Das Ergebnis: Die Ukraine sollte wie auch die elf Staaten, die im Zuge der EU-Erweiterung von 2004-2013 Mitglieder wurden, erfolgreich integriert werden können. Zwei neue Studien der Bertelsmann Stiftung und des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) bieten neutrale und detaillierte Analysen des wirtschaftlichen Potentials sowie der regionalen Unterschiede des Landes, das seit Juni 2022 EU-Beitrittskandidat ist.
Viktor Orbán beklagt, die Ukraine sei zu groß, zu arm und nicht EU-bereit. Dem stehen drei wesentliche Erkenntnisse der Studie Outlier or not? The Ukrainian economy’s preparedness for EU accession (bertelsmann-stiftung.de) gegenüber:
1. Die Ukraine ist kein Außenseiter. Volkswirtschaftlich wird sie die EU nicht überfordern.
Die wirtschaftliche Größe der Ukraine ist mit Rumänien, Tschechien oder Ungarn vergleichbar, als diese der EU beigetreten sind. Das Wohlstandsniveau, relativ zur EU, entspricht dem Lettlands, Litauens oder Rumäniens zum Zeitpunkt der Beitrittsgesuche. Würde die Ukraine heute EU-Mitglied, vergrößerte sich die Wirtschaftsleistung der Union um ein Prozent und ihre Bevölkerungszahl um neun Prozent, ein ähnlicher Effekt wie beim Beitritt Polens 2004.
2. Die Ukraine ist nicht grundsätzlich ärmer und weniger leistungsfähig als frühere EU-Kandidaten.
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Ukraine ist vergleichbar mit jener der mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten (MOEL) zum Zeitpunkt ihrer Beitrittsgesuche oder Aufnahme in die EU. Diese Potentiale sind mit dem Krieg nicht völlig verloren gegangen. In den Jahren vor dem russischen Überfall wuchs das BIP der Ukraine teilweise schneller als jenes der EU. „Das deutet darauf hin, dass die Ukraine die Fähigkeit hat, nach Kriegsende ähnlich wie seinerzeit die neuen EU-Mitglieder aufzuholen, wobei im Mittelpunkt des ukrainischen Aufholprozesses die grüne und digitale Transformation stehen muss“, sagt Richard Grieveson, Co-Autor der Studie und stellvertretender Direktor des wiiw.
3. Die institutionellen Standards der Ukraine sind vergleichbar mit Bulgarien und Rumänien, als diese in den neunziger Jahren ihre Beitrittsgesuche stellten. Legt man das Reformtempo früherer Beitrittsländer zugrunde, würde die Ukraine in etwa zehn Jahren institutionell aufgeholt haben. Zudem lässt die aktive ukrainische Zivilgesellschaft selbst während des Krieges nicht nach, Reformen einzufordern. Ebenso haben die EU-Partner der Ukraine aus Erfahrungen gelernt,etwa Konditionalität besser einzusetzen.
Die regionale Neuorientierung der ukrainischen Wirtschaftstätigkeit seit 2014 hat die im Februar 2022 begonnene Invasion noch einmal verschärft, der umfassende Krieg Industrien unterschiedlich getroffen. Die Studie "Ukraine’s economic reconstruction Addressing territorial inequalities, consolidating regional policy and reaping the benefits of EU integration" erforscht die regionalen Industriestrukturen, das Potential für Spezialisierung und Wachstum sowie Schwächen, um Maßnahmen für die Wirtschaftsentwicklung zu identifizieren.
Modernisierung und Transformation der ukrainischen Wirtschaft erfordern eine gezielte Industrie- und Regionalpolitik:
1. Für den Wiederaufbau sowie wirtschaftliches Aufholen wird entscheidend sein, dass Unterstützung passgenau erfolgt und mit Strukturreformen einhergeht, so dass die identifizierten regionalen Innovations- und Wachstumspotentiale schnell genutzt werden können. Besonderes Augenmerk verdient die Verwaltungskapazität auf der Grundlage guter Regierungsführung und ordnungsgemäßer Verwaltungsprozesse. Oberhalb eines bestimmten Investitionsniveaus ist dies wesentlich für die effektive Absorption von Mitteln und wirtschaftliche Entwicklung.
2. Auf absehbare Zeit werden der Osten und Süden der Ukraine in stärkerem Maße von öffentlichen Investitionen und Transferleistungen abhängig sein. Westliche Regionen der Ukraine verfügen über das Potential, Kapital von privaten inländischen und internationalen Investoren anzuziehen, für die östlichen und frontnahen Regionen besteht die Gefahr, in eine Armutsfalle zu geraten.
3. Die EU sollte ihren wirtschaftlichen und finanziellen Einfluss einsetzen, komparative Vorteile weiterzuentwickeln und die Voraussetzungen für die Integration der Ukraine in europäische Wertschöpfungsketten in einer Zeit sich wandelnder Investitionsprioritäten zu schaffen. Sie kann hierbei Erfahrungen aus der EU-Kohäsionspolitik nutzen, um den Wiederaufbau in Richtung eines wirtschaftlich diversifizierten und die regionalen Potentiale und Schwächen einbeziehenden Wachstums zu lenken. Der Nationale Wiederaufbauplan der Ukraine und die Zielsetzungen der EU-Kohäsionspolitik weisen deutliche Parallelen auf.
Der Beitrittsprozess der Ukraine ist kein Sonderweg, aber Impuls und Rahmen für Reformen
Die Ukraine muss also alte Schwächen überwinden, Institutionen umfassend reformieren und ausländische Direktinvestitionen anziehen, um langfristig im EU-Binnenmarkt konkurrieren zu können. Gleichzeitig müssen die politischen Entscheider der EU-Mitgliedstaaten bereit sein, einer (zukunftsfähigen) EU-Perspektive den Vorzug gegenüber (rückwärtsgewandten) nationalen Interessen einzuräumen, protektionistische Reflexe zurückzuweisen und das in der Ukraine vorhandene Potential zu heben.
Angesichts der politischen Kopenhagen Kriterien ist es unumgänglich, den existentiellen Kampf der Ukrainer:innen für ihre EU-Perspektive anzuerkennen. Hinsichtlich institutioneller Reformen gilt, dass der aktuelle Gipfel über den Beginn des Verhandlungsprozesses entscheidet, nicht über den unmittelbaren Beitritt der Ukraine. „Den Prozess gilt es zu nutzen, um die Ukraine in Stufen an die EU-Mitgliedschaft heranzuführen. Es müssen konkrete Ziele und eine realistische Zeitspanne kommuniziert werden. Nimmt man das Reformtempo früherer Beitrittsländer als Maßstab, kann die Ukraine in zehn Jahren institutionell für den EU-Beitritt bereit sein“, präzisiert Miriam Kosmehl, Senior Expert der Bertelsmann Stiftung und Co-Autorin der Studien. „Eine belastbare Beitrittsperspektive wird die reformorientierten ukrainischen Kräfte in schwierigen Aushandlungsprozessen stützen“, ergänzt Kosmehl.
Zusatzinformationen:
Die Bertelsmann Stiftung untersucht im Rahmen des Projekts „Souveränes Europa: Strategisches Management globaler Verflechtung“ die sich verschärfenden Rivalitäten auf internationaler Ebene, die die EU unter Druck setzen. Der Erfolg des europäischen Modells, das auf intensiver politischer und wirtschaftlicher Verflechtung in multilateralen Systemen beruht, wird durch die zunehmende Instrumentalisierung kritischer Abhängigkeiten gefährdet. Im Fokus des Projekts steht deshalb, wie die EU ihre Handlungsfähigkeit durch die strategische Steuerung ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten bewahren und ausbauen kann.
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