Der ZVO widmet sich bereits seit Längerem komplexen Zusammenhängen¹ ². Komplexe Systeme bestehen aus einer großen Anzahl an Einflüssen bzw. Komponenten, die miteinander wechselwirken. So entstehen Wirkungsketten, aber auch Regelkreise, die über viele Komponenten laufen können. Komplexität zu bewältigen, setzt systemisches Denken (oder Systemdenken) voraus. Auch Regulierungsprojekte müssen komplex arbeiten.

Im Umgang mit komplexen Systemen sind wir schnell überfordert. Nebenwirkungen, Langzeitwirkungen und Rückkopplungen sind für uns nicht einfach durchschaubar. Im Gegensatz zu linearen, wenn auch möglicherweise sehr komplizierten Systemen, finden wir hier nicht die Formeln durch Datensammlung. Wer die üblichen Lösungstechniken der Spezialwissenschaften anwendet, wird scheitern und Fehler machen. Um diese Fehler geht es hier.

Bereits seit den 80er Jahren werden intensive Studien zu unseren begrenzten kognitiven Zugängen zu komplexen Systemen durchgeführt[1]. Dabei treten immer die gleichen Fehler auf. Je nach Autor gibt es eine unterschiedliche Anzahl entscheidender Fehler; in dieser Abhandlung sollen die folgenden acht betrachtet und an typischen Beispielen erörtert werden:

Teil 1
– Hypothesenfehler
– Planungsfehler

Teil 2
– Zielfehler
– Bewertungsfehler
– Korrekturfehler

Teil 3
– Kommunikationsfehler
– Fehldosierung
– Timing

Hypothesenfehler

Eine Hypothese sollte eine widerspruchsfreie Aussage oder Annahme zu Gesetzmäßigkeiten oder Tatsachen sein, die noch unbewiesen ist. Sie dient als Ausgangspunkt für wissenschaftliche Erkenntnisse.

Hypothesenfehler entstehen zum Beispiel bei fehlerhaften Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhängen, deren Gültigkeit explizit oder implizit vorausgesetzt wird. Oft werden hier Erwartungen und persönliche Erfahrungen als allgemeingültige Grundlage angenommen.

So resultieren Hypothesenfehler unter anderem aus linearem Denken. Es wird von eindeutigen Ursache-Wirkungsbeziehungen ausgegangen. Genau hier wird aber die Komplexität, das heißt die vielen Wechselwirkungen und Rückkopplungen, nicht berücksichtig. Nehmen wir die einfache Aussage: Die Substitution gefährlicher Substanzen führt zum Schutz von Mensch und  Umwelt – PFAS wären hier ein Beispiel. Diese lineare Beziehung wird jedoch bei medizinischen Geräten oder auch Schutzkleidung fragwürdig, deren Funktion nur durch PFAS möglich wird. PFAS-beschichtete Folien werden zur Abtrennung von Deponien gegenüber Grundwasser eingesetzt. Die Linearität fällt in sich zusammen, da nicht klar ist, ob die positiven Effekte die negativen Folgen der Substitution bzw. des Verbotes überwiegen werden.

Eine zweite Ausprägung des Hypothesenfehlers ist die Fixierung auf die Gegenwart. Zukünftige oder zukünftig mögliche Probleme werden ausgeblendet. Auch Erfahrungen aus der Vergangenheit werden ignoriert. Die Verhinderung des Klimawandels zum Beispiel wird als die Hauptherausforderung unserer Zeit gesehen. Es gilt, die Erderwärmung um jeden Preis zu stoppen. In Zukunft könnten sich jedoch Ereignisse einstellen, die den Klimawandel vollkommen umkehren, beispielsweise Vulkanausbrüche. Schnell könnte es zu starken Abkühlungen und Verdunkelungen kommen; der Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island in 2010 gab einen Vorgeschmack. Größere Vulkane könnten noch verheerendere Wirkungen weltweit zeigen. Unabhängig von den Maßnahmen zum Stoppen des Klimawandels gilt es, diese Erfahrungen nicht zu ignorieren und die Möglichkeit einer Wiederholung – die auch für die erneuerbaren Energien massive Folgen haben würden – nicht zu vernachlässigen. Der einseitige Blick auf den Klimawandel macht viele blind für weitere, auch gegenläufige Herausforderungen, auf die wir ebenfalls vorbereitet sein müssen.

Als ein letztes Beispiel sollte die „Personalisierung“ nicht unerwähnt bleiben. Treten in Projekten oder Initiativen und Maßnahmenpaketen unerwartete Abweichungen zu den Erwartungen auf, so wird schnell nach einem Schuldigen gesucht. Im Komplexen ist jedoch alles vernetzt. Unter Ausklammerung von Vorsatz sind Schuldzuweisungen nicht zielführend. Stattdessen sind viele Komponenten zu berücksichtigen.

Planungsfehler

Wir betrachten hier zwei Ausprägungen: die Methodenfixierung und die Überbewertung von Korrelationen.

Die Methodenfixierung lässt sich unter anderem an Floskeln wie „das haben wir schon immer so gemacht“ erkennen, die viele verschiedene Formulierungen kennt. Ein aktuelles Beispiel ist die seit Jahren stattfindende Durchsetzung des Dogmas der Substitution von gefährlichen Chemikalien in der EU. Der gewählte gefahrenbasierte Ansatz wird immer weiter fortgeführt, obwohl sich seine Nichteignung seit Jahren zeigt. Beispielsweise gibt es seit vielen Jahren das STOP-Prinzip im Arbeitsschutz. Es setzt eine Substitution an die erste Stelle von Arbeitsschutzmaßnahmen. In vielen Fällen war Substitution jedoch nicht möglich, weil wirtschaftlich und/oder technisch nicht sinnvoll. Stattdessen griffen andere Maßnahmentypen (technische, organisatorische, persönliche Schutzmaßnahmen). Chromtrioxid im Bereich der funktionellen Verchromung ist ein gutes Beispiel. Hier konnte nicht substituiert werden. Die EU kam jedoch auf die Idee, dass Substitution alternativlos ist. Daher wurde die Beweislast umgekehrt und die Verwender sollten beweisen, dass eine Substitution nicht möglich ist. Diese EU-Idee – genannt Autorisierung – scheiterte kläglich; nicht nur wegen der enormen Arbeitsaufwände, sondern wegen der unüberschaubaren Folgen entlang der komplexen Lieferketten. Anstatt jedoch den grundsätzlichen Ansatz zu überdenken, sattelt die EU jetzt noch einmal auf: Nun sollen es Substitutionszentren richten, welche die Unternehmen zur Substitution anleiten. „Mehr vom Gleichen“ ist bei erfolglosen Konzepten ein sinnloses Vorgehen.

Die Überbewertung von Korrelationen ist vielen von uns schon untergekommen und auch selbst unterlaufen. Dingen, die gleichzeitig oder am gleichen Ort auftreten, wird ein kausaler Zusammenhang zugeschrieben. Sie müssen jedoch nicht zusammenhängen – zumindest nicht direkt. Nehmen wir wieder eine „wissenschaftliche“ Studie zum PFHxA (ein PFAS), die gern zum Beweis der Schädlichkeit für die Reproduktion herangezogen wird[2]. Die Substanz wurde Nagetieren verabreicht und mit der Zeit bzw. überhöhten Dosen traten verringerte Gewichte bei den Föten schwangerer Tiere auf. Der Zusammenhang scheint klar. Da aber kein Mechanismus ermittelt wurde, handelt es sich lediglich um eine Korrelation, die eine Hypothese nach sich ziehen, aber kein Beweis sein kann. Folgende Überlegung stellt die Schlussfolgerung in Frage: Bei Umrechnung der schädlichen Dosis der Nager auf Menschen, so ergeben sich tägliche Mengen im Grammbereich (die durch keine reale Quelle aufgenommen werden können!). Würde sie einer Schwangeren tatsächlich verabreicht, müsste ihr Magen-Darm-Trakt mit großen Mengen unverdaulichem Material zurechtkommen, die täglich zunimmt. Übelkeit wäre zu erwarten. Monatelange Übelkeit und Erbrechen in der Schwangerschaft führen aber sicher zu Problemen des heranwachsenden Kindes. Dies ist zwar ebenfalls nur eine Hypothese; sie zeigt jedoch, wie vorsichtig mit der vorschnellen Ableitung von linearen Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus Einzelbeobachtungen umzugehen ist.

Zielfehler

Greifen wir drei beispielhafte Typen heraus: unklare globale Ziele, Vermeidungsziele und (zu) einfache Ziele:

Globale Ziele sind sehr publikumswirksam. Sätze wie „Wir müssen besser werden“ oder „Die Umwelt muss gesünder werden“ lassen sich gut verstehen, bis wir ihnen konkret nachkommen wollen. Ohne klare Ziele mit quantitativen Kriterien sind rationale Maßnahmen und objektive Bewertungen nicht möglich. Es lassen sich zwar auch qualitative Ziele setzen, sie müssen jedoch besonders sorgfältig definiert (und überprüfbar) sein. Ohne klare Zieldefinitionen bleiben Handlungen zufällig und werden durch subjektive Bewertung entwertet. Dieser Fehler findet sich zum Beispiel in einem angeblich richtungsweisenden Gesetzeswerk der EU; REACH! Gleich zu Beginn werden die wesentlichen Ziele definiert: „Diese Verordnung sollte ein hohes Schutzniveau für die menschliche Gesundheit und für die Umwelt sicherstellen sowie den freien Verkehr von Stoffen (…) gewährleisten und gleichzeitig Wettbewerbsfähigkeit und Innovation verbessern.“ So eingängig diese Ziele sein mögen, auf den insgesamt über 500 Seiten der Verordnung werden nirgends messbare Kriterien genannt. Es geht nur um die Verwaltungsprozesse, die zu diesen Zielen führen sollen. Eine Überprüfung ist nicht vorgesehen – außer einem Bericht der Kommission an das Parlament alle fünf Jahre. Ohne klare Kriterien bleibt dieser jedoch bezüglich Inhalt und Verhältnismäßigkeit vage und subjektiv.

Vermeidungsziele wie „Es sollen keine giftigen Stoffe mehr verwendet werden“ oder „Es sollen keine Ressourcen mehr verschwendet werden“ sind ebenfalls keine ausreichende Zielbeschreibung. Wann wäre das Ziel erreicht? Bei 0 Prozent? Oder ist ein Rest erlaubt? Wenn ja, wie viel? 100-Prozent-Ziele sind sehr selten erreichbar in komplexen Systemen, denn es treten immer widerstreitende Interessen bzw. Erwartungen auf. Auch 100-prozentige Sicherheit ist leider eine Illusion. Es gilt sich also zu einigen, welches Risiko und welche Umweltauswirkung als unabänderlich zu akzeptieren sind. Alles andere lässt sich stets in Frage stellen.

Zu einfache Ziele kennt sicher auch jeder. „Eines nach dem anderen!“, „Wir müssen nur die Ursache finden!“ oder „Wir wissen doch, worauf es ankommt!“ sind in komplexen Zusammenhängen problematisch, da sie versuchen, die Komplexität zu simplifizieren. „Verbieten wir erst einmal pauschal Substanzen. Danach wird sich schon eine andere Lösung finden!“ Solche Herangehensweisen sind zwar üblich, in komplexen Systemen sind sie jedoch ungeeignet. „Man kann in komplexen Realitäten nicht nur eine Sache machen. Man kann auch nicht nur ein Ziel anstreben. Strebt man nur ein Ziel an, so kann es sein, dass man dadurch unversehens andere Missstände, also neue Probleme schafft.” [3] So fordert zum Beispiel die neue Industrieemissionsrichtlinie (IED) 2.0 die Minimierung sowohl aller Einsatzstoffe als auch der Energie bei industriellen Prozessen. Jeder Einsatz wird dabei singulär betrachtet, Abweichungen müssen begründet werden. Dabei sollte jedem klar sein, dass hier gegenläufige Parameter am Werk sind, die eben nicht unabhängig voneinander minimiert werden können. Soll beispielsweise der Wasserverbrauch minimiert werden, indem eine 100-prozentige Rückführung mittels Verdampfern realisiert wird, steigt der Energieverbrauch. Manche Eingangsgrößen lassen sich gar nicht verringern – beispielsweise der Verbrauch an Metallsalzen zur elektrochemischen Abscheidung bestimmter Schichtdicken. Jedes andere Minimum als Null wird begründet werden müssen. Doch wie lässt sich Vergleichbarkeit über die gesamte galvanische Branche schaffen, die beliebige Bauteile beliebig veredelt? Die Sinnlosigkeit des Simplifizierens komplexer Zusammenhänge wird hier deutlich.

Ziele sollten grundsätzlich konkret, eindeutig, messbar, erreichbar, beeinflussbar, widerspruchsfrei, endlich und nicht zuletzt attraktiv sein. Gerade in der europäischen Regulierung werden diese notwendigen Eigenschaften meist ignoriert.

Bewertungsfehler

Der erste Bewertungsfehler, der hier genannt werden soll, ist ein alter Bekannter: Das Schönrechnen! Zur Bewertung des Fortschritts oder Erfolgs werden lediglich Informationen herangezogen, die zur Erwartung passen. Abweichende Informationen werden ignoriert oder zumindest kleingeredet. Betrachten wir zum Beispiel die Zusammenfassung des REACH-Berichtes der ECHA aus dem Jahre 2022[4]. Wie bereits früher erwähnt, hat REACH vor allem drei Ziele: Schutz der Umwelt und der Gesundheit des Menschen, einen funktionierenden Binnenmarkt und die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der EU. Zu Beginn betont die ECHA: „Diese Zusammenfassung liefert einen Überblick über unsere Erfolge und die Herausforderungen, denen wir uns im Jahr 2022 stellen mussten.“ Im nachfolgenden Text findet sich jedoch nichts zu den drei Hauptzielen. Stattdessen werden Ergebnisse bei der Durchführung der Verwaltungsprozesse als positive Resultate kolportiert. Die Frage, ob die Kernziele der Verordnung REACH überhaupt erreicht wurden, wird ignoriert.

Die zweite Form von Bewertungsfehlern ist das fehlende Bemühen um Falsifikation. Sie ist ein grundsätzliches wissenschaftliches Prinzip. Jede Hypothese muss geprüft werden, möglichst öffentlich. Daten für die Unterstützung der Hypothese zu finden, ist meist leicht. Aber ein einziges Gegenbeispiel kann sie in Frage stellen oder gar widerlegen. Dem stellt sich vor allem der politische und behördliche Bereich ungern – wer macht schon gern Fehler oder irrt sich? So wird schnell mal „Alternativlosigkeit“ postuliert. Gegenuntersuchungen werden nicht gefördert, Gegenbeispiele nicht zur Publikation zugelassen. Ein gutes Beispiel ist hier wieder das Substitutionsdogma der europäischen Chemikalienregulierung. Für den Ersatz durch andere Stoffe gibt es bei Substanzen mit gefährlichen Eigenschaften laut EU keine Alternative bzw. sie wird nicht erwogen. Technische Beherrschung oder die Tatsache, dass keine nachteiligen Effekte beobachtet werden können, gilt nicht als relevant. Auch dass geringe zeitliche Expositionen leicht durch persönliche Schutzausrüstung als risikoarm betrachtet werden können, wird verdrängt. Komplexität wird hier simplifiziert, indem Teile des Systems (Gesellschaft, Wirtschaft etc.) außer Acht gelassen werden.

In gleicher Weise wird das Scheitern der Energiewende ausgeschlossen. „Die Sonne stellt keine Rechnung!“ erscheint als Totschlagsargument für alle Falsifikationsversuche. Stellen sich die Ergebnisse nicht so ein wie erwartet, werden die Anstrengungen gesteigert und „mehr vom Gleichen“ gemacht. Wird beispielsweise die Berechnung auf die Sonneneinstrahlung reduziert, so ist das vordergründig ein Gewinn. Was ist aber mit den Herstellungsverfahren, den Rohstoffbedarfen, der Flächennutzung, den Kosten für Investition, Installation, Wartung und Entsorgung? Hier entstehen sehr wohl Kosten, die zu Alternativen in Beziehung gesetzt werden müssen. Aber widersprechende Daten und Informationen werden ignoriert oder auch schnell mal als Fakenews deklariert. Das macht es einfach, aber diese Vorgehensweise ist nicht erfolgversprechend.

Korrekturfehler

Eine erste Art dieses Fehlers ist fehlende Selbstkritik – also das Verneinen, dass man überhaupt etwas korrigieren muss. Jeder kennt die Aussagen von Verliererparteien bei Wahlen. Nicht die Partei hat falsche Vorstellungen, die überwiegende Zahl der Wähler hat es nur nicht verstanden! Der Umgang mit komplexen Systemen fußt jedoch auf der Beobachtung der Wirkung eigener Einflussnahmen, dem Erkennen des Systemverhaltens. Treten Abweichungen auf, so muss korrigiert werden. Dies schließt die Rücknahme von Maßnahmen mit ein!

Eine moderne Form des Korrekturfehlers ist es, nur Personen mit gleicher Überzeugung und „Experten“ mit passenden Meinungen zu berücksichtigen (siehe auch „Schönrechnen“ bei Bewertungsfehlern). Soziale Medien kultivieren ein solches „Gleichschalten“ durch ihre Algorithmen. Posts mit gleichen Meinungen werden häufiger und irgendwann ausschließlich zitiert (bzw. angeboten). So fühlt man sich wohl, erhält Bestätigung in der eigenen Überzeugungs-Blase. Irgendwann ist ein Korrigieren nicht mehr notwendig, denn es gibt ja keine abweichende Meinung! So werden Studien gern an Institute vergeben, von denen bekannt ist, dass deren eigene Agenda und (finanzielle) Verflechtung mit den Auftraggebern eine Unterstützung der Prämissen erwarten lassen. Es wird von Wissenschaft gesprochen, aber tatsächlich ist es eine „selbstbewahrheitende Prophezeiung“. So entstehen zum Beispiel immer mehr Studien zur Substitutionsmöglichkeit von Chromtrioxid. Aber keine einzige von der EU beauftragte untersucht, warum die Substitution am Markt weitgehend chancenlos ist und erst auf Regulierungsdruck erwogen wird. In den Autorisierungsanträgen wird es vielfach erklärt – aber das findet hier keine Beachtung!

Kommunikationsfehler

Hier kommen wir zu einem wenig beachteten Aspekt. Kommunizieren setzt voraus, dass wir die gleiche Sprache sprechen und verstehen! Nur dann ist es möglich, Bedürfnisse, Möglichkeiten und Vorgehensweisen in Übereinstimmung zu regeln. Das ist insbesondere für das Verhältnis von Regierung bzw. Obrigkeit zu seinem Souverän, dem Bürger, von entscheidender Bedeutung. Historisches Beispiel ist die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther. Bis dahin konnten die „einfachen“ Bürger nicht verstehen, was ihnen ihre religiösen Führer vortrugen und ob die Gebote, die sie befolgen mussten, wirklich Gottes Wort waren[5]. Auch die EU sollte sorgfältig Sorge tragen, dass ihre Bürger sowohl ihr gesprochenes als auch ihr schriftliches Wort problemlos verstehen und sich dazu äußern können. Nur dann kann in einem so komplexen System wie der EU wirklich jeder Bürger teilnehmen, als Grundvoraussetzung für Demokratie! Wie sieht es aber in der EU aktuell aus? Hauptsprache der EU-Kommunikation ist nach wie vor Englisch. Seit dem Brexit gibt es jedoch nur noch rund 5,5 Millionen Muttersprachler (Irland und Malta), das sind etwa 12 Prozent. Gleichzeitig sind laut Erasmus 46 Prozent der EU-Bürger nicht in der Lage, ein Gespräch in einer Fremdsprache zu führen[6]. Damit sind fast die Hälfte der EU-Bürger von den endlosen Dokumenten und Online-Veröffentlichungen der EU, die meist nicht aus dem Englischen übersetzt werden, ausgeschlossen – allein wegen Ihrer Herkunft! Wie kann hier von Beteiligung und Gleichbehandlung ausgegangen werden? Wie sollen die komplexen Herausforderungen der EU gemeinsam gestemmt werden?

Weitere Fehler in der Kommunikation sollen nur aufgezählt werden: fehlende konkrete Zielvereinbarungen (siehe Zielfehler), fehlende Zwischenabstimmungen („kein Plan übersteht die erste Feindberührung“; Moltke), Kommunikationseinbahnstraßen und unzureichende Kommunikationskanäle. All dies behindert die Beteiligung der Betroffenen und damit ein gemeinsames Vorgehen in komplexen Systemen. Dies ist aber unabdingbar, um sicherstellen zu können, dass Neben- und Wechselwirkungen bestmöglich berücksichtigt und dauerhaft beobachtet werden können.

Fehldosierung

Dieser Fehler sollte intuitiv klar sein, auch in seiner Wirkung. Maßnahmen und damit ihre Nebenwirkungen schießen weit über das Ziel hinaus. Beispiel ist eine Reaktion der EU auf die Covid Krise: „Die EU hat im Juni 2020 ihre Strategie für die Beschaffung von Impfstoffen auf den Weg gebracht. Bis Ende 2021 hatte sie Verträge im Wert von 71 Milliarden Euro unterzeichnet, mit denen bis zu 4,6 Milliarden Impfstoffdosen gesichert wurden.“[7] Die Anzahl der georderten Impfdosen stellte damit für jeden EU-Bürger rechnerisch zehn Exemplare bereit. Selbst unter pessimistischsten Prognosen dürfte dieser Wert sehr hoch sein – wie sich tatsächlich zeigte. Sinnvoll wären wohldosierte Schritte gewesen, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren; schließlich wurden die Impfstoffe weiterentwickelt und wir leben in keiner Perma-Pandemie. Dass es sich um eine Fehldosierung handelte, ist eindeutig. Ebenso ist plausibel, dass die aufgewendeten Mittel für andere Zwecke fehlen und dies Nebenwirkungen verursacht, die nicht auf die Gesundheitspolitik begrenzt bleiben müssen.

Der gefahrenbasierte Ansatz zur Chemikalienregulierung führt zur Betrachtung von tausenden von Substanzen, vorangetrieben von einer steigenden Zahl von Behörden und Regulierern in EU und Nationalstaaten. Tausende von Substanzen, die in einer unübersehbaren Anzahl von aktuellen Anwendungen stehen, die noch dazu über Lieferketten vernetzt sind. Das fehlende Priorisieren führt zu einer endlosen Regulierungswelle und steigender Bürokratie. Dabei führen viele Verwendungen zu keinem messbaren Risiko – weder für uns Menschen, noch für die Umwelt. Ein eindeutiger Fall von Fehl-(Über-)dosierung. Durch eine Beschränkung auf tatsächliche Risiken könnten schneller und direkter positive Wirkungen erzielt werden. So steigen stattdessen Bürokratie, Kosten und Zeitbedarf. Nebenwirkungen wie erhöhte fachfremde Personalbindung, Verringerung der Wettbewerbsfähigkeit, Firmenabwanderung in EU-ferne Gefilde, Innovationsverzögerung sowie Planungsunsicherheit sind real zu beobachten. Verbesserungen beim Schutz von Umwelt und Mensch sind allenfalls marginal. Was dies für das komplex verflochtene Wirtschaftssystem Europas bedeutet, ist offensichtlich.

Timing

Komplexe Systeme zeigen ausgeprägte zeitliche Effekte. Manche Wirkungen treten spontan ein, andere erst verspätet oder werden durch vorgelagerte Eingriffe sogar verhindert. Die Gründe für falsches Timing sind vielfältig: Ungeduld, äußere Handlungszwänge, mangelndes Verständnis/mangelnde Erfahrung, Angst, Selbstüberschätzung oder auch die fehlende Akzeptanz des Unvermeidlichen.

Ungeduld zeigt sich zum Beispiel in zu kurzen Fristen für Reaktionen auf offizielle Anfragen der europäischen Behörden. „Public consultations“ oder „calls for evidence“ werden da gern über Feiertage oder Urlaubszeiten angesetzt. So stehen die Informationen nach der eigenen Abwesenheit zur Verfügung. Oder auch nicht, was die Auswertung verkürzt.

Äußere Handlungszwänge zeigen sich aktuell im STM-BREF-Prozess. Politisch werden neuerdings Umweltleistungskennwerte (AEPL) als Vorgabe in BAT[8]-Schlussfolgerungen gefordert (Industrieemissionsrichtlinie 2.0). Der Prozess der BREF-Überarbeitung ist bereits weit fortgeschritten. Die auf diese neue Anforderung nicht ausgelegten Datengewinnungsmethoden können die Informationen zu AEPL nicht liefern, dennoch sollen die Meilensteine gehalten werden.

Unverständnis bzw. mangelnde Erfahrung ist häufig in Regulierungskreisen anzutreffen. Kaum jemand war selbst in Wirtschaftsunternehmen tätig[9], die STM-BREF-Bearbeiter waren Ende 2023 das erste Mal in betroffenen Unternehmen und lernten die Technologie kennen. Bei Sitzungen des RAC und SEAC der ECHA zu Autorisierungen sind die Berichterstatter meist nicht vom Fach, sollen aber die detaillierte Auswertung von Anträgen zur Entscheidungsvorbereitung vornehmen. So muss zu Beispiel ein Biologe aus der universitären Forschung die Berichterstattung zu sozioökonomischen Folgen einschätzen[10].

Angst führt schnell zu hektischer, irrationaler und wenig durchdachter Reaktion. Die Angst vor Krebserkrankungen führt zu einem Brute-Force-Ansatz, also einer erschöpfenden Suche nach Lösungen für alle denkbaren krebsauslösenden Substanzen. Die Substitution aller Substanzen, möglichst umgehend, wird als alternativlos betrachtet. Auch viele Programme zur Bewältigung des Klimawandels zeichnen sich durch überhastete Maßnahmen und gar Gesetze aus. Ständig andere Technologien als „die Lösung“ zu präsentieren (Batterien, Wasserstoff …), verdeutlicht dies. Eine Transformation ist aber doch nur sinnvoll, wenn der zu Transformierende das Ende der Transformation noch erreicht. Für die deutsche Wirtschaft ist das derzeit fraglich[11]. Hier tritt auch Selbstüberschätzung auf, indem einige aus deutschen Politiker- und Regierungskreisen davon ausgehen, beispielgebend für die gesamte Welt zu sein oder zu werden. Wenig spricht jedoch dafür.

Zuletzt noch die wichtige Akzeptanz des Unvermeidlichen. Oft wird versucht, Fortschritte und Ergebnisse zu erzwingen. Beispielsweise erhalten Substanzen, die substituiert werden sollen, Übergangsfristen von vier oder sieben Jahren, in besonderen Fällen auch mal 13,5 Jahre (PFAS-Beschränkungsentwurf). Es ist jedoch kaum zu vermeiden, dass diese Fristen nicht einhaltbar sein werden. Das ergibt sich aus der Struktur der Wirtschaft in Lieferketten. Gesetzt den Fall, ein Vorlieferant konnte ein Substitut finden – dann muss sein Lieferkettennachfolger noch die gleiche Eignung feststellen, dann sein Nachfolger und dann ggf. ein weiterer bis am Ende vielleicht auch der Endnutzer Akzeptanz zeigen muss. Jeder einzelne Schritt kann Jahre in Anspruch nehmen (von Entwicklung bis zu Feldtests). Das ist unvermeidlich, wenn realistische, verwendbare Lösungen erzielt werden sollen – es ist notwendig, es sei denn, die Lieferkette wird geopfert.

Zusammenfassung

Die Ausführungen haben gezeigt, dass sich viele Fehler im Umgang mit komplexen Systemen in Politik und Regulierung finden lassen. So wundert es nicht, dass eine gut gemeinte Aktion oft haarsträubende neue Probleme schafft. Gut gemeint ist eben nicht gut gemacht!

Wir alle müssen lernen, den komplexen Zusammenhängen in Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch Projekten in Unternehmen oder Forschung und Entwicklung informiert entgegenzutreten. Der typische Managementwerkzeugkasten genügt dafür nicht. Seine Werkzeuge setzen praktisch immer Linearität, das heißt eine eindeutige Richtung von Ursache-Wirkung voraus. Er verspricht eindeutige, wiederholbare und vorhersagbare Ergebnisse, die es zu finden gilt. Genau diese Voraussetzungen gelten für komplexe Zusammenhänge nicht. Hier braucht es andere Denk- und Herangehensweisen, die es zu trainieren gilt.

[1] D. Dörner, „Die Logik de Mißlingens, ISBN 9783499615788

[2] echa.europa.eu/documents/10162/1c480180-ece9-1bdd-1eb8-0f3f8e7c0c49

[3] D. Dörner, „Die Logik de Mißlingens, ISBN 9783499615788

[4] echa.europa.eu/documents/10162/7362407/annual_report_2022_executive_summary_de.pdf/d0a727ca-f871-b93d-77d0-a8390dd9730d

[5] www.planet-wissen.de/kultur/religion/martin_luther/pwiedielutherbibel100.html.

[6] erasmusplus.at/fileadmin/Dokumente/erasmusplus.at/Wirkung/Spracheninitiativen/EU-Infografik_Sprachenvielfalt_in_der_Europaeischen_Union.pdf

[7] op.europa.eu/webpub/eca/special-reports/covid19-vaccines-19-2022/de/

[8] Best-available-technology

[9] echa.europa.eu/de/about-us/who-we-are/committee-for-risk-assessment/members-of-the-rac

[10] echa.europa.eu/documents/10162/2166565/seac_mini_cv_janssen_en.pdf/a1e8a446-7f14-6270-e5a9-79c392e78a15

[11] www.dihk.de/de/themen-und-positionen/wirtschaftspolitik/konjunktur-und-wachstum/konjunkturumfrage-fruehsommer-2024

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