Manchmal ist es wichtig, dass sich einer findet, der Bücher rettet – zum Beispiel Bücher aus der DDR, die noch während und nach der Wende teils blitzschnell entsorgt und auf den Müll geworfen worden waren – als seien sie durch die Ereignisse unbrauchbar geworden. Dem war aber nicht so, wie zumindest einige Menschen erkannten und Rettungsaktionen für DDR-Bücher organisierten. Zu diesen Menschen gehörte Pastor Martin Weskott aus Katlenberg im Hessischen, der „Bücherpastor“. „Literatur gehört nicht auf den Müll“ – mit diesen Worten war Pastor Martin Weskott 1991 gen Leipzig gezogen, weil ihm in der Süddeutschen Zeitung das Foto einer Büchermüllhalde, dem Sekundärrohstoffverwertungshof Plottendorf, aufgefallen war. Im Laufe der Jahre hat sich eine einzigartige Rettungsaktion entwickelt, die weit über die Grenzen Niedersachsens hinaus Beachtung gefunden hat, wie auch auf der Webseite http://www.buecherburg.de/ nachzulesen ist. Für seine Rettungsaktion war Weskott unter anderem mit dem Göttinger Lorbeer und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden.

Und zu den Büchern, die auf diese Weise vor ihrer Hinrichtung bewahrt wurden, gehörte zumindest ein Teil des vierten der insgesamt fünf aktuellen digitalen Sonderangebote dieses Newsletters, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 19.01. 24 – Freitag, 26.01. 24) zu haben sind. Die Rede ist von zwei Erzählungen von Erik Neutsch, die 1998 vom SPOTTLESS-Verlag in einem Buch zusammen herausgegeben wurden. Die Geschichte „Stockheim kommt“ rafft die Ereignisse jenes Augenblicks zusammen, da ein ehemaliger Gutsbesitzer in sein Bördedorf heimkehrt. Der Großvater, ehemals Dorfschmied, wird vom Enkel alarmiert und eilt – die Szene, da man das Gutsland ausmaß und verteilte, noch in bester Erinnerung – zur Gutshaus-Allee, wo er Stockheim dann auch begegnet. „Der Hirt“ ist dagegen älteren Datums, stammt von 1978, packend geschrieben und skizziert mit einer atemberaubenden Geschichte die Tage in den Monaten, die die Bodenreform zur Konsequenz hatten. Und genau diese Erzählung war es auch, die auf die Müllkippe geworfen – und durch den „Bücherpastor“ gerettet worden war. Ob und wie die beiden Texte miteinander zusammenhängen, dazu schrieb Erik Neutsch im Sommer 1998: „Freunde rieten mir, beide Erzählungen gemeinsam in einem Band zu veröffentlichen, da sie sich durchaus vertrügen. Mir scheint es inzwischen ebenfalls so, doch überlasse ich es wie stets meinen Lesern, welche Parallelen zwischen beiden Texten sie ziehen möchten.“

Hutschmerz. Ein Nonsens-Traktat“ von Kristian Pech, erstmals 2012 als Eigenproduktion von EDITION digital veröffentlicht, erweist sich als eine Sammlung von einhundert kurzen Notizen, die gleichsam mit aufgesetzter Narrenkappe geschriebenen wurden. Das Unwahrscheinliche ist wahr, das Wahrscheinliche ist unwahr.

Zwei schöne Geschichten zum Schmunzeln und Nachdenken für Leseanfänger oder die Kleinen zum Vorlesen. Das sind „Der Popanz und Ein Lächeln für Zacharias“ von Joachim Nowotny, erstmals 1986 und 1983 im Kinderbuchverlag Berlin veröffentlicht – beide in einem E-Book.

Autobiografische Züge trägt der erstmals 1990 im Verlag Neues Leben Berlin veröffentlichte Roman „Der weiße Stuhl. Zweiter Versuch einer Rehabilitation“ von Hans-Ulrich Lüdemann, zu dem der Autor anmerkte: „Obwohl Literatur Personen und Charaktere erfinden kann – unbeabsichtigt haben sie irgendwie und irgendwann leibhaftige Vorbilder.“ Ende Juni 1983 erwacht der Schriftsteller Jochen Vierck in einem renommierten Ostberliner Krankenhaus für Querschnittgelähmte, im Volksmund bekannt als „Waldhaus“. Vierck weigert sich strikt, seine Identität anzuerkennen. Stattdessen flüchtet er in das etwas jüngere Ego Jörg Vosslow, Hauptfigur eines gerade abgeschlossenen Romans. Ein SFB-Kameramann, der während der Weltfestspiele 1973 aus privaten Gründen beschließt, im Ostteil Berlins zu bleiben.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute werfen wir einen Blick zurück in die deutsche Geschichte und auf einen unerhörten Vorgang, der in seiner Einmaligkeit dem Wort Demokratie einen ganz anderen Sinn verlieh, allerdings nicht für lange Zeit. Was hatte das Volk so in Rage gebracht?

Erstmals 1990 veröffentlichte der Mitteldeutsche Verlag Halle – Leipzig „Trauergesellschaft. Wie Josef der Zimmermann die Geschichte erlebte“ von Rainer Lindow: Wenn eine Idee zur Staatsdoktrin erstarrt und alles ausgrenzt und bekämpft, was ihr nicht dient, gerät sie früher oder später in eine Krise und kehrt sich gegen sich selbst.

Im Herbst 1989 setzt ein Volk seine Regierung gewaltlos ab. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte einen derartigen Vorgang. Dieses Buch, sieben Jahre davor geschrieben und von Verlagen der DDR aus politischen Gründen abgelehnt, berichtet mit tragikomischen, dokumentarischen und fantastischen Mitteln von den Ursachen, die das Volk auf die Straße brachten. Josef der Zimmermann ist einer aus der jungen Generation, der an den Lügen der traurigen Gesellschaft zu zerbrechen meint. Gezwungen von seiner polnischen Freundin Zofia, kommt Josef der wahren Geschichte seines ertrunkenen Vaters, die verwoben ist mit der Geschichte des polnischen und des jüdischen Volkes, auf den Grund. Darüber vergehen dem Josef drei Leben, die er die Zeit der Finsternis, die Zeit der Zweifel und die Zeit der Heiterkeit nennt. Der Junge erkennt, dass sein Vater schon zum Untergang, zum Abtreten verurteilt war, als er nach seiner Heimkehr aus den Lagern und der polnischen Gefangenschaft Wahrheit zu verschweigen begann. Dass nach der schändlichen Leidenschaft für die Schwester Siglinde, nach dem Zusammenstoß mit der Staatslimousine, nach den Schikanen beim Militär, nach der Liebe zur Frau eines Solidarnosc-Führers, nach dem Leben mit dem auferstandenen Vater und mit dem rachsüchtigen Szymon, der nicht sterben kann, aus Josef dem Narren kein Weiser wird, ist der Wahrhaftigkeit dieses parabelhaften Romans geschuldet.

Das Buch durfte erst acht Jahre nach seiner Vollendung 1990 im Mitteldeutschen Verlag erscheinen. Der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist daran ein gewisser Anteil nicht abzusprechen. Das Erscheinen des Romans ging jedoch in den Vereinigungswirren unter.

Hier ist eine Leseprobe, die Sie in die Welt dieses Buches entführt:

Zofia blieb stehen und sagte zögernd: Manchmal frage ich mich, ob wir das auch aushalten könnten – Krieg und Lager und Bergwerk.

Was mein Alter ausgehalten hat, halte ich auch aus! rief ich.

Nach einem skeptischen Seitenblick sagte sie, das Bitterste für meinen Vater war der Berg. Er spricht nicht gern darüber.

Ich verstand nur Berg und wurde hellwach. Allerdings mahnte mich der Reinfall mit der Badewanne zur Vorsicht. Außerdem konnte der Spaß nur größer werden, wenn ich mich blöd stellte.

Verstehst du – Berg, sagte sie drängend.

Ich schlug die Augen nieder und schüttelte betrübt den Kopf. Sie seufzte mitleidig. Wir waren inzwischen, nach den anderen, am See angelangt und hörten das Geschrei der Badenden. Die Wurzeln, die von beiden Seiten über den Weg wuchsen, umgingen wir behutsam. Zofias Hackenschuhe schienen mir ungeeignet für unseren Wald. Zuerst versehentlich, dann stärker von der Notwendigkeit meines Armes überzeugt, griff sie nach mir und stolperte zu meiner Rechten durch den deutschen Wald. Ungeachtet der akrobatischen Verrenkungen, die sie vollführen musste, erklärte sie, was ich unbedingt zu verstehen hätte: Ihr Vater wäre mitnichten ein Bergmann gewesen.

Was denn sonst?

Er war damals Schüler. Mathematik eins. Ein Musterschüler. Sein Vater versetzte ihm einen Stoß. Lauf! Und er ist gerannt. Die deutschen Gendarmen schossen, aber er entkam über die Hinterhöfe. Seine Eltern und seine Großeltern hat er nie mehr wiedergesehen. In den Wäldern um Krakow traf er Szymon, der im Lastwagen dem ausgebrannten Getto den Rücken gekehrt und sich den Partisanen angeschlossen hatte. Szymon war stolz auf die deutsche Maschinenpistole, die er einem polnischen Polizisten im Kampf abgerungen hatte.

Einmal gerieten sie in einen Hinterhalt, und Szymon trug Zofias Vater bis zum Morgengrauen stundenlang durch den Wald. Als der Arzt die Wunde säuberte, lachten alle. Ein Durchschuss. Schreck und Angst, den Deutschen in die Arme zu rennen, hatten Eryks Beine unbeweglich gemacht.

Zofias Vater!

In unserem Alter waren sie. Wer weiß, was für eine Zofia auf dem Weg um den See an meinem Arm hinge, wäre ihr Vater nicht der rundlichen Krankenschwester Helga begegnet. Ich musste lachen, und Zofia unterbrach irritiert ihre Geschichte. Es kostete mich etliche Worte, bis ich sie so weit hatte, mir zu glauben, dass es zwischen meinem Lachen und der Verwundung keinen Zusammenhang gab.

Aus der Partisanengruppe wurde einer zum Verräter. Nach und nach fielen sie alle der Gestapo in die Hände. Aber der Verräter irrte sich, wenn er glaubte, dadurch sein Leben erkauft zu haben. Als seine ehemalige Geliebte aus dem Lager kam, erschoss sie ihn. Das war eine traurige Geschichte, denn der Verräter hatte inzwischen eine hübsche, junge Frau und zwei niedliche Kinder.

Musste diesem Mann das Leben nicht zur Qual geworden sein, ständig in Furcht, einer könnte Gestapo und Lager überleben ?

Ich wollte über Zofias Mitleid herziehen. Hör mal, wollte ich sagen, ein Verräter bleibt ein Verräter. Was gehen mich dessen Qualen an. Sie erwartete diesen Zwischenruf und hätte sicherlich einen weisen Spruch hergebetet, wie: Gott ist Gott und Schnaps ist Schnaps. Vielleicht glich tatsächlich ein Verräter dem anderen nicht, und dieser war einst ein guter Kamerad gewesen, der seiner Geliebten die Folter ersparen wollte. Bestimmt hätte Zofia die Taten der Verräter gegen die Untaten der Nazis aufgewogen und die ersten zu den Opfern eines kriminellen Systems geschlagen, dem zu widerstehen nur wenige die Kraft hatten.

Ich hielt es für angebracht zu schweigen und entrann einer Lektion.

Beide kamen ins Lager, sagte Zofia. Mein Vater und Szymon. Beide übel zugerichtet. Aber die Gestapo wusste schon alles, so kamen sie glimpflich davon. Szymon starb, mein Vater lebte. Und nach dem Krieg kam die Einsamkeit.

Und ich dachte, der Berg.

Erik Neutsch schrieb 1998 über sein Buch „Der Hirt und Stockheim kommt“: „Nichts von dem, was ich bisher erzählte, ist von meinen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen jemals so entfernt gewesen wie die Geschichte des Hirten… Als sie dann erschien, wollten sie manche Kritiker gar nicht haben. Nach dem Zimmermann Balla war der Hirt Godefred für sie etwas sehr Ungehöriges meinerseits. Ich allerdings habe meine weltanschaulichen und künstlerischen Positionen niemals verengen wollen und sie stets so weit zu spannen versucht, daß sie alle Menschen in meinem Lande erreichen, mit denen ich lebe und für die ich schreibe. Zu ihnen gehören die Gatts genauso wie die Godefreds. Für mich persönlich war die Geschichte vom Hirten überdies der Beweis, daß meine Phantasie noch intakt ist. In der innigen Umarmung mit dem jederzeit härteren Realismus geht es ihr wie jedem Brautpaar: Sie empfindet Freude am Schöpferischen. Später freilich, 1990, müssen wohl gewisse neudeutsche Buchgeschäftler meinen damaligen Kritikern nachgekrochen sein. Wie Tausende und aber Tausende Bände Literatur, die in der DDR gedruckt worden sind, warfen sie auch den HIRTEN auf die Müllkippe, und es ist nicht zuletzt dem Pastor Martin Weskott aus Katlenberg im Hessischen zu danken, daß er auch dieses Büchlein gerettet hat.

Mit der Erzählung STOCKHEIM KOMMT verhält es sich anders. Sie entstand erst in diesen Tagen, und bei ihr bedurfte es kaum noch der „Phantasie“. Ich brauchte nur dem „härteren Realismus“, ja mehr, der brutalen junkerlich-kapitalistischen Realität, wie sie jetzt allerorten unser Land überfällt, nachzugehen, um sie skizzenhaft festzuhalten. Und da ich selbst einmal als Junge von einem Gutsherrn, weil ich von seinem Feld eine Mohrrübe stahl, mit Schüssen verscheucht wurde, ist mir diese Geschichte sehr nahe, könnte mein eigenes Erlebnis sein.

Schauen Sie doch mal rein in den Doppelband:

Sie tranken und schwiegen. Der alte Hirt nahm seinen Blick von der verräucherten Decke, ließ ihn über die Gegenstände im Zimmer gleiten, und plötzlich, bei dem Gedanken, daß er aus Dragenberg vertrieben werden könnte, war ihm, als sähe er die beiden Räume der Hütte mit anderen Augen. Das Bett an der Wand, der steinerne Ofen, ein Schrank mit Wäsche, ein Gehrock darin und ein Dutzend ungetragener Hemden, noch von Juliane gesammelt, ein Tisch und zwei Stühle und am Fenster darüber die bestickten Gardinen, nebenan eine Küche, die schon lange nicht mehr benutzt worden war. Im Herd war die Glut erloschen. Seine Mahlzeiten erhielt er im Gutshof. Hier schlief er nur. Er hatte sich einen Bettsack aus Katzenfellen genäht, gegen Rheuma und Gicht, die Krankheiten aller Hirten im Alter, auch wenn sie bei ihm noch auf sich warten ließen. Vielleicht war er noch immer nicht alt genug? Aber vielleicht kamen sie auch nur deswegen nicht zu ihm, weil er als junger Mann schon auf den Katzenfellen gelegen und geschlafen hatte, zu jener Zeit schon, als er das breite Bett noch mit Juliane, seiner Frau, geteilt hatte. Sie war ihm gestorben. Nach dem ersten Kind, das sie auf dem Acker entbunden hatte. Während der Arbeit. Da waren die Wehen gekommen. Sie hatte sich in das Gras eines Feldrains gelegt und das Kind aus ihrem Schoß gepreßt. Eine Kätnerin half ihr, band die Nabelschnur ab, verscharrte die Nachgeburt und wickelte das Kind in Decken, und Juliane war aufgestanden und hatte weitergearbeitet. Aber danach hatte das Fieber sie befallen. Der Hirt war von der Weide geholt worden, er hatte ihr Heidekraut und schwarzen Holunder gegeben, aber die Frau war gestorben, auch das Kind, das nicht einmal mehr getauft werden konnte. Er sah in ihr Gesicht auf dem Hochzeitsbild an der Wand über dem Bett, Juliane im Brautschleier. Der General hatte es ihnen geschenkt, denn er bestellte stets, wenn auf den Gütern geheiratet wurde, aus der Stadt einen Fotografen. Er hatte das Bild geschenkt, dazu den schweren silbernen Rahmen, und den Wein für die Feier. Doch nun war das Silber schon schwarz, das Papier vergilbt, so gelb war es wie die Kerze daneben, die nur ein einziges Mal gebrannt hatte, damals, als Juliane aufgebahrt auf dem Bett gelegen hatte, ihr totes Kind in den Armen. Es war lange her, und der Hirt wußte nicht mehr, wie lange es her war. Er lebte seitdem allein in der Hütte, ließ sie sommers verstauben, räumte sie wieder auf im Herbst und wärmte sich an ihrem Ofen im Winter. Dann saß er abends am Tisch und las in der Bibel, dem Buch, das ihn forttrug, sobald er sich gar zu einsam fühlte. Auch jetzt verlangte es ihn, in der Bibel zu lesen, ein Gleichnis zu finden, eine Antwort darauf, was geschehen sollte, wenn der Inspektor ihn fortschickte und die Herrschaft auf Tütz zu Ende ging. Nein, er würde den Flecken niemals verlassen.

Der Inspektor stierte ihn aus geröteten Augen an. »Du hast keine Ahnung«, sagte er, »was noch kommen wird. Die Front ist nahe. Die Feldgendarmen werden die Kühe holen. Die Truppe muß die Stellungen halten, und dazu braucht sie die Kühe.«

»Haben sie denn keine Tanks und keine Kanonen?«

»Doch … doch … Aber die Truppe hat nichts zu essen.«

Der Hirt erschrak. »Die ganze Herde?« flüsterte er.

Der Inspektor nickte. »Die ganze Herde.«

»Was aber wird der General dazu sagen, wenn er’s erfährt? An die hundert Muttertiere, Färsen und Kälber, eingetragen ins Herdbuch. Eine Zucht, wie es sie nicht noch einmal gibt in der Grenzmark und in ganz Pommern.«

»Es ist zwecklos. Wir hätten nicht einmal mehr Leute, die Kühe zu melken und zu füttern. Morgen schon wär ein Geschrei in den Ställen. Und der General, sagen die Feldgendarmen, hat seinen Segen bereits erteilt.«

Die Antwort wollte ihm nicht in den Kopf, und er schwieg. Er wollte trinken, aber die Flasche war leer, und er dachte, daß es mit dem Krieg wahrhaftig schlecht stehen mußte, wenn der General seine Herde aufgab.

Hutschmerz. Ein Nonsens-Traktat“ von Kristian Pech ist ein kleines Werk, das ein subalternes Wissenschaftsobjekt, den Pilz, bedenkenlos überhöht. Die einhundert kurzen, gleichsam mit aufgesetzter Narrenkappe geschriebenen Notizen heben das betreffende Gewächs, nicht ohne auch dessen besondere Biologie zu rühmen, auf die Stufe des Göttlichen, des Kosmischen. Sie behandeln sein angeblich universelles Wirken in Vergangenheit und Gegenwart, decken behauptete Verschwörungen auf, geißeln Pilzfeinde und loben die wahren Pilzanhänger, Darstellungsmittel wie Übertreibung, Verdrehung, Spekulation, Parodie, Verballhornung finden sich an allen Ecken und Enden. Wenn Regeln gelten, dann diese: Alles wird gegen den Strich gebürstet und manches gegen den Strich Gebürstete ein weiteres Mal. Das Unwahrscheinliche ist wahr, das Wahrscheinliche ist unwahr. Eine sich fachliterarisch gebende Clownerie, die aber viel mehr als über den Pilz, so die hintergründige Absicht, über die Befindlichkeiten des Menschen aussagen will.

Hier ist eine kleine Kostprobe:

Wie man vom deutlichen Hörensagen weiß, hat jener inkriminierte Geheimdienst, dem hier der weibliche Deckname Anastasia gegeben werden soll, mannigfach auch Wanzen eingesetzt. Und wer glaubte, Wanzen hinter Friseurspiegeln oder in Bidets oder Ohrclipwanzen oder Zahnplombenwanzen seien das Nonplusultra der Konspiration gewesen, der muß sich eines Besseren belehren lassen. Denn es existierten auch, die Akten wissen angeblich ein Lied davon zu singen, Pilililzwanzen, mit denen die tiefsinnigen Selbstgespräche der Förster von Staatsjagdgebieten abgehört wurden beziehungsweise die Gespräche mit ihren Hunden beziehungsweise die Gespräche ihrer Hunde mit ihnen. Für die Aufnahme dieser Wanzen eigneten sich am besten ausdauernde Baumpilililze der Arten Fomitopsis pinicola und Fomes fomentarius. Man bohrte sie auf Insektenweise von unten leicht an und ließ die Sächelchen gefühlvoll hineinflutschen.

Der „Der Popanz und Ein Lächeln für Zacharias“ von Joachim Nowotny enthält zwei schöne Geschichten zum Schmunzeln und Nachdenken für Leseanfänger oder die Kleinen zum Vorlesen.

Hinter dem Haus von Großmutter Pimpelmut und Großvater Allesnix fließt ein Bach, der den kleinen Petrik magisch anzieht. Die Zauberin Amanda Grollmus, der Schandarm Pannak und Herr Kantor Haubold wollen Petrik Angst vor dem tiefen Bach einjagen, nichts hilft. Doch plötzlich steht ein riesengroßer, gefährlich aussehender Popanz aus Holz oben am Damm.

Zacharias erhielt in Mathematik eine Fünf. Nun sehen ihn alle böse an: Die Mutter, der Vater und auch die nette Lehrerin Frau Sengewald. Nun ist Zacharias hungrig nach einem Lächeln, das er endlich beim schwerhörigen Großvater findet, der nichts von einer 5 weiß.

Lesen Sie, wie Großmutter Pimpelmut den Schandarm Pannak um Hilfe bittet:

Wie sie geht und steht, zieht sie Petrik auf die Gasse. Neben dem Spritzenhaus wohnt der Schandarm Pannack. Der will gerade seine Plempe umschnallen, aber ihm fehlt die Scheide. Er kann nicht gut mit nacktem Säbel das Dorf inspizieren, da sähen die Leute, dass er ihn wieder nicht geputzt hat.

Also ruft er seinen Hund.

„Laufschritt, marsch, marsch!“

Der Hund kommt unter dem Bett hervor. Dorthin hatte er die Scheide geschleppt; nun apportiert er sie mit angelegten Ohren. Der Schandarm kann umschnallen und einen Blick für Großmutter Pimpelmut erübrigen.

„Wo brennt’s? Was fehlt? Wen soll ich einsperren?“

Die Großmutter fasst Petrik und stellt ihn neben sich.

„Ans Wasser zieht’s ihn, alleweil ans Wasser. Und kann doch nicht schwimmen."

Der Schandarm legt eine Hand auf Petriks Schulter, nimmt einen Zug aus der Tabakspfeife, lässt die Kehle schnarren, spuckt auf den Fußboden und stößt den Säbel klirrend auf.

„Laufschritt, marsch, marsch!“

Als er sieht, dass sich Petrik fürchtet, hält er der Großmutter die Hand hin.

„Zwei Sechser für Tabak.“

Großmutter Pimpelmut zahlt und seufzt.

„Hoffentlich hat’s geholfen.“

Aber das Wasser fließt und fließt. Und kaum steht sie mit dem Enkel auf der Gasse, da zupft Petrik an ihrem Ärmel.

„Großmutter, wie heißt der Hund?“

„Stabsgefreiter Gernegroß.“

Petrik kann nicht an sich halten und lacht laut heraus. Großmutter Pimpelmut aber fasst sich ans Herz. Ihr Leute, ihr Leute! Es hat wieder nicht geholfen. Wird der sich fürchten, der so lacht?

Lesen Sie eine ausführliche Beschreibung von Hans-Ulrich Lüdemann zu seinem Roman „Der weiße Stuhl. Zweiter Versuch einer Rehabilitation“:

Der Roman ist autobiografisch geprägt.

Das Manuskript mit dem Arbeitstitel Der Schizo war 1988 dank des Engagements meiner Lektorinnen Gisela Gnausch und Sabine Pape abgeschlossen. Cheflektor Walter Lewerenz machte den Druck von etlichen Veränderungen abhängig, die wie so oft weniger in der literarischen Qualität begründet, sondern Ausdruck einer ideologischen Einflussnahme waren. Ich ließ ausrichten, dass ich mein Leben eher in einer Schublade verschwinden lassen würde, statt jenes aus politischem Wohlverhalten zu verbiegen. 1990 konnte das Buch endlich im Verlag Neues Leben Berlin erscheinen und ist längst vergriffen.

Ende Juni 1983 erwacht der Schriftsteller JOCHEN VIERCK in einem renommierten Ostberliner Krankenhaus für Querschnittgelähmte, im Volksmund bekannt als WALDHAUS. Vierck weigert sich strikt, seine Identität anzuerkennen. Stattdessen flüchtet er in das etwas jüngere Ego JÖRG VOSSLOW, Hauptfigur eines gerade abgeschlossenen Romans. Ein SFB-Kameramann, der während der Weltfestspiele 73 aus privaten Gründen beschließt, im Ostteil Berlins zu bleiben.

Turbulente Episoden zwischen 1973 und 1983 reflektiert nun sein geistiger Schöpfer Jochen Vierck, der nicht wahrhaben will, dass er querschnittgelähmt ist. Während die ebenfalls behinderten Zimmergenossen und einige Pflegekräfte Viercks Wegtauchen in ein anderes ICH (sie nennen ihn SCHIZO bzw. nach seinen Initialen JOTVAU) nicht akzeptieren, bemüht sich Dr. JUERGEN VONDERHAIDEN einfallsreich den schizophrenen Schub dieses Patienten zu kompensieren.

Die Frau des Schriftstellers, DAGMAR MEHRING-VIERCK ist keine Hilfe; sie weilt anlässlich eines Verwandtenbesuchs in der BRD. Ein Telegramm aus Koblenz verrät, dass sie dort bleiben wolle. Brief folgt …

War diese für den Pflegefall und Tetraplegiker Vierck nicht zu verkraftende Nachricht der auslösende Faktor seines Identitätsverlustes? Ist sein Terrassensturz ein Suizidversuch gewesen, eine Erklärung, die Viercks befreundeter MfS-Hauptmann Deihert nicht akzeptiert. Was hat es mit dem ominösen WEISSEN STUHL auf sich, der Vierck/Vosslow durch Wach- und Albträume begleitet?

Vonderhaiden leiht sich in einer Bibliothek einige Bücher des seit 1977 gelähmten Schriftstellers und präsentiert sie Vierck – keine Reaktion: Vosslow habe keine Bücher geschrieben, er sei u. a. Kameramann beim DDR-Fernsehen in Adlershof gewesen und wurde wegen Renitenz am Arbeitsplatz zur Bewährung auf die Stralsunder VOLKSWERFT delegiert. Dieser Terminus regelte in der DDR oftmals den Umgang mit missliebigen Personen. Vosslow allerdings beschert diese Disziplinierung eine heftige Liebe zur viel jüngeren Kollegin Gudrun Bell, was ihm im Rahmen seiner Brigade wiederum Probleme bereitet …

Der Arzt konfrontiert Vierck auch mit dessen Hund; während das Tier vor Freude außer sich gerät, reagiert sein Besitzer abweisend – Vosslow mag keine Hunde. Auch enge Freunde und Kollegen aus den verschiedenen Medien lassen Vierck gleichgültig. Die Berichte jener Zeitgenossen entwerfen ein Bild des Schriftstellers und vermitteln anhand von originellen Begebenheiten mit Vierck einen Einblick in den oftmals kuriosen DDR-Kulturbetrieb. Diese wie auch andere Storys aus dem Leben des Schreibers Vierck/Lüdemann sind belegt …

Die Verballhornung des Namens Waldhaus in Wundhaus und 1. Leitklinik für Rehabilitation der DDR in 1. Leidklinik – entgegen anderslautender Verklärung muss sich das DDR-Gesundheitswesen in diesem konkreten Fall etliche Vorhaltungen gefallen lassen …

Mittels eines kriminalistisch angelegten Plots im WEISSEN STUHL, der Humor nicht ausspart, mögen sowohl Ost- wie auch Westdeutsche oder das am gewöhnlichen DDR-Alltag interessierte Ausland sich der mittlerweile verdrängten 80er Jahre erinnern.

Möchten Sie ein Stück daraus lesen?

Frau Dr. Boonenkamp steht wie ein kleines schüchternes Mädchen zwischen den beiden Betten. Der Gang ist schmal, trotzdem wirkt die zierliche Gestalt der Stationsärztin wie verloren.

„Ich musste mir erst einen Ruck geben, Herr Jonas, ehe ich wagte, zu Ihnen zu kommen. Um Ihnen zu sagen, dass es nun wieder nichts wird mit Ihrer Operation. Sie haben ja selbst erlebt, in der Nacht, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Hoffen wir auf die nächste Woche, Herr Jonas …"

„Da haben die Orthopäden ihre eigenen Patienten, die auf eine Operation warten!" Kapitän Jonas hat die Hände unter dem Kopf zu liegen. Eine Falte des Unmuts steht zwischen seinen Augenbrauen.

„Aber Ihr Termin ist eingetaktet!", versucht Dr. Boonenkamp den Vorwurf abzuwehren, dass es auch nächste Woche nichts werden wird mit einer Fersenbeinresektion.

„Das ist er seit April dieses Jahres, Frau Doktor!", gibt Horst Jonas ungerührt zurück.

Die Stationsärztin beugt sich vor und legt besänftigend eine Hand auf die Brust des Patienten: „Erholen Sie sich, Herr Jonas! Je ausgeruhter Sie sind, desto erfolgreicher werden Sie die Operation überstehen. Ihnen läuft doch nichts davon …"

„Bin ja Rentner!", hält Kapitän Jonas Zorn sprühend dagegen. „Das Gerede macht mich noch fertig! Als ob das WUNDHAUS ein Sanatorium ist! Zu Hause wartet der Garten. Die Laube müsste gepönt werden bei diesem trockenen Wetter. Und wenn das nicht wäre – ich könnte mir vorstellen, dass ich liebend gern auf der kleinen Veranda sitzen würde. Mit meiner Frau! Nur so! Dabei könnte mir, meinetwegen, die Zeit weglaufen, Frau Doktor! Aber doch nicht hier!"

WUNDHAUS statt WALDHAUS? Unangenehm berührt von Jonas Ausbruch, schaut die Ärztin zum zweiten Patienten hinüber. Aber Vierck tut, als interessiere ihn nicht, was besprochen wird. Ausdruckslos starrt der Mann zur Decke. Als ob er die Wasserflecken dort vorher noch nie bemerkt hätte.

„Vielleicht versöhnt Sie das." Dr. Boonenkamp wendet sich wieder zu Jonas. „Wenn Sie jetzt mit Ihrer Frau telefonieren. Sie könnte Sie doch abholen? Urlaub bis Montagmittag. Wäre das nicht ein Angebot, Herr Kapitän?" Die Frau lächelt, weil sie die Anrede besonders betont.

„Wenn ich meine Frau erreiche!", murrt Horst Jonas. Mehr aus Prinzip. Versöhnend ist der Vorschlag schon. Übers Wochenende das bedrückende WUNDHAUS mit Haus und Garten zu tauschen. „Aber eigentlich …" Er dreht den Kopf und mustert seinen Bettnachbarn, der scheinbar noch immer das größte Interesse an den Deckenflecken hat.

„Nicht einverstanden?", fragt Dr. Boonenkamp Stirn runzelnd. Sie schaut demonstrativ auf ihre Armbanduhr.

„Seinetwegen kann ich nicht!", flüstert Horst Jonas.

„Wegen Herrn Vierck?" Frau Dr. Boonenkamp stutzt.

„Muss aufpassen, dass er richtig gedreht wird und so. Der lässt sonst alles mit sich machen …"

Die Frau im weißen Kittel schüttelt den Kopf. So etwas hat sie noch nicht erlebt – dass ein Patient aus Fürsorge für einen Bettnachbarn keinen Urlaub antreten will!

„Gucken Sie sich nur mal seinen Fuß an!", fordert Jonas. „Gestern früh zum letzten Mal gekühlt und verbunden!"

„Steht doch alles auf dem Verbandsplan, Kapitän! Da machen Sie sich mal keine Sorgen!"

„Papier ist geduldig!" Horst Jonas winkt ab.

„War der Verbandswagen etwa noch nicht hier? Heute Vormittag?" Wieder schaut die Ärztin zur Uhr.

„Bis jetzt nicht, Frau Doktor!"

„Ich werde das veranlassen! Und Sie telefonieren mit Ihrer Frau! Sie können das in meinem Dienstzimmer tun. Und was Herrn Vierck angeht", die zierliche Frau wendet den Kopf zum zweiten Bett, „Doktor Vonderhaiden ist spätestens am Abend zurück. Er hat das Wochenende über Dienst und wird sich um unseren Patienten kümmern, Herr Jonas."

Auch der dritte Newsletter des neuen Jahres hat wieder spannende Sonderangebote bereitgehalten. Besonders interessant dürfte das eingangs erwähnte Buch mit den beiden, aufeinander bezogenen Erzählungen von Erik Neutsch sein – „Der Hirte“ und „Stockheim kommt“, zeigen sie doch eine spezifische Seite der gesellschaftlichen Entwicklung im Osten Deutschlands und ihre überraschende Wendung. Zudem haben beide Texte einen hervorragenden Autor haben, der Konflikte nicht scheute und der sehr gut schreiben konnte. Wie auch diese beiden Erzählungen beweisen.

Sehr lesenswert sind aber auch die anderen vier Sonderangebote, unter den sich ein Buch ebenfalls mit der Entwicklung in der DDR sowie mit den Gründen für das Scheitern dieses deutschen Staates auseinandersetzt – „Trauergesellschaft. Wie Josef der Zimmermann die Geschichte erlebte“ von Rainer Lindow.

Genug Stoff zum Lesen also. Bleiben sie auch künftig weiter vor allem schön gesund und munter. Und bleiben Sie Freundinnen und Freunde der Bücher. Es folgt noch ein kleiner Ausblick.

In der nächsten Woche ist ein weiterer Text von Erik Neutsch zu haben: seine „Bitterfelder Geschichten“, erstmals 1961 im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) veröffentlicht. Ein spannendes Stück Zeitgeschichte. Eine Reihe von Geschichten um das Chemiekombinat Bitterfeld hat Erik Neutsch in diesem Buch zusammengetragen und später alle in „Heldenberichte“ noch einmal veröffentlich. Neutsch stellt auch hier sein Erzähltalent unter Beweis. Für alle, die sich für das Berufsleben in der DDR interessieren, eine unerschöpfliche Quelle.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 27 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.100 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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