuen wollen. Wiederholt hat „iDAF“ darauf hingewiesen, dass ihre Anliegen in der gesellschaftspolitischen Diskussion zu kurz kommen (5).

Dieses Problem bemerkt jetzt auch die Bertelsmann Stiftung. Für ihre Studie haben Wissenschaftlerinnen kinderreiche Eltern interviewt. Dabei stellten sie fest, dass diese Eltern bewusst auf höheres Einkommen verzichten, „um Zeit mit den Kindern verbringen und diese prägen zu können“. Sehr deutlich wird in den Interviews, wie wichtig diesen Eltern das Zusammensein der Geschwister ist. Sie sollen viel Zeit gemeinsam verbringen. Das wird schwieriger, wenn die Kinder ganztägig außerhäuslich betreut werden. Deshalb kritisieren diese Eltern im Blick auf Betreuungs- und Ganztagsplätze, dass deren Ausbau „mit  der Erwartung einhergeht, diese unbedingt zu nutzen“ (6).

Tatsächlich zielt die Politik seit vielen Jahren auf den Wandel hin zu einer „Institutionenkindheit“ ab. Ein Instrument dieses Wandels war das Elterngeld. Mit ihm wurde die vergütete Elternzeit auf 12 bzw. 14 Monate verkürzt. Das Signal war klar: Kleinstkinder sollten, spätestens im zweiten Lebensjahr, in Betreuung gegeben werden. Dies wurde auch so verstanden, die Betreuungsquoten stiegen steil an (7). Eltern, die ihre Kinder später in Einrichtungen geben wollen, sind jetzt benachteiligt: Materiell sowieso und sozial insofern sie auf Unverständnis stoßen, wenn sie ihr Kind erst später in Betreuung geben wollen und es dann noch schwerer haben, einen Platz zu finden. Diese mehrfache Benachteiligung zu untersuchen, wäre eine eigene Studie wert und nötig, um Mehrkindfamilien besser gerecht werden zu können.

(1)  Martin Bujard et al.: Martin Bujard et al.: Kinderreiche Familien in Deutschland. Auslaufmodell oder Lebensentwurf für die Zukunft? Wiesbaden 2019, S. 9-10, S. 58.

(2)  Sabine Andresen, Tatjana Dietz und Dilan Çinar: Mehrkindfamilien gerecht werden. Bedarf im Alltag von Familien mit drei und mehr Kindern, Gütersloh 2022, S. 1, S. 8-9, S. 11 sowie S. 1.

(3)  Martin Bujard et al.: Kinderreiche Familien in Deutschland, a.a.O., S. 32 ff, S. 59.

(4)  Vgl.: Barbara Keddi et al.: Der Alltag von Mehrkinderfamilien – Ressourcen und Bedarfe, München 2010. Anschaulich hierzu: https://www.welt.de/politik/article1711885/Die-Grossfamilie-stirbt-in-Deutschland-aus.html.

(5)  Bei Familien mit drei und mehr Kindern handelt es sich bei 81,4 Prozent um Ehepaare, bei 6,1 Prozent um Lebensgemeinschaften und bei 12,1 Prozent um alleinerziehende Familien. Sabine Andresen et al.: Mehrkindfamilien gerecht werden, a.a.O., S. 28. Grundsätzlicher hierzu: http://altewebsite.i-daf.org/389-0-Wochen-19-20-2011.htmlhttp://altewebsite.i-daf.org/434-0-Wochen-50-51-2011.html.

(6)  Sabine Andresen et al.: Mehrkindfamilien gerecht werden, a.a.O., S. 43 ff., S. 81 ff.  

(7)  Vgl.: Stefan Fuchs: Gesellschaft ohne Kinder. Woran die neue Familienpolitik scheitert, S. 66 ff. und S. 75 ff.

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