„Im Ernstfall: Was bedeutet Kriegsmedizin?“ lautete der Titel des zivilmilitärischen Symposiums Oranienstein 2.0, das am vergangenen Freitag im Schloss Oranienstein zu Diez an der Lahn stattfand. Der Saal mit 165 Plätzen war ausgebucht.

Im Krieg stellt die medizinische Versorgung einer großen Zahl von verletzten und verwundeten Soldaten, aber auch die medizinische Versorgung und Betreuung sehr vieler, zum Teil geflüchteter Zivilisten eine immense Herausforderung dar. Vor diesem Hintergrund erklären sich die zivilmilitärischen Partner, die das Symposium ausgerichtet haben: Es sind zum einen die Landesärztekammer Hessen mit ihrer Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung, die hier mit der Landesärztekammer von Rheinland-Pfalz sowie der des Saarlands zusammenarbeiteten. Sie sind auch anteilig für die Sanitätsoffiziere der Bundeswehr zuständig. Zum anderen sind es das Kommando Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung der Bundeswehr und deren Landeskommandos aus Hessen und Rheinland-Pfalz.  

Bei diesem Symposium, das unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, General a. D. Wolfgang Schneiderhan stand, fokussierten sich die Referenten auf den Erfahrungsaustausch unter dem Eindruck der aktuellen geostrategischen Krisen in der Ukraine und im Nahen Osten. Hochrangige ärztliche Vertreter des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sowie der berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken in Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland berichteten aus ihren Erfahrungen, unterlegt mit zwei praktischen Übungen zur richtigen Anlage von Tourniquets (Aderpressen) und zur Dekontamination von toxischen Substanzen.

Strategischer Hintergrund

Zunächst wurde geklärt, was im militärischen Kontext unter einem „Ernstfall“ zu verstehen sei. Man müsse sich spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins auf die gesamte Ukraine 2022, mit der nicht auszuschließenden Ausweitung auf NATO-Staaten, ernsthaft mit dem Eintritt der Landes- und Bündnisverteidigung gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags befassen. Zwar sei Deutschland kein Frontstaat mehr, müsse aber, mitten in Europa
gelegen, im Ernstfall als Drehscheibe für die Verlegung von Truppen der NATO-Verbündeten seinen Beitrag leisten. Diese Aufgabe einer Drehscheibe gebe es allerdings auch umgekehrt: Aus anderen Kriegen abgeleitet, sei in einem worst case-Szenario mit durchaus ein- bis zweitausend Verwundeten täglich zu rechnen, die in den Krankenhäusern in Deutschland und den anderen Staaten Europas behandelt werden müssten.
Von den leider durch den Krieg gemachten praktischen Erfahrungen der Ukraine können auch wir profitieren: schnelle Evakuierungsfahrzeuge für Verwundete („Evacs“), die im Grunde nur von einem Motorrad oder einem Quad gezogene, flache einachsige Hänger mit zwei Pritschen sind, oder für den Liegendtransport umgebaute D-Züge zum effektiven mittelbaren Transport für Verwundete. Es bedürfe offenkundig noch erhebliche, von der Politik unterstützte Anstrengungen, um den Sanitätsdienst der Bundeswehr auf einen solchen Ernstfall vorzubereiten. Bei der Gesamtverteidigung komme es nicht nur auf die militärische Seite, sondern auch sehr auf die zivile Unterstützung an.

Versorgung mit vielen Betten und hoher Behandlungsqualität

In den folgenden Vorträgen mit Referenten aus den BG-Unfallkliniken Frankfurt bzw. Ludwigshafen sowie vom Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz wurde herausgearbeitet, welche besondere Bedeutung den BG-Kliniken und ebenso der Universitätsmedizin im Katastrophen- und insbesondere im Verteidigungsfall zukommt.

Hochwertige ärztliche Versorgung bei schwierigen Verwundungen und Vergiftungen

In weiteren zwei Vorträgen aus dem Bundeswehr-Zentralkrankenhaus in Koblenz und einem Vortrag aus dem Münchener Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr stellten die Referenten sehr eindrücklich das unfallchirurgische Management von Schuss-, Splitter- und Explosionsverletzungen bzw. von lebensgefährlichen Blutungen vor. Die besondere Herausforderung einer Kontamination mit chemischen Kampfstoffen und deren Versorgung liege nicht nur in der Identifikation des Wirkstoffs und einem frühen Behandlungsbeginn, sondern auch in dem gegenwärtigen Mangel an hinreichend verfügbaren Gegenmitteln.  

Feldküche und praktische Übungen

In der Mittagspause zwischen den Vorträgen konnten die Teilnehmer das Anlegen eines Tourniquets an einer lebensechten Puppe üben, um den Blutverlust bei schwerwiegenden Verletzungen zu unterdrücken. An einer anderen Station übten Soldaten mit den Teilnehmern das schnelle Entfernen chemischer Kampfstoffe von der Haut. Eingesetzt wurden selbstverständlich harmlose Substanzen, die die physikalischen Eigenschaften der Kampfstoffe imitierten.

Bedeutung ruhigen Denkens, einer klaren Haltung und gemeinsamer Verantwortung von Zivilgesellschaft und Militär in einer starken Demokratie

Einer der Höhepunkte des Symposiums war der abschließende Vortrag von Prof. Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München. Die Bedrohung für liberale Demokratien komme nicht nur von außen, sondern auch von innen. Extreme Parteien und Desinformationskampagnen würden die Gesellschaft spalten. Wir brauchen resiliente Bürgerinnen und Bürger in einer gefestigten Demokratie.

Resilienz bedeutet hier, „schwierige Zeiten“ möglichst mit klarem Kopf und ohne dauerhafte seelische Beeinträchtigung zu überstehen. Jede und jeder Einzelne müsse sich klarmachen, dass ein Aggressor nicht aufhört, wenn ihm nicht klare Kante gezeigt wird. Dafür sind nicht nur Soldaten zuständig, sondern alle Bürgerinnen und Bürger einer gefestigten und solidarischen Demokratie.
Zum Ende sprach Professor Masala über seine persönliche Wahrnehmung der Putinschen Kriegsszenarien gegenüber dem Westen. Jenseits der Eroberung der Ukraine verfolge Putin damit auch einen „Test“, der Professor Masala an die deutsche Remilitarisierung (1936) des nach dem ersten Weltkrieg von den Siegermächten besetzten und später geräumten Rheinlands erinnere. Namentlich durch die Passivität Frankreichs und Großbritanniens wurde eine der letzten Gelegenheiten verpasst, die Eroberungspläne Hitlers allein durch entschiedenes Auftreten rechtzeitig einzugrenzen.

In seinen Dankes- und Abschlussworten an die vielen Beteiligten unterstützte Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsident der Landesärztekammer Hessen, die Analysen von Prof. Masala. „Um Desinformation erkennen zu können, braucht es Bildung, und diese dürfen wir in unserer Priorisierung wichtiger Inhalte keinesfalls vergessen!“ bekräftigte Dr. Pinkowski.

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