Um den Kreislauf des Lebens noch besser erforschen zu können, hat der Nationalpark Kellerwald-Edersee kürzlich einen Rehkadaver im Schutzgebiet ausgelegt. Die Ausbringung des toten Rehs stellt den praktischen Auftakt im hiesigen Nationalpark zu der seit 1. Oktober 2022 bestehenden Kooperation mit der Universität Würzburg als Projektträger dar. Gemeinsam mit zwölf weiteren Nationalparken wird das Förderprojekt des Bundesamts für Naturschutz (BfN) zur Erprobung der Wildtierkadaverbelassung in der Landschaft realisiert. Projektziel ist es, erstmals über alle teilnehmenden Nationalparke hinweg in den verschiedenen Großlandschaften – vom Gebirge über die Mittelgebirge bis hin zu Küstenlebensräumen – standardisiert zu untersuchen, wie Kadaver in den verschiedenen Ökosystemen von Wirbeltieren, Insekten sowie Mikroorganismen wie Bakterien und Pilzen genutzt werden. „Damit soll der Prozessschutz auch bei uns im hessischen Nationalpark um einen wichtigen Aspekt erweitert werden“, sagt Tobias Rönitz, Abteilungsleiter Wildtiermanagement des Nationalparks.

Der Tod gehört zur Natur. Totes Holz und unzählige davon abhängige Pilz- und Käferarten sind den Besuchern unserer deutschen Nationalparke ein gängiger Begriff. Doch welchen Stellenwert nimmt das tote Tier ein? Wenn man über einen längeren Zeitraum beobachtet, wie sich ein totes Tier zersetzt, wird deutlich, wie viel Leben es beherbergt und hervorbringt. Der Kreislauf des Lebens offenbart sich am Aas wie ein Zeitraffer im Vergleich zu der Zersetzung von abgestorbenen Bäumen. Wird Totholz über Jahrzehnte hinweg abgebaut, dauert es bei einem toten Tier oft nur wenige Wochen. Viele verschiedene Artengruppen – vom imposanten Greifvogel über Marder und Aaskäfer bis hin zu Bakterien und Pilzen, die man mit bloßem Auge nicht mehr sehen kann – haben sich auf diesen Energie-Impuls im Laufe der Evolution perfekt eingespielt. Erste Untersuchungen im Nationalpark Bayerischer Wald zeigten 17 Wirbeltierarten, 92 Käferarten, 97 Zweiflüglerarten, 1820 Bakterienarten und 3726 Pilzarten an der toten tierischen Biomasse. „Ein Wildtierkadaver ist somit ein wahrer Hotspot der Biodiversität“, sagt Christian von Hoermann, Projektkoordinator von der Universität Würzburg. „Aas gibt viel mehr Nährstoffe frei als andere tote organische Materie wie Holz oder Blätter.“

Obwohl der Mehrwert für die Artenvielfalt bekannt ist, ist es selbst in Nationalparken bislang kaum im Management vorgesehen, verunfallte Wildtiere im Schutzgebiet zu belassen, um natürliche Prozesse zu fördern. Das soll sich mit dem auf fünf Jahre angelegten BfN-Projekt nun ändern. Über einen Zeitraum von drei Jahren werden jährlich acht natürlich verendete oder bei Wildunfällen tödlich verunglückte und nicht mehr für den menschlichen Verzehr geeignete Rehkadaver an zufälligen Plätzen auf den Flächen der Schutzgebiete belassen. Es wird wissenschaftlich erhoben, welche Arten am Kadaver zu finden sind. Große Aasfresser werden mittels Fotofallen, Insekten mittels Becherfallen, Pilze und Bakterien mit Hilfe von Abstrichen erfasst und genetisch analysiert. „Wir freuen uns, Teil dieses Projektes zu sein, da es den Zersetzungsprozess von Wildtieren in vielen Dimensionen untersucht“, sagt Rönitz. „Denn ob wir es wahrnehmen oder nicht, ist der Tod ein ständiger Teil der natürlichen Prozesse.“ Mit Spannung wird erwartet, welche Erkenntnisse sich aus den Untersuchungen an den Kadavern für den Nationalpark Kellerwald-Edersee und die anderen Nationalparke ergeben werden.

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