Die ersten 100 Tage des neuen Senats sind am 4. August erreicht. Herr Wegner (CDU) und Frau Giffey (SPD) sind angetreten, um die Polarisierung in der Stadt zu minimieren. Aber so viel Protest gegen die Senatspolitik wie in den letzten 100 Tagen gab es in Berlin seit Jahren nicht mehr. Wer „Miteinander“ behauptet und „Gegeneinander“ agiert, wird von einer Stadtgesellschaft, die in Vielfältigkeit geübt ist, sofort als Populist*in durchschaut. 

„Neues Miteinander“ ist der Slogan des neuen Senats. Aber statt sich für Dialog und Austausch zu engagieren, stolperte vor allem die CDU einfach los. Diese Taktik stieß auf Zustimmung bei der SPD, Widerspruch war kaum zu hören. Gleich am 15. Juni schickte Senatorin Manja Schreiner (CDU) eine Email an die Bezirke Lichtenberg und Pankow: Sie ordnete an, die „Umsetzung von angeordneten Radverkehrsanlagen vorübergehend auszusetzen“. Dies führte am 16. Juni zur ersten Demonstration gegen den Radwegestopp unter dem Titel #NichtMitUns vor der Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt (SenMVKU). Die Senatorin, die das schwierige Ressort Verkehr wegen ihres Kommunikationstalents erhalten hatte, behauptete nur wenige Tage später, mit der Email nichts zu tun zu haben.

Allein bis heute fanden 21 Demonstrationen statt, auf denen Tausende Berliner*innen gegen die rückwärtsgewandte Verkehrspolitik protestierten. Hinzu kamen leider drei Mahnwachen für getötete Radfahrer*innen: drei von sieben, die auf sicheren Radwegen nicht gestorben wären. Am 21. Juni erklärte die Senatorin dann, alle Radprojekte an Hauptverkehrsstraßen zu „priorisieren“. Diesen Stopp der Planungsumsetzung nannte sie „Atempause“. Sie demonstrierte damit aber nur ihre neuen Prioritäten: Radwegeplanungen nach dem Mobilitätsgesetz sind unter ihrer Führung keineswegs gesichert. Diese Infragestellung des Gesetzes führte nur wenige Tage später zum bisherigen Höhepunkt des Protests: Am 2. Juli taten über 13.000 Teilnehmende ihre Unzufriedenheit kund.

Mittlerweile wurde von der Senatsverwaltung offen die Demontage des Mobilitätsgesetzes nach der Sommerpause angekündigt. Zur Erinnerung: Die SPD hat das Mobilitätsgesetz 2018 und den Radverkehrsplan 2021 mit beschlossen.

Wo steht Berlin nun heute?

  1. Baureife Projekte an Hauptverkehrsstraßen: Frau Schreiner hat von 19 „priorisierten“ Radwegen 16 „freigegeben“ und drei komplett gestrichen: Details sind hier zu finden. Diese Projekte wurden alle von den Vorgängerregierungen angestoßen und geplant. Es besteht die Gefahr, dass durch die Verzögerung Bundesmittel entfallen, denn diese Fördergelder sind an die Fertigstellung der Projekte in diesem Jahr gebunden. 
  2. Nicht baureife Projekte an Hauptverkehrsstraßen: Über diese Projekte weiß die Öffentlichkeit bisher so gut wie nichts: Was wird geplant? Wie weit sind die Planungen? Sind Mittel und Personal vorhanden, um den Hochlauf (wie in Tabelle 7 des Radverkehrsplans unten dargestellt) zu realisieren? Dazu gehören u. a. die Beusselstraße und die Thielallee. Der Fortschritt all dieser Planungen ist unverzichtbar, denn die Vorgaben des Radverkehrsplans steigen jedes Jahr: Dieses Jahr sind 60 km, nächstes Jahr 100 km und 2025 der Bau von 150 km Radwegen allein im Vorrangnetz vorgesehen. Wenn die Senatorin ununterbrochen behauptet, dass sie mehr Radwege als ihre Vorgänger*innen bauen will, kann man nur dazu sagen: Dazu ist sie längst verpflichtet!
  3. Baureife Projekte im Nebennetz in Bezirksobhut: Die Finanzierung dieser Projekte wurde am 20. Juni „ausgesetzt“ und nach wenigen Tagen wieder „freigegeben“. Hier gilt nach wie vor: Die willigen und aktiven Bezirke planen und setzen um (Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg), die unwilligen sind sehr zögerlich bis inaktiv (Lichtenberg, Pankow, Charlottenburg-Wilmersdorf, Steglitz-Zehlendorf, Treptow-Köpenick, Neukölln). Die Bezirke Spandau, Reinickendorf und Marzahn-Hellersdorf pfeifen einfach auf das Mobilitätsgesetz.
  4. Landesweite Projekte wie Radschnellverbindungen und Fahrradparkhäuser: Diese werden von landeseigenen InfraVelo geplant und gebaut und kommen nur sehr schleppend bis gar nicht voran. Diese GmbH ist eng an SenMVKU gebunden. 
  5. Haushaltsmittel: Die Höhe der Mittel für den Radwegeausbau bleibt gleich, wie Frau Schreiner unermüdlich betont: Damit meint sie allerdings „wie im Jahr 2022” (29,5 Millionen Euro). Doch für 2023 sind weit mehr, nämlich 39 Millionen, vorgesehen. In den Jahren 2024 und 2025 stehen also jeweils etwa 29 Millionen Euro zur Verfügung. Laut Radverkehrsplan sind jedoch 200 Millionen Euro in den Jahren 2024/25 für die Umsetzung der Planungen erforderlich. Gelder für die Vorplanungen der Folgejahre, in denen insgesamt zweimal 250 km Radwege allein im Vorrangnetz gebaut werden sollen, sind dabei noch gar nicht eingerechnet. Mit weniger als einem Drittel der erforderlichen Mittel will Manja Schreiner also dreimal so viel bauen – das ist faktisch der Stopp der Schaffung sicherer Radwege.

Das „Miteinander“ war von Anfang an nur ein rhetorisches Mittel, um die Härten der Klientelpolitik zu vertuschen: Ein Radwegestopp wurde nicht Stopp genannt. Ein hastig einberufenes Treffen wurde zum Mobilitätsgipfel hochstilisiert. Die Senatorin verkündet zufrieden, der Haushalt für Radwege bleibe gleich, obwohl er laut Radverkehrsplan erheblich vergrößert werden müsste. Die angebliche Verbändebeteiligung beim Wirtschaftsverkehrsteil des MobG erwies sich als leere Behauptung. Es wird „Verkehrssicherheit für alle“ propagiert, diese dann jedoch auf die schnellere Auflösung von Rückstaus von Kfz an Kreuzungen reduziert – und dabei die entscheidenden Maßnahmen wie Tempo 30 oder gute Fuß- und Radwege ignoriert. Der dringend erforderliche und in Planung befindliche umfassende Ausbau des ÖPNV wird durch „Priorisierung” von U-Bahnlinien ersetzt – der allerdings erst in 30 Jahren kommen soll.

So etwas kann man beim besten Willen weder als zukunftsfähig, noch als Dialog, noch als Miteinander bezeichnen. 

„Wir verlangen Verlässlichkeit und die Einhaltung geltender Gesetze! Die bisherige irreführende und in Teilen Tatsachen verfälschende Kommunikation der Koalition hat erhebliche Zweifel an der Gesetzestreue der „Law & Order“-Partei CDU und der sozialen Authentizität der SPD geweckt. Das soll „Politik für alle“ sein? Ein echtes „Miteinander“ basiert auf ehrlichem Dialog und dem Anerkennen von geltendem Recht und wissenschaftlichen Fakten“, sagt Ragnhild Sørensen von Changing Cities.

Weiterführende Links:
Pressemitteilung zu Haushaltsbeschluss 2024/25 durch den Senat vom 11. Juli:
https://www.berlin.de/…
Informationen zum Monitoring: https://changing-cities.org/…
Informationen zu Changing Cities e.V.: https://changing-cities.org
Bilder zur kostenlosen Nutzung für die Presseberichterstattung:
https://www.picdrop.de/…
Diese Pressemitteilung im Online-Bereich: https://changing-cities.org/…

Über den Changing Cities e.V.

Wir fördern zivilgesellschaftliches Engagement für lebenswertere Städte. Das bislang größte Projekt von Changing Cities e.V. ist der Volksentscheid Fahrrad in Berlin, mit dem es 2016 gelang, die Berliner Verkehrspolitik zu drehen und das bundesweit erste Mobilitätsgesetz anzustoßen. Changing Cities e.V. unterstützt landes- und bundesweit Bürger*inneninitiativen, die sich im Bereich nachhaltige Verkehrswende und lebenswerte Städte einsetzen, mit Kampagnenwissen oder stößt solche Initiativen an. Changing Cities ist als gemeinnützig anerkannt.

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