Die deutsche Sprache ist ein riesiger Schatz. Man schätzt ihn auf 400.000 bis 500.000 Wörter. Zigtausende Komposita (Wortzusammensetzung) und viele Flexionen (Beugungen, also Deklinations- und Konjugationsformen von Substantiven und Verben nicht mitgerechnet) kommen hinzu. Niemand verfügt aktiv über diesen gesamten Schatz. Selbst der wohl größte deutsche Dichterfürst, Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1831), nutzte aktiv „nur“ rund 90.000 der auch damals schon 400.000 bis 500.000 Wörter. In dem 2001 entwickelten „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER)“ für den Erwerb einer Sprache mit seinen sechs Stufen (A1, A2, B1, B2, C1, C2; siehe weiter unten) geht man von einem aktiven Wortschatz von 500 Wörtern (Stufe A1) bis 16.000 Wörtern (Stufe C2) aus. Beim gebildeten Deutschen heißt das, dass er bis zu 16.000 Wörter aktiv nutzt und 50.000 bis 100.000 passiv/rezeptiv versteht.

Wie aber schaut es mit dem Sprach- und Wort-„Schatz“ der heranwachsenden Generation aus? Gewiss wird dieser Schatz von Lebensjahr zu Lebensjahr größer. Aber immer seltener groß genug. Der Reichtum der Sprache wird nicht mehr ausgeschöpft. Das hat mediale, volkspädagogische und schulpädagogische Gründe.

Zu den medialen Gründen gehört, dass junge Leute immer weniger lesen, sich immer häufiger nur kleine Informationshäppchen „downloaden“, sich in den (a)sozialen Medien (WhatsApp, Facebook, X/Twitter, Instagramm und Co.) mit nur noch rudimentärem Wortschatz und grob vereinfachter Grammatik sowie Syntax bewegen.

Zu den volkspädagogischen Gründen gehören bestimmte Sprechverbote. Damit sind Wörter gemeint, die als „politisch inkorrekt“ gelten und tunlichst gemieden werden sollen: Schwarze, Mohr, Hexe, Zigeuner, Indianer, Eskimo, Intelligenz, Disziplin, Gehorsam, Elite, Begabung, faul, dumm … Orwells „Wahrheitsministerium“ lässt grüßen. Angesagt ist „virtue signalling“: Seht her, ich bin tugendhaft, ich vermeide diese Tabu-Wörter.

Zu den schulpädagogischen Gründen zählen die verkorkste Rechtschreibreform und der dramatische Abbau des „Grundwortschatzes“, über den Zehnjährige am Ende der 4. Klasse aktiv verfügen können sollen. Mit der Rechtschreibreform wurden mit einer Favorisierung der Getrenntschreibung gegenüber der Zusammenschreibung die Differenzierungsmöglichkeiten gekappt, so dass man nicht mehr unterscheiden kann bzw. muss zwischen „wohl bekannt / wohlbekannt“, „viel versprechend / vielversprechend“, „allein stehend / alleinstehend“ oder „sitzen bleiben / sitzenbleiben“ usw. Seit es die Achtundsechziger gab, galt Rechtschreibung als Herrschafts- und Selektionsinstrument, dem der Garaus zu machen sei. Was Wunder, dass sich Reformer aufmachten, diese Bastion zu schleifen. Dabei hätte es doch eine andere Möglichkeit gegeben: die Rechtschreibung in den Schulen wieder ernst zu nehmen und konsequenter zu üben, anstatt sie zu diskreditieren. Kniefälle also vor einer fortschreitenden Legasthenisierung der Gesellschaft? Folge übrigens: Die Zahl der Rechtschreibfehler hat sich binnen vier Jahrzehnten fast verdoppelt! Denn der große Konstruktionsfehler der Rechtschreibreform war, dass man diese Reform nicht an linguistischer Logik, sondern am Sprachhorizont von Grundschülern ausrichtete.

Am gravierendsten freilich ist die curricular, also qua Lehrplan vorgegebene, regelrechte Eindampfung des „Grundwortschatzes“. Noch vor rund drei Jahrzehnten verlangten die Bundesländer von den zehnjährigen Schülern einen aktiven und orthographisch beherrschten Grundwort-„Schatz“ an 1.100 bis 1.300 Wörtern. Heute sind es nur noch gut 500 Wörter (Bayern, Rheinland-Pfalz, NRW) bis 700/800 Wörter (Brandenburg, Baden-Württemberg). Gleichzeitig dürfen Kinder – in Baden-Württemberg etwa – mit der „Gendersprache“ traktiert werden: mit „Schüler/_:*Innen“, mit „Fußgehendenbrücke“, „Backendenhandwerk“. Ideologiekritisch betrachtet, ist dies nichts weniger als der Versuch, die Gesellschaft über Sprachregelungen umzukrempeln.

Mit anderen, mit harten Worten: In der Folge bekommt das nachwachsende Sprachvolk den Sprachverfall quasi mit der pädagogischen Muttermilch und mittels medialer Zwangsernährung eingeflößt. Aber auch hier gilt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Dieses gewichtige Wort stammt von Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951). Dass diese Grenzen indes immer enger werden in diesem Lande, daran wird an allen Ecken und Enden eifrig gearbeitet.

Wo aber Sprache verödet, da verödet Kommunikation, da veröden Denken und Empfinden. Denn Sprache ist Medium für die Entfaltung von Gedachtem, Reflektiertem, von Innerlichkeit, von Gefühlen, Emotionen und damit Ausdruck der Gesamtpersönlichkeit. Sprache ist Chance zur Entlastung: Nur wenn man Bedrängendes verbal ausdrücken kann, kann man sich davon entlasten. Sprache ist das wichtigste und einzige humane Instrument der Konfliktlösung. Wo Sprache versagt, da regiert die Faust – im zwischenmenschlichen und im politischen Bereich. Erst mit Sprache ist die Teilhabe an der politischen Öffentlichkeit möglich. Wer Sprache beherrscht, durchschaut leichter den Missbrauch von Sprache in Reklame und Propaganda. Noch einmal an dieser Stelle: Dass diese Grenzen immer enger werden in diesem unserem Lande, daran wird an allen Ecken und Enden eifrig gearbeitet.

Die Eindampfung des Grundwortschatzes geht zudem einher mit einer Reihe anderer sprachpädagogischer Sünden. Denn auch sonst ist in der Schule sprachlich und literarisch mehr und mehr Minimalismus angesagt. Beispiele: die geringe Stundenausstattung des Faches Deutsch zwischen der ersten und zehnten Klasse: nur 16 Prozent der Wochenstunden; die Kürzung des Deutschunterrichts in der Grundschule zugunsten von Früh-Englisch; der Verzicht auf das Auswendiglernen von Gedichten; das Zustöpseln von Lückentexten anstelle des Verfassens von zusammenhängenden Antworten; die phonetische Schreibweise (Schreiben nach Gehör). Falsch verstandene Kreativität ist angesagt! Ferner hat im Deutschunterricht literarisch eine „Furie des Verschwindens“ gewütet. Entrümpelungsdebatte heißt das, und die Entrümpler geben sich kinderfreundlich, weil man ja den Kleinen nicht zu viel zumuten dürfe. 

Und das sind in der Folge die Realitäten

Eine aktuelle Studie des Berliner Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) belegt die Folgen: Ein Viertel bis ein Drittel der Neuntklässler bewegt sich im Fach Deutsch unterhalb der Mindeststandards. Die besonders problematische Gruppe mit einem Anteil von 38 Prozent an allen Schülern sind junge Leute mit Migrationshintergrund.

Die Katastrophenmeldungen über die „Bildungsnation“ reißen also nicht ab. Und zwar seit rund zwanzig Jahren. Egal ob die Tests Pisa (Programme for International Student Assessment), Iglu (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, Vera (VERgleichsArbeiten) oder IQB-Bildungstrend heißen. Und egal, ob es um Grundschüler oder Neuntklässler geht. Offiziell heißt es: Eine verstärkte Zuwanderung, Lehrermangel und zuletzt die pandemiebedingten Schließungen seien dafür verantwortlich. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn: Die Anforderungen wurden heruntergefahren (siehe oben!), die Schüler wurden trotzdem mit gefällig guten Noten belohnt, und das Abitur wurde zur Discounterware.

Zurück zum aktuellen IQB-„Bildungstrend“, dessen Ergebnisse Mitte Oktober 2023 veröffentlicht wurden: Es ist dies die dritte Studie dieser Art nach 2009 und 2015 unter Neuntklässlern. Und zwar für die Fächer Deutsch und die erste Fremdsprache, in der Regel also Englisch. Die Testerhebungen hatten zwischen April und Juli 2022 stattgefunden. Es waren im Fach Deutsch 32.990 Schüler aus 1.610 Schulen aller 16 deutschen Länder beteiligt. Im Fach Englisch umfasste die Stichprobe 31.159 Schüler aus 1.542 Schulen. In den Ländern Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz sowie dem Saarland wurden darüber hinaus im Fach Französisch insgesamt 2.489 Schüler aus 142 Schulen getestet. 

https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2022/Bericht

Das katastrophale Hauptergebnis: Der Anteil der Neuntklässler, die im Fach Deutsch die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss (MSA) verfehlen, ist seit 2015 stark angestiegen: 33 Prozent bleiben beim Lesen unter den Mindestanforderungen, im Zuhören sind es 34 Prozent und in der Orthografie 22 Prozent. Nachfolgend für das Fach Deutsch die wichtigsten Einzelergebnisse, wie sie von der Kultusministerkonferenz (KMK) zusammengefasst wurden. www.kmk.org/aktuelles/artikelansicht/iqb-bildungstrend-2022-kompetenzrueckgaenge-in-deutsch-aber-weitere-fortschritte-in-englisch.html

Im Fach Deutsch erreichen oder übertreffen 49 Prozent der Neuntklässler, die den Mittleren Schulabschluss (MSA) anstreben, den Regelstandard im Lesen für diesen Schulabschluss. Im Zuhören sind es 53 Prozent und in Orthografie 65 Prozent. Das bedeutet gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 im Lesen einen signifikanten Rückgang um 9 Prozentpunkte, im Zuhören um 19 Prozentpunkte und in Orthografie um 12 Prozentpunkte.

Beim Erreichen der Mindeststandards für den Ersten Schulabschluss (ESA) ergibt sich folgendes: Im Fach Deutsch verfehlen etwa 15 Prozent der Neuntklässler die Mindeststandards für den ESA im Bereich Lesen, fast 18 Prozent im Bereich Zuhören und rund 8 Prozent im Bereich Orthografie. Im Lesen bedeutet das gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 einen signifikanten Anstieg von 6 Prozentpunkten, im Zuhören von 10 Prozentpunkten und in Orthografie von 4 Prozentpunkten.

Die Mindeststandards für den MSA werden in der Gesamtgruppe aller Neuntklässler im Fach Deutsch im Lesen von 33 Prozent der Jugendlichen nicht erreicht. Im Zuhören sind es 34 Prozent, in Orthografie sind es 22 Prozent. Im Lesen ergibt sich damit gegenüber 2015 ein signifikanter Anstieg von 9 Prozentpunkten, im Zuhören von 16 Prozentpunkten und in Orthografie wiederum von 9 Prozentpunkten. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Schüler in der neunten Klasse mehr als ein Jahr vor dem MSA-Abschluss getestet wurden und insofern diese Leistungen zum Testzeitpunkt auch noch nicht erbringen konnten.

Setzt man die Kompetenzwerte des Vergleichsjahres 2015 jeweils auf einen Mittelwert von 500 Punkten, verlieren die Neuntklässler im Jahr 2022 gegenüber 2015 bundesweit betrachtet im Fach Deutsch im Lesen im Schnitt 25 Kompetenzpunkte, im Zuhören 44 Punkte und in Orthografie 31 Punkte. (TE-Anmerkung: 40 bis 50 Kompetenzpunkte entsprechen in etwa einem Schuljahr!)

Die Ergebnisse im Fach Deutsch variieren zwischen den Ländern teilweise erheblich. So liegt beispielsweise der Anteil der Neuntklässler, die im Fach Deutsch im Lesen den Mindeststandard für den ESA verfehlen, je nach Land bei 8 bis 24 Prozent.

So weit, so gut – so weit, so schlecht?

Die diagnostizierten Ergebnisse sprechen für sich. Sie sind zum erheblichen Teil die Folge einer falsch verstanden Pädagogik – einer Pädagogik, die die Ansprüche gerade im sprachlichen Bereich aus Gründen einer populistischen Erleichterungspädagogik oder einer ideologisch motivierten Egalisierungspolitik heruntergeschraubt hat.

Zum anderen sind diese defizitären Ergebnisse aber auch Folge einer politisch gewollten Zuwanderungspolitik, mit denen unsere Schulen maßlos überfordert sind. Im Detail:

Im Jahr 2022 weisen insgesamt 38 Prozent der Neuntklässler in Deutschland einen Zuwanderungshintergrund auf, wobei dieser Anteil deutlich zwischen den einzelnen Ländern schwankt (von rund 12 Prozent bis über 57 Prozent). Das ist ein Plus von 9 Prozentpunkten gegenüber 2015 und ein Plus von 11 Prozentpunkten gegenüber 2009. (Anmerkung: Der Migrantenanteil hat sich also vor allem nach 2015 massiv erhöht. Stichwort: Grenzöffnung!)

Der Anteil der Familien, in denen nie oder selten Deutsch gesprochen wird, ist deutlich gestiegen: auf 32 Prozent im Jahr 2022. Diese Entwicklung hat sich stark beschleunigt; während der Anteil zwischen 2009 und 2015 nur um einen Prozentpunkt gewachsen war, nahm er zwischen 2015 und 2022 um 11 Prozentpunkte zu. Jugendliche, die in ihren Familien nur manchmal oder nie Deutsch sprechen, zeigen im Schnitt ein geringeres Kompetenzniveau im Lesen und Zuhören als Jugendliche, die in ihren Familien immer Deutsch sprechen.

Sowohl im Fach Deutsch als auch im Fach Englisch zeigen sich für Jugendliche mit Zuwanderungshintergrund signifikante Rückstände. Diese fallen im Fach Deutsch am stärksten aus. Die Ausprägung dieses Negativtrends unterscheidet sich zwischen den einzelnen Ländern erheblich.

Insbesondere unter den selbst zugewanderten Jugendlichen (erste Generation) sind die Kompetenzstände im Fach Deutsch gegenüber dem Vergleichsjahr 2015 deutlich zurückgegangen (-46 Kompetenzpunkte im Lesen, -62 Punkte im Zuhören, -53 Punkte in Orthografie).

Zurück zum „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER)“: Die IQB-Ergebnisse zeigen, dass sich viele Neuntklässler, zumal diejenigen mit Migrationshintergrund, auf den untersten Stufen dieses Referenzrahmens bewegen.

Auf A1/A2-Basis kann Bildung jedenfalls nur rudimentär gelingen. Nicht nur im Fach Deutsch, denn mangelndes Sprachverständnis und mangelndes sprachliches Ausdrucksvermögen (siehe schmalen Wort-„Schatz“) hinterlassen in allen Fächern ihre negativen Spuren. Das gilt auch für den Erwerb einer Fremdsprache, der nur gelingen kann, wenn die muttersprachliche Basis eben auf mehr als auf einer wackeligen Alphabetisierungsbasis steht. Zudem wissen wir seit den ersten Pisa-Studien, dass ab einem Anteil von 20 bis 30 Prozent an Kindern mit Migrationshintergrund das Niveau einer ganzen Klasse bzw. Schule sinkt.

Bildungsnation Deutschland? Oder nur noch vormalige (!) Bildungsnation? Außer man ist bereit, erstens die Ansprüche wieder zu heben und zweitens von Kindern „nichtdeutscher Herkunftssprache (NDH)“ vor der Einschulung einen Sprachtest zu verlangen und die Kinder im Falle eines Nicht-Bestehens zu einem Jahr hochintensiven Deutschlernens zu verpflichten. Allerdings muss die durchaus zu erwartende Weigerung mancher Eltern, ihre Kinder in ein solches Jahr zu schicken, notfalls ordnungspolitisch sanktioniert werden, zum Beispiel mit Folgen für den Transfer von Sozialleistungen. Anders kommt die (vormalige) Bildungsnation aus diesem Dilemma nicht mehr heraus. Denn mit dem einzigen „Rohstoff Geist“, den Deutschland hat (hatte?), ist es sonst nicht mehr weit her.

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