Kultur- und Wissenschaftsministerin Manja Schüle: „Vor dem russischen Angriffskrieg gab es rund 10.000 Holocaust-Überlebende in der Ukraine. Zehntausend, die nach ihren traumatischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg seit dem 24. Februar 2022 erneut mit Gewalt, Krieg, Leid, Angst und Tod konfrontiert werden. Einige konnten evakuiert werden, auch nach Deutschland. Aber für einige kam jede Hilfe zu spät. Zum Beispiel für Boris Romantschenko: Er hatte einen Weltkrieg und drei Konzentrationslager überlebt und starb im März 2022 mit 96 Jahren bei einem russischen Bombenangriff auf seine Wohnung in Charkiw. Oder für Wanda Semjonowa Objedkowa: 1941 versteckte sie sich in einem Keller in Mariupol vor der SS – im April 2022 starb sie 91-jährig in einem Keller in Mariupol während der Belagerung durch russische Truppen. Als sie im Sterben lag, stellte sie ihrer Tochter Larissa zufolge nur eine Frage: ‘Warum passiert das?‘“, so Ministerin Schüle. „Diese Frage ist ein Auftrag. Diese Schicksale sind ein Auftrag. Die authentischen und berührenden Stimmen der Überlebenden verstummen mehr und mehr. Nicht nur in der Ukraine Es ist unsere Aufgabe, dass sie nicht endgültig dem Vergessen anheimfallen. Es ist an uns, den Staffelstab zu übernehmen. Das ist es, was die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten seit 30 Jahren macht: faktenbasiertes Erinnern und empathisches Gedenken. Das ist es, was jeder, jede von uns machen kann.“
Axel Drecoll: „Das Jahr 2023, in dem die Gedenkstättenstiftung am 5. Oktober mit einem Festakt ihr 30. Gründungsjubiläum feiert, ist gekennzeichnet von Rückblick und Aufbruch. Wir blicken zurück auf drei erfolgreiche Dekaden, in denen die historischen Orte Below, Ravensbrück und Sachsenhausen zu modernen Gedenkstätten und Museen ausgebaut werden konnten. Andere Einrichtungen wie die Leistikowstraße in Potsdam und die Gedenkstätten in Brandenburg an der Havel wurden neu- oder wiedereröffnet. Rund 15 Millionen Menschen aus aller Welt haben in dieser Zeit die Gedenkstätten besucht.
Die vom Stiftungsrat Ende des vergangenen Jahres gebilligten Zielplanungen für Ravensbrück und Sachsenhausen sowie die bevorstehende Novellierung der Errichtungsverordnung sind Signale des Aufbruchs. Die Zielplanungen legen die inhaltliche und bauliche Weiterentwicklung der Gedenkstätten für die nächsten Jahre fest. Ihre Umsetzung, deren Finanzierung noch weitgehend offen ist, wird in den folgenden Jahren einen Schwerpunkt der Stiftungsarbeit bilden. Mit der neuen Errichtungsverordnung werden die bisherige Treuhandstiftung Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam voll in die Stiftung integriert und die Gedenkstätte Lieberose/Jamlitz neu aufgenommen. Dank der nachhaltigen Unterstützung durch das Land Brandenburg und das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur können hier in der nächsten Zeit eine Leitungsstelle und zwei Pädagogenstellen besetzt werden.
Mit mehreren neuen Anwendungen wie beispielsweise der vor wenigen Tagen freigeschalteten Webapp „Den Dingen auf der Spur“, die junge Menschen zur Beschäftigung mit Gegenständen aus dem KZ Sachsenhausen einlädt, bauen wir unser digitales Bildungsangebot aus. Mit dem Ende 2022 gestarteten Projekt „Campus. Geschichtsräume Berlin-Brandenburg“ wollen wir die lokale Verankerung der Gedenkstätten weiter stärken und den wechselseitigen Wissenstransfer von Gedenkstätten und Wissenschaft in die Region fördern.
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zieht vielfältige Folgen nach sich. Wir unterstützen weiterhin das ‚Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine‘ und engagieren uns für nach Deutschland geflüchtete Kolleginnen und Kollegen der Menschenrechtsorganisation ‚Memorial‘, von der vier Personen derzeit in den Gedenkstätten unserer Stiftung tätig sind. Zudem wirken sich die deutlich gestiegenen Energiepreise auf die Stiftungsarbeit aus. In diesem Jahr war daher eine Anhebung der Gebühren für Vermittlungsformate notwendig, die auch weiterhin nicht die entstehenden Kosten decken.“
Andrea Genest: „Mit der neuen Zielplanung für die Gedenkstätte Ravensbrück wollen wir die Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher stärker auf das ehemalige Häftlingsgelände hinter der ehemaligen Kommandantur lenken. Dazu sollen unter anderem die Fabrikhallen der mechanischen Werkstätten, die als zentraler Ort der Häftlings-Zwangsarbeit ein einzigartiges Baudenkmal darstellen, denkmalgerecht saniert werden. Hier sollen künftig Teile der Hauptausstellung gezeigt werden sowie Räume für die Bildungsarbeit und für Depotzwecke entstehen. Ein besonderes Anliegen ist mir in diesem Jahr die Ausstellung ‚#Stolen Memory‘ der Arolsen Archives, die sich mit den in Arolsen aufbewahrten persönlichen Gegenständen befasst, die Häftlingen bei der Aufnahme ins KZ weggenommen wurden. Mit der Ausstellung wird das Ziel verfolgt, Angehörige ausfindig zu machen, um diese wertvollen Memorabilien an die Familien zurückzugeben. Wir hoffen, dass wir mit der Präsentation im Juli 2023 in der Gedenkstätte Ravensbrück dazu beitragen können.“
Sylvia de Pasquale: „Mit unserem Ausstellungsprojekt über den Maler, Architekten und Psychiatriepatienten Paul Goesch, der 1940 Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg wurde, wollen wir neue Wege gehen, da der Entstehungsprozess der Ausstellung weitgehend partizipativ gestaltet wird. Bei der Themenfindung und Ausgestaltung sollen möglichst viele Menschen einbezogen werden, vor allem auch solche, für die Museen und Gedenkstätten keine vertrauten Räume sind. Im Juni werden in der Johanniskirche in Brandenburg erste Zwischenergebnisse der Workshop-Arbeit gezeigt. Die fertige Ausstellung wird 2024 im Stadtmuseum zu sehen sein.“
Ines Reich: „Die Gedenkstätten Leistikowstraße, Sachsenhausen und Zuchthaus Brandenburg-Görden erarbeiten derzeit gemeinsam die digitale Lernanwendung ‚Das sowjetische Netz der Repression in Brandenburg. Drei Orte – eine Biografie‘. Im Mittelpunkt stehen dabei Verfolgungsschicksale, die mit mindestens zwei der Haftorte verbunden sind. Beim Besuch einer Gedenkstätte können die weiteren Haftstationen, die die betreffende Person durchlief, mit Hilfe der digitalen Anwendung einbezogen werden. So wird traditionelles Lernen am historischen Ort mit digitalen Vermittlungsformen verknüpft. Entlang der Lebensgeschichten lässt sich so ein anschauliches und vielschichtiges Bild der sowjetischen Verhaftungspraxis in der Nachkriegszeit zeichnen.“
Die Besucherzahlen in den Gedenkstätten sind im vergangenen Jahr wieder deutlich angestiegen, in Sachsenhausen auf 355.000 und in Ravensbrück auf ca. 60.000. Zu den Jahrestagen der Befreiung am 23. April erwarten die Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück rund 20 Überlebende aus aller Welt. In der Gedenkstätte Sachsenhausen wird am 21. März die Ausstellung „Auftakt des Terrors“ über die vor 90 Jahren unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung eingerichteten frühen Konzentrationslager gezeigt. Die 16. Sommer-Universität Ravensbrück wird sich vom 28. August bis 1. September mit dem Thema der Zeugenschaft im Zeichen des medialen Wandels beschäftigen.
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