Die Phlebologie ist ein attraktives Fach im interdisziplinären Kontext. Durch die Fachverankerung in der Dermatologie, Angiologie und Gefäßchirurgie ist eine besondere Herausforderung, ihre vielfältigen Themen in kompakten Fortbildungsformaten unterzubringen. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. med. Tobias Görge, Münster, wurden viele Facetten dieser Fachbereiche diskutiert. Dazu konnten fast 100 Präsenz- und über 70 Online- Teilnehmer*innen begrüßt werden. Die Veranstaltung überzeugte durch namhafte Referent*innen aus Deutschland, Österreich und Schweden.
I. Gefäßmedizin: Eine Einführung
Mit seinem Vortrag „Anatomie und Physiologie der Gefäßsituation des Beines – ein Meisterwerk der Natur verstehen“ eröffnete ao. Univ.-Prof. Dr. med. univ. Erich Brenner, Innsbruck, das Vortragsprogramm. Anschaulich stellte er den Bauplan und die Entwicklung des Arterien-, Venen- und Lymphsystems des Menschen vor. Darüber hinaus beschrieb der Anatom den Venenstern der Saphena Magna, die verschiedenen Klappen, das Saphena Kompartment und die Perforansvenen. Im Interstitium sorgten Gelbildner (Proteoglykane, Glykosaminoglykane) dafür, dass die Flüssigkeit aus den Kapillaren gebunden würde. Bei einem Lymphödem würde diese allerdings nicht mehr abgebaut und werde immer mehr. So entstünden Lymphödeme mit über 10 Litern als Gel gebundener Flüssigkeit. Wie Ernest Henry Starling bereits 1896 beschrieben habe, gebe es keine kapillare Filtration im Gleichgewichtszustand.
Prof. Dr. med. Birgit Kahle, Lübeck, referierte zu einer Studie, die sich mit Varikosen, CVI und Lympherkrankungen im Kindes- bis jungen Erwachsenenalter befasst. Interessantes Ergebnis bezüglich der Varikosen sei, dass bereits 11- bis 12-Jährige zu 11 % retikuläre Varizen und zu 2,4 % Refluxe der Vena Saphena Magna aufwiesen. Die Refluxe gingen den klinisch sichtbaren Varizen zeitlich voraus. Digitale Photoplethysmographie sei bei Kindern und Jugendlichen weder zur Früherkennung noch zur Erkennung präklinischer Stadien der Varikose geeignet. Bei der Therapie seien eine strenge Indikationsstellung bei unklarer Relevanz und das Prüfen anderer Erkrankungsmuster nötig. Die Gefäß-Spezialistin stellte die erworbenen und die angeborenen Risikofaktoren für Thrombophilie gegenüber. Auffällig sei, dass bei Säuglingen die Nierenvenenthrombose am häufigsten sei und in der Pubertät die Beinvenenthrombose. Mit der Klassifikation primärer Lymphödeme im Kindesalter und der möglichen Diagnostik schloss Prof. Dr. med. Birgit Kahle ihren Vortrag ab.
„Aktuelle Fälle: Wie hätten Sie entschieden?“ fragte Dr. med. Jasmin Woitalla-Bruning, Hamburg, und stellte vier interessante Fälle aus dem Klinikalltag vor. Am zweiten Tag nach der Venen-OP hätten auftretende Rötungen und ein allergisches Kontaktekzem auf eine Allergie hingedeutet. Ein umfangreicher Test hätte eine seltene Allergie gegen die Lokalanaästhesie bestätigt. Auch ein Fehler des medizinischen Personals wie eine abgebrochene Instrumentenspitze könne zu Komplikationen führen. Neben der operativen Entfernung seien eine offene Kommunikation mit den Patient*innen und die Rückmeldung an den Hersteller entscheidend. Bei unklaren Symptomen führten ein Denken über den Tellerrand hinaus, Hinterfragen des Offensichtlichen und weitere Befunde zur richtigen Diagnose.
II. Die Zirkulation dreht durch
Den zweiten Teil des Symposiums läutete Dr. med. Jana Schäfer, Bonn, mit dem Vortrag „Kompression bei entzündlichen Erkrankungen “ ein. Sie erklärte die Wirksamkeit der Kompressionstherapie bei verschiedenen Diagnosen wie beispielsweise einem akuten Erysipel, Livedovaskulopathie, Psoriasis oder Erythema nodosum. Bei der Ulceration, Pyodema gangrenosum, solle mit niedriger Kompression gestartet werden. Bei einer Leukozytoklastischen Vaskulitis sei das Voranschreiten der Erkrankung mit Kompression zu verhindern. Auch das Ödem bei einer Necrobiosis lipoidica könne dank des positiven Effekts auf die Venen reduziert werden. Bei einer Sarkoidose, die die Lymphknoten betreffe, sei mit Kompression behandelbar. Ihre Erläuterungen untermauerte die Phlebologin und Dermatologin mit diversen Studienergebnissen.
Anschließend widmete sich Prof. Dr. med. Rolf Mesters, Münster, der „Verdachtsdiagnose Gerinnungsstörung – Infos aus der Praxis für die Praxis“. Jede*r Zehnte habe eine Gerinnungsstörung. Die drei Hauptrisikofaktoren für Thrombosen seien erhöhte Gerinnbarkeit, Gefäßwandverletzung und verlangsamter Blutfluss. Eine Thrombophilie-Diagnostik solle mit wenigen Ausnahmen wie dem Verdacht auf Antiphospholipidsyndrom nicht in der Akutsituation durchgeführt werden. Bei arteriellen Thromboembolien mit klassischen cardio-vasculären Risikofaktoren spielten thrombophile Raumforderungen eine untergeordnete Rolle. Thrombophile Diagnostik solle unter stabiler Antikoagulation erfolgen. Interferenzen durch Antikoagulantien seien hier speziell zu beachten. Bei unprovozierten venösen Thromboembolien riet der Hämostaseologe, das Krebsfrüherkennungsprogramm zu aktualisieren. Beim Antiphospholipidsyndrom, insbesondere triple-positiv, solle statt einer DOAK (direkte orale Antikoagulation) ein Vitamin K-Antagonist (Phenprocoumon oder Warfarin) eingesetzt werden.
Mit dem Thema „Eine spannende Blick-Diagnose aus der phlebologischen Sprechstunde – seltene Erkrankungen oder selten erkannt?“ lenkte Dr. med. Julia Schmitz, Münster, den Fokus auf eine relativ seltene Erkrankung. Eine 12-jährige Patientin habe sich mit weißlichen Flecken an den Extremitäten, Schwellungen, Rötungen, Wärme und Juckreiz vorgestellt. Bei einem Stehtest hätte das Mädchen bereits nach 20 Sekunden erythematöse Maculae und eine livide Verfärbung gezeigt – Diagnose Bascule Syndrom. Zur Abklärung hinsichtlich eines Tachykardie-Syndroms werde der Tilt-Test empfohlen. Zur Therapie des Bascule Syndroms würden bei Bedarf Antihistaminika gegeben und eine leichte Kompressionstherapie angewendet.
Dr. med. Carolin Mitschang, Münster, gab dem Auditorium eine Einführung in das Thema der „Sklerotherapie – was, wie, wann, für wen?“. Wichtige Säule der Therapie bei Varizen sei die Sklerosierung. Sie sei das planvolle Ausschalten eines Venensegments durch gezielte Injektion eines Verödungsmittels. Durch den ausgelösten Venenwandschaden und die Thrombosierung folge eine gewollte Sklerosierung. Die Flüssig- oder Schaumsklerosierung erfolge in Deutschland mit Polidocanol, das im Liegen infiltriert werde. Die Kontrolle vor, während und 2-4 Wochen nach der Behandlung sei fester Bestandteil der Behandlung. Prinzipiell seien alle Arten von Varizen so behandelbar. Eine europäische Leitlinie nenne als Obergrenze für den Venendurchmesser 6 mm. Die Dermatologin/Phlebologin empfahl die Aufklärung der Patient*innen über die Nebenwirkungen. Schwerwiegende Komplikationen seien meist nur Einzelfälle. Häufig wären Matting (Entstehen von Besenreisern), kleine Hautnekrosen und Hyperpigmentierung, die nach bis zu 6 Monaten aber meist wieder verschwunden sei.
III. Gefäßmedizin: Praktische Annäherung
Mit seinem Vortrag „Venöse Thrombektomie – unsere Indikationen und Technik“ eröffnete Dr. med. Ahmed Murtaja, Münster, den dritten Programmteil. Die Antikoagulation verhindere den Fortschritt, die Embolisation und die Thrombusrezidive. Geeignete Behandlungsverfahren seien lokale Thrombolyse, mechanische Thrombektomie und pharmakomechanische Thrombektomie. Die Studienlage dazu sei eher schlecht. Die europäische Leitlinie überlasse den Behandelnden die Wahl der Therapie. Das A und O bei der venösen Thrombektomie sei die Patientenselektion. Nur junge Patient*innen mit geringer Blutung und frischer Klinik profitierten von diesem Eingriff. Behandlungsspezifische Risiken, insbesondere Blutungen, müssten beachtet und angesprochen werden. Eine effektive Entfernung des thrombotischen Materials solle innerhalb von 14 Tagen erfolgen. Eine Thrombektomie habe keinen Einfluss auf die Entscheidung und Dauer der Antikoagulation. Die Therapie solle interdisziplinär besprochen werden – abhängig vom Setting der Klinik.
Krankenschwester und Wundexpertin Kerstin Protz, Hamburg, zeigte in ihrem Vortrag „Patienten-individuelle Kompressionstherapie – Entstauung effektiv und selbständig?“, dass sowohl Pflegekräfte als auch Ärzt*innen kaum in der Kompressionstherapie ausgebildet würden und sich somit keine Standards etablierten. Die Praxis gehe an der AWMF-Leitlinie deutlich vorbei. Die in Deutschland vorwiegend praktizierte Therapie mit Kurzzugbinden werde meist fehlerhaft ausgeführt. Nur 12 % der Behandelnden erwirkten einen therapierelevanten Druckwert. Die Binden verlören bereits nach 30 Minuten signifikant an Druck. Mehrkomponentensysteme und Medizinische adaptive Kompressionssysteme träfen den Druck besser, der Zeitaufwand zum Anlegen sei geringer und sie würden ein besseres Tragegefühl erzeugen. Ein Klettsystem ermögliche eine einfache Druckanpassung während der Entstauung und das Anlegen durch Patient*innen oder Angehörige.
Welche Vor- und Nachteile die Arbeit als Klinik- und niedergelassene*r Arzt*Ärztin mit sich bringe, stellte Dr. med. Andreas Dietrich, Gmund am Tegernsee, in seinem Vortrag „Phlebologie in Klinik und Praxisalltag“ gegenüber. In der Klinik seien spannendere Fälle, interdisziplinäre Zusammenarbeit, größere finanzielle Sicherheit, weniger Verwaltungstätigkeit und Sicherheit bei Erkrankung oder Schwangerschaft von Vorteil, wechselnde Patienten, Schicht-/Wochenendarbeit, unflexible Arbeitszeiten, rigide Arbeitsstrukturen und eingeschränktes Leistungsprinzip durch Tarifverträge von Nachteil, so der Phlebologe. In den Praxen seien Autonomie, individuelle Abläufe, Aufbau eines Patientenstamms, mögliches höheres Einkommen, verschiedene Niederlassungsoptionen und kaum Schicht-/Wochenendarbeit positiv zu bewerten, hoher administrativer Aufwand, höhere Arbeitszeit, alleinige Verantwortung sowie wirtschaftliches Denken und Arbeiten eher negativ.
Associate Prof. Lena Blomgren, Karlskoga, Schweden, gab dem Auditorium einen Einblick in den momentanen nationalen Status: Phlebology: How we do it in Sweden. Bis vor zehn Jahren habe es hauptsächlich offene operative Eingriffe gegeben. Heute machten endovenöse Techniken den Hauptanteil aus. In Schweden herrsche eine Art „Postleitzahlen-Lotterie“, in der die Behandlung eines Krankheitsbildes von der Region abhängig sei. Es gebe weder eine Akkreditierung noch eine phlebologische Facharztausbildung. Eine Langzeit-Studie in der Region Skaraborg zeige, wie die Zahlen von Ulcus cruris und Varikose-Operationen deutlich reduziert werden könnten. Diese Erkenntnisse hätten zu mehr Lobby-Arbeit, zum Aufbau eines nationalen Registers für vaskuläre Operationen und eines Komitees für nationale Richtlinien geführt. Die vielfältigen Empfehlungen aus dieser Studie seien bisher nicht bindend. Noch nicht geklärt sei die Frage, ob eine Akkreditierung von Kliniken und Ärzten angemessen sei.
IV. Die Zukunft beginnt jetzt
Mit dem Vortrag „Lipödem – Update Pathophysiologie und Implikationen der Leitlinie für die Praxis“ läutete Dr. Dr. med. univ. Hans Bayer, Bad Soden, den letzten Teil des Symposiums ein. Die Diagnose der chronischen Erkrankung sei rein klinisch und lasse sich festmachen an der Disproportion, dem Schmerz bzw. Schweregefühl, der Hämatomneigung, dem Ödem und dem Manifestationsalter, das durch hormonelle Umstellung geprägt sei. Stadium und Beschwerden würden nicht korrelieren.
Die kommende Leitlinie würde nicht mehr den BMI bis 34 als Voraussetzung zur Liposuktion bei Stadium III festlegen, sondern den Bauchumfang-Größen-Quotient BGQ bis 60 %. Eine neue kleine Schmerzstudie widerspreche der bisherigen Annahme, dass die inflammatorischen Prozesse den Schmerz verursachten. Der Druck löse laut Studie den Schmerz aus. Die Therapie beim Lipödem bestehe weiterhin aus gesunder Ernährung, Sport, Liposuktion, Kompression, manueller Lymphdrainage und psychologischer Unterstützung. Bei der Absaugung sei die Tumeszenz-Liposuktion Goldstandard der Therapie.
Über die „Operative Versorgung des Ulcus cruris – moderne Therapieansätze“ referierte Dr. med. Dominik Schlarb, Münster. Mit Sekretomen von Plasma- und Fettzellen könne man durch Wachstumsfaktoren Wunden zum Abheilen bringen. Da sich im chronischen Wundgrund keine Rezeptoren für Wachstumsfaktoren mehr fänden, sei ein Débridement nötig. Die Shave-Therapie werde dabei als aktueller Ansatz empfohlen. Vor der Hauttransplantation würde das Gewebe dann noch per Unterdrucktherapie gereinigt. Danach folge eine Spalthautdeckung (0,2-0,3 mm bis 1:1,5 gemesht). Alternativen seien die Reverdin-Plastik, azelluläre Fischhaut und Keratinozytentransplantate. Es bleibe festzuhalten, dass es eigentlich nichts Neues und richtig Modernes gebe. Wichtig sei künftig die Reduktion der Wartezeit, bis nicht heilende Fälle operativ behandelt würden. Die aktuelle Leitlinie spreche von 12 Monaten, die Praxis zeige ca. 16 Jahre.
Über „Wirkweise, Chancen und Grenzen von Kaltplasma“ bei der Behandlung von chronischen und therapie-resistenten Wunden berichtete Dr. med. Kristina Landscheidt, Berlin. Thermisches und nicht-thermisches künstlich erzeugtes Plasma hätte über reaktive Stickstoff- und Sauerstoffspezies, UV-Strahlung und elektrische Felder positive Effekte: Granulation und Epithelisierung, Unterbrechung chronischer Entzündungsprozesse, Wirksamkeit sogar gegen multiresistente Keime, Erhöhung der Mikrozirkulation sowie verbesserte Nährstoff- und Sauerstoffversorgung. Plasma komme momentan zum Einsatz, wenn andere Behandlungen, auch operative Eingriffe nicht erfolgreich gewesen wären. Je nach Wundgrund sei das passende Gerät zu wählen. Die Wunde solle vorher mechanisch debridiert werden. Die aktuelle Leitlinie empfehle die Applikation zwei- bis dreimal pro Woche. Von Vorteil sei die einfache Handhabung ohne Lokalanästhesie, Kühlung und besondere Nachbehandlung, die Schmerzfreiheit und geringe Anwendungsdauer von ca. 2 Minuten. Es seien weitere Studien nötig, um die genaue Wirkweise zu klären und optimale Behandlungsregime zu erstellen. Bis dato sei die Behandlung keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen.
Wie die „Stammzellen-Therapie in der Wundheilung“ angewendet werde, zeigte PD Dr. med. Andreas Kerstan, Würzburg. Dermale Stammzellen enthielten den transmembranösen Rezeptor ABCB5+ MSC. Dieser transportiere verschiedene Moleküle über die Membran, die wiederum hohe Menge Interleukin-1-Rezeptorantagonisten produzierten. So könne der Switch von M1- zu M2-Makrophagen im Wundbereich begünstigt werden. Zwei Studien an Menschen würden die Wirkweise der allogenen ex-vivo expandierten Zellen bestätigen, die über eine Lösung in die chronische Wunde eingeträufelt würden. Die ambulante Therapie von chronisch-venösen Ulzera mit Stammzellen sei genehmigt nach § 4b AMG (Kassenantrag) oder stationär über einen NUB-Antrag. Nach aktueller Datenlage gebe es keine sicherheitsrelevanten Aspekte. Eine randomisierte, Placebo-kontrollierte Phase IIb-Studie (Allo-CVUIIb) laufe aktuell mit über 30 Studienzentren in Deutschland, um weitere Erkenntnisse zu erhalten.
Bei seinen Schlussworten kündigte Prof. Dr. med. Tobias Görge bereits das nächste Münsteraner Gefäß-Symposium am 23.03.2024 an.
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