Kuratorin: Blandine Chavanne
Wissenschaftlicher Beirat: Jean-Jacques Lebel

Mit Freund*innen zusammenarbeiten? Für die einen unwägbares Terrain, für die anderen ein großes Experimentierfeld. Die transnationale Ausstellung Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute zeigt vom 13. Mai bis 24. September 2023 im Kunstmuseum Wolfsburg anhand einer Auswahl an faszinierenden Werken aus Literatur, Musik, Malerei, Skulptur, Zeichnung und Film, dass seit dem 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein Freund*innen gemeinsam Kunst entstehen lassen können. Flüchtige Bekannte, enge Vertraute, Freund*innen, Liebespaare oder auch Konkurrent*innen haben unter bestimmten Umständen und zeitlichen Konstellationen ihre produktiven Energien zusammengetan: Salvador Dalí und Luis Buñuel; Nusch und Paul Éluard; William S. Burroughs und Brion Gysin; Georg Baselitz und Eugen Schönebeck; Salomé und Luciano Castelli; Werner Büttner und Martin Kippenberger; Arnulf Rainer und Dieter Roth; Jean Tinguely und Yves Klein; Mike Kelley und Paul McCarthy; Christian Boltanski, Gina Pane und Jean Le Gac; Allan Kaprow, Nam June Paik, Otto Piene, James Seawright, Thomas Tadlock, Aldo Tambellini; Ornette Coleman und sein Free Jazz Double Quartet; Jenny Holzer und Lady Pink; Guerrilla Girls. Diese unterschiedlichen Energien und Perspektiven kamen spontan, flüchtig oder genau geplant zusammen.

Gemeinschaftliches Arbeiten in Duos oder freien Kollektiven ist heute in der Kunst und Wissenschaft sowie in vielen anderen Bereichen Normalität geworden. Im Team werden verschiedene Vorstellungen und Visionen gebündelt. Die Ausstellung Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute untersucht, wie es dazu kommt, dass Künstler*innen sich zu einer Zusammenarbeit entschließen, welche Bedeutung das kollaborative Arbeiten für den kreativen Prozess des Einzelnen hat und welche Herausforderungen damit verbunden sind. Am Beispiel der Surrealist*innen wird deutlich, dass gemeinschaftliches Schaffen nicht immer eine vergnügliche Angelegenheit ist. So hörten sie nicht auf, zu streiten und/oder amouröse Beziehungen miteinander einzugehen, während sie ihre vielleicht wichtigste Entdeckung machten: die vom Zufall, von der Improvisation, der Spontaneität und dem Spiel geprägten Kunstwerke, die sogenannten „cadavres exquis“, welche – durch die geteilte Autor*innenschaft – das Paradigma des genuinen künstlerischen Ausdrucks veränderten. Freundschaften präsentiert eine beeindruckende Auswahl an Cadavres exquis, etwa von André Breton, Yves Tanguy oder auch von Nusch und Paul Éluard sowie vielen weiteren Mitwirkenden, die nicht Dichter*innen oder Künstler*innen waren, sondern anonyme Passant*innen, die sich erst kurz vorher auf der Straße begegnet waren.

Nicht nur im Bereich der „klassischen“ Medien wie Malerei und Skulptur, sondern auch in den Bereichen Film, Musik und Installation entstanden äußerst innovative Gemeinschaftsarbeiten. Experimente wurden wiederholt, wie die surrealistischen filmischen Meisterwerke Un chien andalou und L’Âge d’or von Salvador Dalí und Luis Buñuel eindrucksvoll demonstrieren.

Die Dadaisten erfanden die gemeinsame Aktionskunst, die von der Fluxus-Bewegung und in Happenings weiterentwickelt wurden. Angetrieben von einem gesellschaftspolitischen Verständnis, bündelten Künstler* innen in den 1960er-Jahren – aus der Beat Generation und anderen Bewegungen der Gegenkultur – ihre Kräfte, um den Horror des Kolonialismus, der Folter und der Vergewaltigung anzuprangern. So reagierte 1960 ein internationales Kollektiv mit Wut auf die Folter und Gruppenvergewaltigung einer algerischen Freiheitskämpferin durch französische Besatzungstruppen. Dieser Protest mündete in ein riesiges gemeinsam geschaffenes Gemälde, das Grand Tableau Antifasciste Collectif, das wegen seiner hohen politischen Brisanz 25 Jahre lang von der Polizei in Mailand beschlagnahmt wurde. Der Fall wurde zu einem „cause célèbre“. Bis heute wurde das Werk in zahlreichen wichtigen Museen ausgestellt – sowohl in Europa als auch in Algerien, als ein Widerstandsakt gegen Barbarei. Die Präsentation im Kunstmuseum Wolfsburg wird großzügig unterstützt durch die Volkswagen Group.

Zur selben Zeit attackierten Georg Baselitz und Eugen Schönebeck die gesellschaftlichen Konventionen, indem sie innerhalb ihrer beiden Pandämonischen Manifeste alles, was als hässlich, obszön und blasphemisch empfunden wurde, zu neuen Themen der künftigen Malerei erklärten.

Die sogenannten „Neuen Wilden“, zu denen unter anderem Martin Kippenberger, Werner Büttner und Albert Oehlen gehörten, versicherten sich Anfang der 1980er-Jahre durch das kollaborative Schaffen ihrer gemeinsamen Antihaltung gegenüber der Welt und der etablierten Kunstszene und schufen provokante Werke, die zwischen Größenwahn und Selbstzweifeln oszillierten. Dieter Roth und Arnulf Rainer betranken sich beim gemeinsamen Zeichnen und Malen exzessiv und wurden dabei nicht selten gewalttätig. William S. Burroughs und Brion Gysin dagegen kamen gut miteinander aus, als sie ihre collagenartige Technik der schriftstellerischen, malerischen und filmischen „Cut-ups“ entwickelten.

Auch jenseits des Atlantiks kam es zum gemeinsamen Erschaffen von Kunstwerken, wie Untitled (Don’t Shoot Civilians) von Jenny Holzer und Lady Pink demonstriert: Aus der Kombination von Jenny Holzers typografischem Statement und der Malerei der Graffitikünstlerin Lady Pink ist ein wirkungsmächtiges Bild hervorgegangen, welches auf die chaotischen politischen Zustände und die Gewaltexzesse des nicaraguanischen Bürgerkriegs verweist und zugleich eine Mahnung zur friedlichen Auseinandersetzung darstellt. Die 1985 gegründeten und bis heute anonym agierenden Guerrilla Girls verbünden sich in immer wieder wechselnden Konstellationen, um aus einer feministischen Perspektive den Macho-Imperialismus zu demontieren und mit aktivistischen Mitteln für die Gleichberechtigung von Frauen im Kunstbetrieb einzutreten. Während viele Begegnungen und Freundschaften durch Akteur*innen oder Veranstaltungen des Kunsthandels initiiert und ermöglicht wurden, wendeten sich andere Aktionen und künstlerische Arbeiten explizit gegen den Kunstmarkt.

Die Gedanken hinter der kollektiven Kreativität, wie sie in der Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg gezeigt werden, sind vielfältig. Die Schau präsentiert ein breites Spektrum von Beispielen und erörtert die sozialen und historischen Ereignisse, die für die Produktion der gezeigten Werke entscheidend waren. In einer von Krisen geprägten Zeit verschwimmen die Grenzen zwischen der Kunstwelt und der sogenannten „echten“ Welt. Es erscheint notwendig, die Aufmerksamkeit erneut auf jene künstlerischen Experimente zu richten, welche die Struktur unserer Gesellschaften berühren, dorthin, wo künstlerisches zugleich gesellschaftliches Experimentieren bedeutet.

Die Ausstellung Freundschaften. Gemeinschaftswerke von Dada bis heute ist ihrerseits in gewisser Weise auch Ausdruck einer freundschaftlichen Zusammenarbeit der Kuratorin Blandine Chavanne mit dem Künstler Jean-Jacques Lebel als wissenschaftlichem Beirat. Die Länder der beiden Partnerinstitutionen Frankreich und Deutschland verbinden ebenfalls enge freundschaftliche Bande.

Begleitend zur Ausstellung ist eine umfangreich illustrierte Publikation im Hatje Cantz Verlag erschienen (herausgegeben von Blandine Chavanne und Jean-Jacques Lebel mit Andreas Beitin und Jean-François Chougnet). Das Buch enthält Essays, ausführliche Werktexte und Interviews namhafter Autor*innen, um die Geschichte und Hintergründe der gemeinschaftlich entstandenen Kunstwerke darzustellen (dt. und frz. Ausgabe, jeweils 304 Seiten, ca. 400 Abb., 39 Euro im Shop des Kunstmuseum Wolfsburg).

In Kooperation mit dem Mucem – Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers in Marseille

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