Manchmal muss einiges zusammenkommen, um die Forschung zum Wohl von Menschen ein Stück voranzubringen. So bei diesen beiden Förderprojekten der Klaus Tschira Stiftung (KTS) von Renée Lampe, Professorin für Orthopädie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München (TUM): Sie und ihr Team haben eine Software entwickelt, die helfen wird, die Gefahr von Gehirnblutungen bei Frühgeborenen vorherzusagen. Sie basiert auf mathematischen Modellen zur Berechnung des Blutflusses im frühkindlichen Gehirn und zur Identifizierung von Risikofaktoren. Darüber hinaus hat sie mit ihrem interdisziplinären Team ein Verfahren entwickelt, das mit Hilfe eines 3D-Körperscanners und entsprechender Analyse-Software Kindern und Jugendlichen, die an einer Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) leiden, Röntgenaufnahmen ersparen wird. Beide Förderprojekte sind also wichtige Brückenschläge zwischen Forschung und Praxis.
Hirnblutungen von Frühchen: Maschinelles Lernen soll helfen, das Risiko abzuschätzen
Das Risiko für Frühchen, eine Hirnblutung zu erleiden, ist hoch: Je nach Geburtsgewicht und Schwangerschaftsdauer der vor der 37. Schwangerschaftswoche geborenen Babys, liegt es zwischen 15 und 45 Prozent. Der Schaden kann immens sein und führt in vielen Fällen zu einer lebenslangen Körper- und Mehrfachbehinderung. Oft liegt die Ursache für eine frühkindliche Hirnblutung in der sogenannten germinalen Matrix, einer kleinen Zellschicht im Gehirn, die unter anderem für die Bildung von Neuronen wichtig ist. Diese ist von vielen kleinen und sehr fragilen Blutgefäßen durchzogen. Bei einem normalen Verlauf der Schwangerschaft bildet sich die germinale Matrix ungefähr bis zur 34. Schwangerschaftswoche wieder zurück.
„Wir haben ein mathematisches Modell entwickelt, mit dem der zerebrale Blutfluss im Gehirn im Allgemeinen und in der germinalen Matrix im Besonderen berechnet werden kann“, erklärt Renée Lampe. Mit Hilfe dieses Modells können darüber hinaus Risikokonstellationen identifiziert werden. Zu den Risikofaktoren gehören neben Schwankungen des Blutdrucks auch (Vor-)Erkrankungen der Mutter, sowie das Körpergewicht und der Entwicklungsstand des Kindes. Besonders Schwankungen des Blutdrucks und der Konzentrationen verschiedener Blutgase können einen erheblichen Einfluss auf die kleinen Blutgefäße haben und im schlimmsten Fall dazu führen, dass sie reißen. Um zu überprüfen, wie realistisch die Berechnungen des Blutflusses sind, hat das Münchner Fachkräfteteam aus Mathematik, Physik und Medizin über 6.000 Messungen von 265 Frühgeborenen mit und ohne Hirnblutung zusammengetragen und analysiert.
Als nächsten Schritt strebt das interdisziplinäre Team um die Medizinerin Lampe den Einsatz des Modells in der klinischen Anwendung an. In einer Blindstudie, die in Form einer Doktorarbeit bereits angelaufen ist, wird die Risikobewertung der Software mit der klinischen Einschätzung durch Fachärzte verglichen. „Wir haben unser komplexes mathematische Modell in eine benutzerfreundliche Software überführt und durch Maschinelles Lernen ergänzt“, freut sich die Mathematikerin Irina Sidorenko, die zum Team gehört: „Es ist zauberhaft, an so einer Sache mitzuwirken.“
Skoliose: 3D-Körperscanner als Alternative für Röntgenverlaufskontrollen
Der Goldstandard zur Diagnose einer Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) ist – neben der klinischen Untersuchung – das Röntgenbild. Bei einer Skoliose sind der Verlauf der Wirbelsäule zur Seite verkrümmt und einzelne Wirbelkörper verdreht. Besonders im Falle von neuroorthopädischen Erkrankungen, wie der infantilen Zerebralparese, kann es bereits im Kindesalter zu Wirbelsäulenverkrümmungen kommen. Die Zerebralparese fasst eine Gruppe von Krankheitsbildern zusammen, die auf einer frühkindlichen Schädigung des Gehirns, beispielsweise in Folge einer Hirnblutung, beruhen und zu Störungen von Bewegung, Haltung, Sensorik und Motorik, aber auch zu Sprachstörungen und Epilepsie führen können.
Schwere Formen einer neurogenen Skoliose können so zu Schwierigkeiten beim Sitzen und eingeschränkter Kopfkontrolle bis hin zu Atemschwierigkeiten führen. Die Wahl der Therapien, beispielsweise Physiotherapie, Korsett, oder auch chirurgischer Eingriff, richtet sich nach dem Schweregrad der Skoliose. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen im Wachstum kann die Krankheit schnell fortschreiten. Deshalb sind oft über mehrere Jahre innerhalb kurzer Zeit viele Röntgenaufnahmen erforderlich: „Das ist eine nicht unerhebliche Strahlenbelastung für den sich entwickelnden Körper, insbesondere während des Wachstums“, sagt Kinderorthopädin Lampe.
Mithilfe eines 3D-Körperscanners und komplexer Software kann diese reduziert werden. Dabei wird die durch die Wirbelsäulenverkrümmung verformte Kontur des Oberkörpers analysiert. Der Körperscanner, der an die Sicherheitskontrolle an Flughäfen erinnert, umfährt dazu in etwa 15 Sekunden die zu untersuchende Person und erzeugt ein 3D-Abbild des Oberkörpers, das anschließend analysiert wird. „Dieses Verfahren ist frei von ionisierenden Strahlen, einfach anzuwenden und mobil einsetzbar“, sagt Medizinerin Lampe. Für die Analyse sind anspruchsvolle Algorithmen notwendig. Dabei werden, unter anderem mit Hilfe eines biomechanischen Modells des Brustkorbes und der Wirbelsäule, die individuelle Verkrümmung der Wirbelsäule simuliert und in das Abbild des Oberkörpers des Patienten eingepasst.
Renée Lampe und ihr Team sind sich sicher, dass beide Forschungsprojekte realistische Perspektiven für klinische Anwendungen haben. „Das sind zwei großartige Projekte, die fast exemplarisch verkörpern, wofür die Klaus Tschira Stiftung steht“, freut sich KTS-Geschäftsführerin Lilian Knobel, als die beiden Münchnerinnen in Heidelberg ihre Projekte vorstellen. Vor allem die Zusammenarbeit der verschiedenen Forschungsfelder und der Brückenschlag von der Wissenschaft in die Praxis lassen ihrer Ansicht nach hoffen, dass diese Förderung das Leben von Menschen in Zukunft ein Stückchen besser machen wird.
Die Klaus Tschira Stiftung (KTS) fördert Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik und möchte zur Wertschätzung dieser Fächer beitragen. Sie wurde 1995 von dem Physiker und SAP-Mitgründer Klaus Tschira (1940–2015) mit privaten Mitteln ins Leben gerufen. Ihre drei Förderschwerpunkte sind: Bildung, Forschung und Wissenschaftskommunikation. Das bundesweite Engagement beginnt im Kindergarten und setzt sich in Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen fort. Die Stiftung setzt sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein. Weitere Informationen unter: www.klaus-tschira-stiftung.de
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