In den 27 Mitgliedsstaaten der EU wird vier Tage lang, vom 6. Juni bis zum 9. Juni, nach jeweils eigenen nationalen Wahlgesetzen die nationalen Komponenten des EU-Parlaments gewählt. Die vier Wahltage sind nicht etwa der Größe der EU geschuldet, denn dieser Aspekt ist geopolitisch vernachlässigbar. Vielmehr muss die EU die 27 nationalen Wahlrechtsnormen respektieren, deren innerstaatliche Anwendung schließlich zur Zusammensetzung des EU-Parlaments führt. Artikel 223 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU sieht lediglich vor, dass überhaupt Wahlen stattfinden und dass dabei das Verhältniswahlrecht gilt. Alles andere entscheiden die Mitgliedsstaaten individuell, bis hin zur Sperrklausel. Diesen Flickenteppich muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen, spätestens am Wahltag. Das EU-Parlament wird nicht – wie in einer Demokratie vorgesehen – von einem Staatsvolk in einem Staat nach dort geltenden nationalen Regeln gewählt. Die Zusammensetzung des Parlaments der Europäischen Union reflektiert vielmehr die Summe von 27 verschiedenen Wahlergebnissen auf der Grundlage eigener Wahlrechtsnormen. 

Wenn sich die 720 Mitglieder am 16. Juli am Ufer der Ill in Strasbourg zur 10. Wahlperiode konstituieren, gehen die substantiellen Ungleichheiten weiter. Artikel 14.2 des EU-Vertrags sieht nämlich das Prinzip der degressiven Proportionalität vor. Das bedeutet erstmal nur, so nebenbei, dass kleine Mitgliedsstaaten pro Einwohner mehr Sitze als große Mitgliedsstaaten erhalten. Damit verletzt die EU jedoch ganz offiziell und wissentlich einen Grundsatz der Demokratie: jede Wählerstimme hat das gleiche Gewicht. Ausgerechnet die EU, die sich die menschengeschaffene vollständige Gleichheit (oder Gleichmacherei) über alle naturgegebenen Differenzen hinweg zum Ziel gesetzt hat, verletzt mit der degressiven Proportionalität die Gleichheit der Bürger bei den Wahlen zum EU-Parlament. Das Bundesverfassungsgericht kam deswegen in seiner „Lissabon-Entscheidung“ vom 30. Juni 2009 zu der Auffassung, dass das EU-Parlament getrost als „nicht demokratisch“ bezeichnet werden kann.

Deutschland ist im EU-Parlament strukturell benachteiligt. Deutschland bekommt 96 Mandate für ca. 82,5 Mio. Einwohner, ein deutsches Mitglied vertritt also 859.000 Einwohner. Zum Vergleich: Malta hat 6 Mandate für 400.000 Einwohner, ein Abgeordneter vertritt also nur 67.000 Einwohner – weniger als ein Zehntel wie der deutsche Kollege. Im europäischen Querschnitt vertritt ein EP-Abgeordneter rund 665.000 Einwohner. Das sind immer noch 200.000 weniger als Deutschland! Und dennoch, im Ausschuss und im Plenum ist jede Abstimmungskarte gleich viel wert. Ein deutscher MdEP, der 859.000 Einwohner vertritt, hat genau nur eine Stimme wie der maltesische Kollege im Büro nebenan, der weniger als ein Zehntel der deutschen Bevölkerung vertritt. Die maltesische Stimme müsste also gegenüber der deutschen Stimme nur ein Zehntel Wert sein. Ist sie aber nicht, und deswegen ist Deutschland im EU-Parlament strukturell diskriminiert. Warum werden diese Fakten in keiner der jetzt so zahlreichen Informationssendungen über das EU-Parlament bekannt gemacht? 

Ein anderer interessanter Aspekt ist die Hervorhebung des Spitzenkandidaten durch die nationalen Parteien, nicht nur in Deutschland. Die Christdemokraten gehen mit Frau von der Leyen ins Rennen, die Sozialdemokraten mit dem derzeitigen EU-Kommissar aus Luxemburg, einem an sich ganz netten älteren Herren namens Nicolas Schmit. Die Grünen gehen mit zwei Spitzenkandidaten in die EU-Wahl und die Liberalen erscheinen gleich mit drei Spitzenkandidaten. Das Problem „Spitzenkandidat“ ist wahlrechtlich nicht ganz uninteressant. Die sogenannten Spitzenkandidaten Ursula von der Leyen, Nicolas Schmit, Bas Eickhout, Sandro Gozi, Valérie Hayer stehen nämlich in Deutschland auf keinem Wahlzettel, nirgends, nicht einmal Frau von der Leyen. Dabei machen deren Parteien – CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP – mit ihnen aktiv Wahlkampf (mit Steuergeldern) und präsentieren in Deutschland nicht wählbare Politiker als Spitzenkandidaten zur Wahl am 9. Juni. Was passiert eigentlich am Wahltag, beziehungsweise danach, wenn ein Wähler in die Wahlkabine ging, um Frau von der Leyen zu wählen, oder Frau Hayer oder Herrn Schmit oder Herrn Eickhout – und diese in Deutschland als „Spitzenkandidaten“ präsentierten Politiker gar nicht auf dem Wahlzettel stehen?

Jedenfalls ist noch eine Woche bis zu den Wahlen in Deutschland. Hier in Brüssel ist es weiterhin ruhig. Man merkt nur, dass das vom EU-Parlament genutzte Gebäudelangsam und unaufhaltsam zu einem riesigen Pressezentrum mutiert. Von dort aus berichten wir dann unmittelbar nach dem Wahlabend.

Bleiben Sie gesund und vor allem: gehen Sie wählen!

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