Im September 2023 erhielt die Firma Sandoz von der Europäischen Kommission die Marktzulassung für das Präparat Tyruko®, ein sogenanntes Biosimilar zu Tysabri® mit dem Wirkstoff Natalizumab.  Tyruko® soll ab Februar 2024 auch in Deutschland verfügbar sein. Biosimilars sind Nachahmerprodukte eines bereits zugelassenen Arzneimittelwirkstoffes, welcher mit Hilfe eines lebenden Organismus (z.B. Mikroorganismen wie Bakterien, Pilze oder Algen) hergestellt wird. Derartige Wirkstoffe sind im Gegensatz zu klassischen über die Molekülstruktur definierten Arzneimitteln nicht völlig identisch mit dem Originalwirkstoff. Sie erfordern daher umfassendere Zulassungsverfahren und Überwachungsmaßnahmen als klassische Nachahmerpräparate (Generika), auch wenn diese Prozesse weniger aufwändig sind als bei Originalpräparaten.

In der ANTELOPE Phase III-Studie (Studie mit 264 Teilnehmern über 1 ½ Jahre) wurde das Biosimilar Natalizumab (Tyruko®) gegen die Referenz Natalizumab (Tysabri®) getestet (1). Das Biosimilar zeigte vergleichbare Effekte für Wirksamkeit, Sicherheit und Immunogenität wie das Originalpräparat.

Wie auch Tysabri® wird Tyruko® für die krankheitsmodifizierende Monotherapie bei Erwachsenen mit schubförmig-remittierender Multipler Sklerose (RRMS) angewendet, entweder mit hochaktiver Erkrankung trotz Behandlung mit einem vollständigen und angemessenen Zyklus mit mindestens einer krankheitsmodifizierenden Therapie oder mit hochaktiver Erkrankung, definiert als rasch fortschreitende RRMS, definiert durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression in einem Jahr, und Magnetresonanztomograph (MRT-)Aktivität unabhängig von einer Immuntherapie.

In klinischen Studien, bei Anwendungsbeobachtungen nach der Markteinführung oder auch im Rahmen des Monitorings nach der Zulassung wurden unter Behandlung mit dem Wirkstoff Natalizumab bisher mehr als 900 Patienten mit einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML) oder auch der verwandten JCV-assoziierten Körnerzell-Neuronopathie berichtet. Die Erkrankung entsteht durch eine Infektion der markscheidenbildenden Oligodendrozyten mit dem John Cunningham (JC)-Virus – neue Bezeichnung: humanes Polyomavirus 2. Das Auftreten einer PML unter Natalizumab führt in sehr vielen Fällen zu schwerer Behinderung und in bis zu 24 % der Fälle sogar zum Tod (2). Daher sind die Vorteile und Risiken der Behandlung in gemeinsamer Rücksprache des MS-Behandlers mit dem Betroffenen immer abzuwägen.

Für die Bestimmung des Risikos für das Auftreten einer PML unter der Behandlung mit Tyruko® sollte daher ebenso wie bei Tysabri® ein Test auf die im Serum vorliegenden anti-JCV-Antikörper und deren „Titer“ (als Maß für die Anzahl der anti-JCV-Antikörper, auch „JCV Antikörper Index“ genannt) erfolgen. Ratsam ist die Testung vor Beginn der Behandlung oder bei MS-Betroffenen, die den Wirkstoff bei unbekanntem Antikörper-Status erhalten. Die Testung sollte unter Behandlung mit Natalizumab wenigstens alle 6 Monate wiederholt werden, um eine evtl. Änderung des JCV-Status von negativ zu positiv (sog. Konversion) oder auch „Titer“-Verläufe zu erfassen. Die Untersuchung auf anti-JCV-Antikörper im Serum sollte mit einem CE-Prüfsiegel für den klinischen Verwendungszweck gekennzeichneten Labortest durchgeführt werden, der vorab eine entsprechende Validierung benötigt. Ein derartiger Test ist beispielsweise der StratifyJCV-Test von Unilabs, der allen MS Betroffenen, die Tysabri® erhalten oder die eine Behandlung mit Tysabri® in Erwägung ziehen, kostenfrei über den Hersteller zur Verfügung steht.

Auch im Rahmen der ANTELOPE Studie zu Tyruko® wurde der anti-JCV-Antikörper-Status bestimmt. Ca. 40 % der Studienteilnehmer waren gemäß Publikation der Studiendaten positiv für anti-JCV-Antikörper. Der genaue Ablauf der anti-JCV-Antikörper Testung in der Studie wird im veröffentlichten Studienmanuskript nicht näher beschrieben (1). Publizierte Daten zur Validierung eines entsprechenden Tests vor oder unter Therapie mit Tyruko® lagen bis Mitte Januar 2024 noch nicht vor. Nachfragen dazu konnten weder vom Hersteller noch von Schlüssel-Autoren der Studien-Publikation beantwortet werden.

Prof. Dr. med. Ralf Gold, Vorsitzender des ärztlichen Beirats des DMSG-Bundeverbandes, hält fest: "Die Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten in der Immuntherapie der MS auch im Bereich der Biosimilars ist erfreulich. Gleichzeitig bleibt die freie Verfügbarkeit aller diagnostischen Möglichkeiten für eine bestmögliche Risiko-Nutzen-Abwägung und damit Patientensicherheit gerade für die hochwirksamen Präparate in der Immuntherapie ein wichtiges Anliegen für uns als MS-Experten wie auch für die Betroffenen in der regelmäßigen Anwendung dieser Präparate.“

Angesichts der Schwere der PML als mögliche Nebenwirkung unter Tyruko® wird das Vorhandensein einer transparent verfügbaren und zuverlässigen anti-JCV-Antikörper-Status Testung unter Therapie mit Tyruko® oder dem Wunsch nach einer Therapie mit Tyruko® für die sichere Anwendung des Präparates unerlässlich sein. Die weitere Entwicklung hierzu ist mit Spannung abzuwarten.

Mitglieder der AG Immuntherapien des Ärztlichen Beirats der DMSG-BV

  • Prof. Dr. med. Ralf Gold (Federführung), Direktor, Neurologische Klinik, Ruhr-Universität Bochum am St. Josefs-Hospital
  • Prof. Dr. med. Ralf Linker (Federführung), Direktor, Neurologische Klinik, Universität Regensburg
  • Prof. Dr. med. Antonios Bayas, Leitender Oberarzt und stellv. Direktor, Neurologische Klinik mit klin. Neurophysiologie, Universitätsklinikum Augsburg
  • Prof. Dr. med. Achim Gass, Oberarzt, Neurologische Klinik, Universitätsmedizin Mannheim
  • Prof. Dr. med. Kerstin Hellwig, Fachärztin für Neurologie, Neurologische Gemeinschaftspraxis Giehl & Hellwig, Castrop-Rauxel
  • Dr. med. Boris-A. Kallmann, Facharzt für Neurologie, Kallmann Neurologie, Multiple Sklerose Zentrum Bamberg (MSZB)
  • Prof. Dr. Ingo Kleiter, Geschäftsführer, Med. und Ärztlicher Leiter Behandlungszentrum Kempfenhausen für Multiple Sklerose – Kranke, gemeinnützige GmbH, Berg
  • Prof. Dr. med. Luisa Klotz, Arbeitsgruppenleiterin und Oberärztin, Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Münster
  • Prof. Dr. med. Thomas Korn, Stellv. Klinikdirektor, Neurologische Klinik, Klinikum rechts der Isar der TU München
  • Prof. Dr. med. Mathias Mäurer, Chefarzt, Abteilung für Neurologie, Juliusspital Würzburg
  • Prof. Dr. phil. Iris-Katharina Penner, Professorin für Kognitive Neurologie und Neuropsychologie, Leitung universitäre Neuropsychologie, Klinik für Neurologie, Inselspital, Bern Universitätsklinik, Schweiz

Literatur

  1. Hemmer B, Wiendl H, Roth K, Wessels H, Höfler J, Hornuss C, Liedert B, Selmaj K. Efficacy and Safety of Proposed Biosimilar Natalizumab (PB006) in Patients With Relapsing-Remitting Multiple Sclerosis: The Antelope Phase 3 Randomized Clinical Trial. JAMA Neurol. 2023 Mar 1;80(3):298-307. doi: 10.1001/jamaneurol.2022.5007. PMID: 36689214; PMCID: PMC9871944.
  2. Hoepner R, Kolb EM, Dahlhaus S, Hellwig K, Adams O, Kleiter I, Salmen A, Schneider R, Lukas C, Chan A, Berger JR, Gold R. Predictors of severity and functional outcome in natalizumab-associated progressive multifocal leukoencephalopathy. Mult Scler. 2017 May;23(6):830-835. doi: 10.1177/1352458516667241. Epub 2016 Sep 6. PMID: 27600113.
Über den Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Bundesverband e.V.

Der DMSG-Bundesverband e.V., 1952/1953 als Zusammenschluss medizinischer Fachleute gegründet, vertritt die Belange Multiple Sklerose Erkrankter und organisiert deren sozialmedizinische Nachsorge.

Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft mit Bundesverband, 16 Landesverbänden und derzeit mehr als 750 örtlichen Kontaktgruppen ist eine starke Gemeinschaft von MS-Erkrankten, ihren Angehörigen, 4.186 engagierten ehrenamtlichen Helfern und 251 hauptberuflichen Mitarbeitern. Insgesamt hat die DMSG rund 42.000 Mitglieder.

Mit ihren umfangreichen Dienstleistungen und Angeboten ist sie heute Selbsthilfe- und Fachverband zugleich, aber auch die Interessenvertretung MS-Erkrankter in Deutschland. Schirmherr des DMSG-Bundesverbandes ist Christian Wulff, Bundespräsident a.D.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems (Gehirn und Rückenmark), die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden nach Zahlen des Bundesversicherungsamtes mehr als 240.000 Menschen an MS. Trotz intensiver Forschungen ist die Ursache der Krankheit nicht genau bekannt.

MS ist keine Erbkrankheit, allerdings spielt offenbar eine genetische Veranlagung eine Rolle. Zudem wird angenommen, dass Infekte in Kindheit und früher Jugend für die spätere Krankheitsentwicklung bedeutsam sind. Welche anderen Faktoren zum Auftreten der MS beitragen, ist ungewiss. Die Krankheit kann jedoch heute im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Deutschlandweit sind schätzungsweise 280.000 Menschen an Multipler Sklerose erkrankt, weltweit etwa 2,8 Mio. Menschen.

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