Die geringen Rücklaufquoten mehrerer Studien festigen die Wahrnehmung, dass der Umgang mit einem alltäglichen Thema immer noch verschämt ist: über Sex zu sprechen, ist vor allem bei älteren Menschen verpönt. „Das rührt vornehmlich aus der Zeit, in der sie aufgewachsen sind“, weiß die Ergotherapeutin Laura Stenzel. Christliche Wertevorstellungen und die Prägung, Sex als reinen Fortpflanzungsakt zu betrachten, führen dazu, dass vermehrt ältere Menschen Störungen der Sexualität nicht als das ansehen, was es ist: ein medizinisch bedeutsames Problem. Betroffene kommen auch daher selten auf die Idee, ihren Arzt oder ihre Ärztin dazu zu konsultieren. Alter und Geschlecht spielen hierbei ebenfalls eine Rolle. So haben etwa ältere Männer, auch das ist das Ergebnis einer Befragung, deutlich mehr Hemmungen, ihre sexuellen Probleme mit jungen Ärztinnen zu besprechen. Das typische Bild eines potenten Mannes steht ihnen im Weg. Dabei wäre ärztliche und in vielen Fällen weitere professionelle Hilfe wie die von Ergotherapeut:innen der beste Weg, um ihrer Rolle wieder gerecht zu werden.
Ergotherapeut:innen entdecken Vieles – auch sexuelle Nöte
Nicht selten beeinträchtigen Erkrankungen oder deren medikamentöse Behandlung das Sexualleben. Neben einer erektilen Dysfunktion sind häufig Depression, Schlaganfall, ein veränderter Hormonhaushalt, Bluthochdruck, Rheuma, die Folgen einer Querschnittlähmung oder einer OP wie etwa nach dem Einsetzen einer Hüfttotalendoprothese und Nebenwirkungen von Medikamenten Gründe, warum temporär oder dauerhaft kein Sex mehr stattfindet. Ärtzt:innen fehlt meist die Zeit oder sie sehen es nicht als ihre Aufgabe an, mit ihren Patient:innen über die Auswirkungen ihrer Erkrankung auf das sexuelle Verlangen zu sprechen. Dass Patient:innen ihre Probleme beim Sex aktiv ansprechen, passiert selten. Selbst bei Gynakolog:innen und Urolog:innen, die die Geschlechtsorgane untersuchen, fallen zwar die Hüllen, die Hemmschwelle Betroffener, ärztlichen Rat wegen ihre Schwierigkeiten beim Sex einzuholen, bleibt dennoch bei vielen hoch. Diese Menschen ‚zu öffnen‘ gelingt eher bei einer ergotherapeutischen Intervention, wenn sich etwa bei der Anamnese herausstellt, dass das Gefühls- und Sexualleben eines Menschen mit einem neurologischen, psychischen oder sonstigen Befund im Argen liegt. Zu wenig oder kein Sex kratzt eben nicht nur am Ego – das geht viel tiefer. Es ist ein gesundheitliches Problem.
Sexprobleme bei der ergotherapeutischen Intervention auf medizinisches Level bringen
„Oft erlebe ich, dass gerade ältere Menschen sich durch das eigene Kopfkino ausbremsen“, berichtet die Ergotherapeutin Laura Stenzel von weiteren Aspekten, die ein erfülltes Sexualleben verhindern. Sowohl Frauen als auch Männer leiden mit zunehmendem Alter unter der sich verändernden Morphologie. Es liegt oft an den gesellschaftlichen Erwartungen und an den vermittelten Bildern: Attraktivität bei Frauen oder ‚Allzeit bereit‘ bei Männern kollidiert mit der Realität älterer oder alter Menschen. Das führt häufig dazu, dass Frauen sich mit dem Entstehen von Falten nicht mehr als attraktiv empfinden und daher Sex und Intimität meiden. „Im Alter geht es viel um ein neues Selbst- und Körperbild“, erklärt die Ergotherapeutin Stenzel. Bei ihren ergotherapeutischen Interventionen stärkt sie Frauen, deren Libidoverlust beispielsweise darauf zurückgeht, dass sie sich nicht mehr attraktiv finden, weil sie dem gesellschaftlichen Bild von jugendlicher Schönheit nicht mehr entsprechen. „Männern geht es auch nicht besser“, sagt die Ergotherapeutin und berichtet von einem Patienten, der unter einer erektilen Dysfunktion litt, die, wie sich zeigte, auf Versagensängsten beruhte. Kam es – trotz seiner einfallsreichen Vermeidungsstrategien – dann doch zum Sex, verstärkten sich seine Ängste derart, dass nichts mehr klappte. Mithilfe eines Schaubilds und der Aussage der Ergotherapeutin, dass diese Ängste und Verhaltensweisen bei seinen Alters- und Geschlechtsgenossen durchaus verbreitet sind, war der Bann gebrochen. Wissend, dass er selbst seine Impotenz mitverursachte, gelang die Wende. In einer gemeinsamen Therapiestunde zusammen mit der Ehefrau bahnte die Ergotherapeutin die Kommunikation zwischen den beiden wieder an – der Neubeginn eines zunehmend erfüllten Sexuallebens.
Ergotherapeutische Beratung umfasst Sextoys
Flankierend fand die Ergotherapeutin gemeinsam mit dem Klienten für ihn passende Entspannungsmethoden, die das Gedankensprudeln eindämmen. Und sie arbeitete edukativ, also aufklärend, um die vielen Facetten des Krankheitsbildes zu vermitteln; ein weiterer Schritt, um das Sexproblem auf ein medizinisches Level zu bringen. Auf den ersten Blick nicht medizinisch ist in diesem Kontext die Hilfsmittelberatung. Einige der Hilfsmittel gibt es im Sexshop; drei davon darf in bestimmten Fällen der Arzt oder die Ärztin sogar verordnen. Zu Hilfsmitteln zu beraten, ist ein klassisches Feld von Ergotherapeut:innen – auch in diesem Zusammenhang. Die Expertin und Ergotherapeutin Laura Stenzel hat sich hierfür eine Sammlung zugelegt: Bei ihr finden die betroffenen Klient:innen vom Vibrator über Erektionsring und -pumpe bis hin zu Liebeskugeln Hilfsmittel für erfüllten Sex – ohne ‚Chichi‘ und Glitzer versteht sich. Sie dürfen hier, im sicheren Raum, alle Sextoys betrachten und in die Hand nehmen. Im medizinischen Umfeld der Ergotherapeutin muss sich niemand schämen. Im Gegenteil: es ist von ergotherapeutischer Seite gestattet und erwünscht: der Gang in den Sexshop darf ‚normal‘ sein. Ebenso wie Sex, unabhängig von Alter, Geschlecht oder anderen Faktoren.
Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche
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