Ein katholischer Pfarrer darf in der Novelle „Sonntagspredigt oder Heimkehr auf die Insel“ von Siegfried Maaß zu DDR-Zeiten nicht zum Krankenbesuch seiner Mutter in den Westen reisen. Das dafür notwendige Visum wird ihm mit einer zynischen Begründung verweigert. Schließlich sei er nicht verheiratet …
In „Die Zeitreisende, 17. Teil. Auf der Suche nach dem Paradies. Ein phantastischer Roman“ von Zeitreiseleiter Hardy Manthey geht es eben darum – um das Paradies und die Suche danach. Wird es Aphrodite finden? Und wo genau liegt es?
Nach längerer Zeit hat EDITION digital wieder einmal einen Mystery-Thriller im Programm: In „Die Gabe – Segen oder Fluch“ von Iris M. Steiger verfügt die siebzehnjährige Ella seit dem Unfalltod ihrer Mutter über die Fähigkeit zu außersinnlichen Wahrnehmungen, kann die Aura anderer Menschen sehen und fühlen. Aber genau diese geheimnisvolle Gabe ist für sie keineswegs nur ein Segen, sondern zugleich auch ein Fluch. Zumal Ella auch in die Vergangenheit und in die Zukunft sehen kann. Und in der Zukunft sieht sie Schreckliches …
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Auch heute präsentiert EDITION digital wieder einen Autor, der es verstand, ebenso spannend wie mit politischem Tiefgang zu schreiben und der seine Leser hinter die Kulissen der weltweiten politischen Auseinandersetzungen und besonders hinter die Machenschaften der US-amerikanischen Weltmachtpolitik blicken ließ. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick an das Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu als diesmal etwas längere Einführung in das Thema ein aus „Das Blättchen. Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft“ vom 8. Mai 2017 entnommenes Zitat. Unter der schönen Überschrift „Ach du meine Presse!“ schrieb Autor Herbert Bertsch damals unter anderem: „Unser folgender Geschichtsbezug dazu ist legendär und wird wohl bei allen Journalistenschulen und in einschlägigen Lehrmaterialien exemplarisch verwendet, wenngleich möglicherweise selbst Legende; denn es fehlt der dokumentarische Nachweis des häufig zitierten „Telegrammaustauschs“. Deshalb und vorab: Ob tatsächlich so geschehen oder gut erfunden – auf beide Varianten ist das Bonmot „Das ist einfach zu gut, um nicht wahr zu sein.“ anwendbar.
Es geht um das Vorspiel zum Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898. Da gab es William Randolph Hearst, einen der reichsten Männer der Welt und, neben seinem ehemaligen Mentor Pulitzer, „Erfinder“ der Yellow Press als Quelle von Profit und Instrument der Meinungsmache vermittels echter oder aufgepuschter Nachrichten und deren Vermischung mit Kommentaren – also BILD vorweg genommen!.
Im Dezember 1896 engagierte Hearst den damals sehr erfolgreichen Western-Illustrator Frederic Sackrider Remington, dessen „Vor-Bild“ das Indianerbild ganzer Generationen auch in Europa prägte, um nach Havanna zu reisen und Bilder vom „Kriegsgeschehen“ zu liefern. Nach wenigen Tagen auf Cuba, noch im Januar 1897, kabelte Remington gelangweilt: „Everything is quiet. There is no trouble here. There will be no war. I wish to return.“ Hearsts Antwort: „Please remain. You furnish the picture, and I’ll furnish the war.” („Alles ist ruhig. Keine Unruhe hier. Es wird keinen Krieg geben. Ich komme zurück.“ Retour: „Bleiben und liefern Sie Bilder – den Krieg liefere ich.“) Offenbar nicht hochgelogen. Am 15. Februar 1898 explodierte im Hafen von Havanna das US-Kriegsschiff „Maine“, das entsandt worden war, um Druck auf Spanien auszuüben, aus „unbekannten Gründen“, was bei Hearst zur Schlagzeile gerann: „Remember the Maine, to hell with Spain“. Am 25. April 1898 erklärten die USA Spanien dann auch formal den Krieg, der per Vertrag von Paris am 10. Dezember 1898 mit Ergebnissen endete, die bereits damals voll den Anspruch „America first“ erfüllten: Landgewinn auch, vor allem aber die „Neuordnung“ bei den überseeischen Kolonien Spaniens sowie für die USA Zugang zu den asiatischen Märkten.“
Dieses damalige US-amerikanische Vorgehen unterscheidet sich kaum oder gar nicht von 1965 oder den gegenwärtigen Zeiten.
Erstmals 1980 veröffentlichte Wolfgang Schreyer im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig „Der Reporter. Die dominikanische Tragödie, 3. Band“: Santo Domingo, April 1965: Drückende Stille über der Insel. Noch vor John F. Kennedys Ermordung ist hier sein demokratischer Versuch gescheitert. Ein Militärputsch hat das „Schaufenster“ zerstört. Als hätte es weder Trujillos 30-jährige Schreckensherrschaft noch die sieben Monate des Sozialreformers Juan Bosch gegeben, herrscht die alte Oberschicht – gedeckt von konservativen US-Beamten und Wirtschaftsmächten …
Da erhebt sich mit der Garnison plötzlich das Volk in der Hauptstadt. Bürgerkrieg! Und niemand – kein Diplomat, kein Geheimdienstler, kein Reporter – hat das kommen sehen. Der Aufstand greift auf das Hinterland über. Präsident Johnson will ihn unter dem Vorwand, eigene Bürger zu retten, mit zwei Divisionen schlagartig ersticken. „Was richten wir denn in Vietnam aus“, fragt er seinen Krisenstab, „wenn wir nicht mal klar Schiff machen können in der Dominikanischen Republik?“ So entbrennt, in der ältesten Stadt Amerikas, die Schlacht um den Weg einer formell freien Nation – vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Denn in vier Monaten Bürgerkrieg wird dies immer mehr ein Kampf der Meinungen und der Berichte, geführt von den Massenmedien vieler Länder, die ihre Vertreter entsenden.
Und nicht umsonst trägt dieses Buch den Titel „Der Reporter“: Erzählt wird die Geschichte eines nordamerikanischen Auslandskorrespondenten. Mit all seinen Lebensproblemen – und der karrierelüsternen Gefährtin – findet er sich jäh im Hexenkessel wieder, an der Nachrichtenfront des Kriegsschauplatzes Nummer eins. Dort trifft er Menschen aller Schichten und politischen Schattierungen, um aus ihren Worten und Taten ein Mosaik der Wahrheit zu gewinnen … Menschen, die der Belastung gewachsen sind, und solche, die daran zugrunde gehen, körperlich und seelisch. Und auch er selber, nicht sehr gesund, scheint mehr als einmal zu erliegen: dem Zwang zum Erfolg, dem Tempodruck, den Versuchungen und schließlich Drohungen beruflicher, ja physischer Vernichtung.
Vor dem Hintergrund eines gut dokumentierten Vorgangs von weltpolitischem Rang, wirft Wolfgang Schreyer erneut Fragen journalistischer Arbeitsweise wieder auf, die schon im Zentrum seines Romans „Tempel des Satans“ standen. Wie weit reichen Mut, Ehrlichkeit und Zivilcourage des Einzelnen? Kann er sich gegen die Mächtigen behaupten? Es ist zugleich Schreyers Thema: das der Verantwortung des Schriftstellers. Gestützt auf Memoirenwerke, Augenzeugenberichte und eigene Interviews hat er dieses spannende Buch vor allem aus innerer Erfahrung geschrieben. Und hier lernen wir den Reporter kennen, den lästige Unannehmlichkeiten erwarten:
„Erstes Kapitel
1
David Varela lag noch im Bett, als der Anruf kam. In letzter Zeit raffte er sich nur schwer dazu auf, pünktlich anzufangen. Auch war es ein Sonnabend, er hatte nicht viel vor – Pause zwischen zwei Einsätzen, wie Norton forsch zu sagen pflegte. Er wollte nur eben an seinem Buch weiter schreiben, üblicher Freizeitjob eines Washingtoner Korrespondenten, das gab einem immerhin das Gefühl, tätig zu sein; später mit Penny hinaus ins Grüne. Sie machte sich zwar nichts daraus, doch er brauchte einfach ein bisschen Bewegung.
Dieser Tag, er sah es schon, brachte Unannehmlichkeiten. Ein zerrissener Himmel, aus dem es abwechselnd strahlte und troff – Pennys Verbündeter in ihrem Drang, irgendwelche Leute zu besuchen, anstatt am Flussufer zu wandern. Und nun noch dieser Anruf, Nortons Stimme, kaum zu verstehen, wo war der eigentlich, in London oder in Saigon? Aber nein, er sprach aus New York. „Hören Sie keine Nachrichten?“, fragte der Chef durch das Rauschen in der Leitung. „Putsch in Santo Domingo… Prüfen Sie das nach, David, werden Sie mal aktiv.“
Varela stand auf. Irgendwo musste er anrufen, am besten im State Department, dabei ödete es ihn von vornherein an. Solche Dinge hatten ihm nie etwas bedeutet. Revolte da unten auf dem Subkontinent, Gott, das gab es, die Versuche mitgezählt, monatlich zweimal. Aber leider war er, hauptsächlich dank seines Namens, Nortons Fachmann für diese Sphäre. Letztes Jahr hatte er in Rio das Glück gehabt, zufällig da zu sein, als das Militär sein Ding abzog; und diesen Februar hatte er in Portugal nach dem verschwundenen General Delgado geforscht. Spezialist für Affären im spanisch-portugiesischen Sprachraum, obwohl er keine der beiden Sprachen völlig beherrschte, bis auf die tausend Worte, die man brauchte, um zu reisen und im Hotel zu leben.
Die Telefonzentrale des Außenministeriums schien unterbesetzt. Während er auf die Verbindung wartete, fiel sein Blick auf das Datum: 24. April 1965. Er hatte vorhin ausgerechnet, dass für ihn selber der 12. September war, nach den Regeln dieses Spiels. Es wurde zwar oft behauptet, man könne das Leben nicht in Phasen einteilen, Varela aber fand es nützlich. Er befasste sich gern mit Vergangenem, nichts fesselte so wie der Ablauf des eigenen Lebens; je älter man wurde, desto lohnender der Rückblick. Er hob auch die Dokumente auf, Schulzeugnisse, Fotos, Artikel und Briefe, Andenken jeder Art, doch das hielt er verschlossen, sah es niemals durch – aus Furcht wohl, wovor? Furcht, Zeit zu verlieren, depressiv zu werden, sich selbst zu erkennen? Nun, über sich wusste er Bescheid, viel war nie mit ihm los gewesen, ein höchst durchschnittliches Leben. Wenn er es also in Abschnitte von je sechs Jahren teilte und so weit ging, anzunehmen, dass er zweiundsiebzig werden würde, dann ließ sich das Leben leicht auf ein Jahr projizieren, geboren am 1. Januar, sechs Jahre immer ein Monat, Silvester der Schluss – er war fünfzig, das entsprach dem 12. September.
Die Telefonistin fragte, ob er die Presseabteilung wolle, der dominicanische Schreibtisch sei nicht erreichbar. Varela sagte ja, er hasste es, in solcher Stimmung zu telefonieren, er erreichte dann nie, was er wollte. Ließ man übrigens das Leben auf einen Tag zusammenschrumpfen, war’s bei ihm fünf Uhr nachmittags, da kamen noch ganz schöne Stunden. (Für Penny allerdings – erst Anfang Mai oder acht Uhr morgens.) Das setzte natürlich voraus, dass er tatsächlich zweiundsiebzig wurde, nicht etwa bloß sechzig; in dem Fall wäre es schon Anfang November, kein sympathischer Befund. All dies wurde nur dadurch erträglich, dass er nicht wusste, ob es erst September oder schon November war.
„Ja, es riecht nach Putschversuch“, hörte er nun den Pressesprecher sagen. „Meuterei in zwei Kasernen, kommt eben über eine private Radiostation dort unten. Sie hat auch den Sturz der Regierung verkündet, aber die sitzt fest im Sattel, stellt den Rebellen im Staatsrundfunk ein Ultimatum, es läuft um fünf Uhr nachmittags ab. Danach wissen wir mehr; vermutlich ist dies schon das Ende.“
„Was sagt unsere Botschaft?“
„Wenig. Ein Routinefall. Unbedeutende Sache… Wenn Sie mich fragen, David, es lohnt sich für keinen Reporter, das Wochenende dranzugeben für einen Trip nach Santo Domingo.“
„Ist der Flugplatz denn offen?“
„Selbstverständlich…“´ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
2004 erschien im BK-Verlag Staßfurt die Novelle „Sonntagspredigt oder Heimkehr auf die Insel“ von Siegfried Maaß: Brückstedt – eine fiktive Kreisstadt in der realen DDR. Ein alleinstehender Mann beantragt ein Reisevisum, um seine schwer erkrankte Mutter in Westdeutschland besuchen zu dürfen.
Das Visum wird ihm verweigert „Wenn Sie wenigstens verheiratet wären“, wird ihm lakonisch erklärt. Aber der Antragsteller ist katholischer Pfarrer. Jahre später kann er endlich das Grab seiner Mutter besuchen und zugleich seine jüngere Schwester, die einst mit ihrem Freund nach Westdeutschland geflohen war. Doch sie glaubt nicht, was er ihr berichtet und hält ihm vor, sich zwar um das Seelenheil anderer zu kümmern, aber seiner eigenen Mutter in ihren letzten Stunden nicht beigestanden zu haben.
Der schon in der gemeinsamen Kindheit im Elternhaus entstandene Konflikt zwischen den Geschwistern spitzt sich zu; die von einem freudlosen Leben gezeichnete Schwester, vereinsamt und dem Alkohol zugeneigt, bietet keine Chance zu einem geschwisterlichen Ausgleich. Enttäuscht und mit sich selbst unzufrieden und sich zugleich seines Anteils an dem endgültigen Bruch mit seiner Schwester bewusst, verlässt der Pfarrer vorzeitig den Wohnort seiner Schwester. Während der nächtlichen Bahnfahrt begegnet er einer schwarz gekleideten Dame, die sich auf dem Weg nach Brückstedt zur Beerdigung ihrer Mutter befindet. Es ist die ehemalige Polizistin, die damals zu ihm gesagt hatte: „Wenn Sie wenigstens verheiratet wären …“
Eine scheinbar ganz private Geschichte mit einem politischen Hintergrund, vor dem sich der Konflikt von einst zu einem ganz aktuellen ausweitet und seine Konsequenzen fordert. Die Novelle beginnt mit der Rückkehr nach Brückstedt:
„1
Gestern bin ich aus S. zurückgekehrt. Einen Tag früher als beabsichtigt. Ich glaube, niemals zuvor hatte ich eine solche Erleichterung bei der Heimkehr von einer Reise empfunden. Als wäre ich auf der Flucht gewesen und endlich an einem sicheren Ort angekommen. Den sicheren, mir gut bekannten Ort hatte ich wirklich erreicht. Aber war ich vor Marie, meiner Schwester, tatsächlich geflohen? Oder gar vor Lydia?
Ich wusste es nicht und wollte jetzt auch nicht darüber nachdenken. Während der ganzen langen Fahrt hatte mich kaum etwas anderes beschäftigt als mein Verhältnis zu meiner Schwester Marie. Wäre nicht die schwarz gekleidete Frau mit dem Schleier vor ihrem Gesicht zu mir ins Abteil gekommen, hätte ich wahrscheinlich noch während der Fahrt etwas Abstand gewonnen und auch etwas schlafen können. Doch ohne Marie zu kennen und von unserer gestörten Beziehung zu wissen oder auch nur zu ahnen, auf welche Weise ich meine Schwester verlassen hatte, lenkte sie meine Gedanken ungewollt in die entgegengesetzte Richtung unserer Fahrt – nämlich zurück zu Marie und damit auch in jene Zonen meines Bewusstseins, die ich gern endgültig hinter mir lassen wollte.
Erst nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, gelang es mir, ruhiger zu werden und mich auf meine Heimkehr zu freuen. Durch keine weiteren belastenden Überlegungen wollte ich meine Freude trüben lassen.
Auf dem Markt unserer kleinen Stadt verließ ich den Bus, mit dem ich aus unserer Kreisstadt gekommen war. Es erschien mir als glücklicher Zufall, dass er abfahrbereit am Bahnhof gestanden hatte, als ich die Stufen hinab stieg und schwer an meinem Koffer schleppte. Auf diese Weise entging ich der Entscheidung, mit einer Taxe fahren zu müssen, was für mich eine verschwenderische Ausgabe bedeutet hätte.
Vom Busfenster aus beobachtete ich meine ungebetene Reisegefährtin, von der ich mich bereits im Zug verabschiedet hatte. Flüchtig genug, um erkennen zu lassen, dass meinerseits kein weiterer Gesprächsbedarf bestand. Jedoch ausreichend beherrscht, um nicht als unfreundlicher und nachtragender Schwarzkittel, der einmal erlittenes Unrecht nicht verzeihen kann, in Verruf zu geraten.
Offenbar war sie bereits am Bahnsteig von ihrem Bruder in Empfang genommen worden; eindringlich, als wäre es von besonderer Bedeutung, hatte sie mich wissen lassen, dass er sie abholen wolle. Mit einem großen, kräftig wirkenden Mann sah ich sie aus dem Bahnhofsportal heraustreten. Er trug einen dunklen Anzug und eine schwarze Krawatte auf weißem Hemd. Den Koffer seiner Besucherin behandelte er, als sei er völlig leer und wechselte ihn leichthändig und schwungvoll auf die andere Seite, um seine Schwester mit der rechten Hand unterfassen zu können. Noch bevor mein Bus abgefahren war, hatten die beiden mit einem Taxi bereits den Bahnhofsvorplatz verlassen.
Für die etwa zwanzig Minuten währende Fahrt bis Burghausen richtete ich mich auf meinem Platz so bequem wie möglich ein. Von der langen Bahnfahrt schmerzte mich jede Faser meines Körpers. Am liebsten wäre ich im Mittelgang auf- und abgelaufen, unterließ es jedoch der anderen Fahrgäste wegen. Vielleicht konnte ich mich am Nachmittag mit Gartenarbeit wieder etwas in Schwung bringen. Doch mit dieser stillen Hoffnung betrog ich mich selbst. Auf meinem Schreibtisch würde ein Berg Arbeit auf mich warten. Und auch meine Sonntagspredigt schrieb sich nicht allein.
Zu dieser Stunde war der Bus aus der Kreisstadt nahezu leer. Nur einige Frauen fuhren mit mir, die mich beim Einsteigen erstaunt angesehen hatten. Sie arbeiten als Kassiererinnen in unserem ländlichen Supermarkt. Auf der Rückfahrt würde der Bus gut besetzt sein, weil viele Pendler in die Kreisstadt fahren.
Obwohl mir die Augen zufallen wollten, blickte ich während der Fahrt aus dem Fenster. In der waldlosen und flachen Landschaft, in der Fremde kaum Sehenswertes entdecken können, fühlte ich mich sofort wieder heimisch. Seit meiner Kindheit bin ich es gewöhnt, weit ins Land blicken zu können und kann Gebirge kaum länger als eine Urlaubswoche ertragen – schon bald spüre ich dann Beklemmungen, fühle mich eingezwängt und sehne mich nach der Ebene zurück.“
Das hier ist ein brandneuer Text: Soeben veröffentlichte Hardy Manthey als Eigenproduktion von EDITION digital „Die Zeitreisende, 17. Teil. Auf der Suche nach dem Paradies. Ein phantastischer Roman“: Mit den vorhergehenden Teilen 15 und 16 ging für Aphrodite eine der gefährlichsten Zeitreisen glücklich zu Ende. Müde von den vielen Reisen durch Raum und Zeit geworden, will sie endlich ihr eigenes kleines Paradies finden. Die Herren der Zeit sind bereit, sie dabei tatkräftig zu unterstützen. Doch wohin und auch in welche Zeit soll die Reise führen? In den langen warmen Nächten, mit Blick hoch zu den Sternen und den flackernden Lichtern der Tolteken-Pyramiden, hat sie sich wenig Gedanken über die Zeit danach gemacht. Damals wollte sie nur fort von den grausamen Tolteken-Priestern, auch wenn sie wieder liebe Freunde für immer verlassen musste. Irgendwann wäre sie bei den Priestern doch in Ungnade gefallen und als eines der vielen Tausend Opfer für die Götter von der Pyramide gestürzt worden. So hat die Zeitreisende spontan entschieden: Sie will zurück zu ihren Wurzeln, zurück in ihre alte Heimat Schweden, in das Paradies aus den Erinnerungen der Kindheit an die Zeit bei ihrer Oma. Weil aber auch die Herren der Zeit nicht beliebig an der Zeitschraube drehen können, wurde eine schwerwiegende Entscheidung getroffen. Sie ist in den Neunzehnhundertsiebzigern geblieben und hat sich nur in ihre Heimat Süd-Schweden bringen lassen. Bald schon stellt sich für die Zeitreisende heraus, dass ihr ersehntes Paradies und die kleinen und großen Katastrophen dicht beieinander liegen.
Auch Kreta muss sie schnell verlassen, vom Paradies weit entfernt.
100 000 Jahre später erlebt sie, wie die Menschheit Klimawandel und eine erneute Eiszeit überstanden haben. Der größte Teil der Erde ist unberührte Natur. In Reservaten leben sie autark und erzeugen alles Lebensnotwendige selbst, keine Wegwerfgesellschaft mehr, kein Mangel, aber totale Überwachung. Aphrodite leitet ein Forscherteam nach Dunkler Energie und Dunkler Materie mit dem Ziel, Gefahren aus dem Weltall abzuwenden.
Es ist zwar nicht das erträumte Paradies, kommt dem aber schon näher. Lassen Sie uns auf die Reise gehen, auf die Zeitreise. Oder, obwohl …
„Abschied ohne Zeitreise
Camachos leises Schnarchen erlaubt ihr hoffentlich endlich die unbemerkte Flucht. Der Mann wird sie wie eine Sklavin in Ketten legen und ihr ein Brandzeichen auf die Schulter brennen lassen, wenn ihr heute nicht die Flucht gelingt. Der Patriarch Camacho ist hier Herr über Leben und Tod. Dieser Macho liebt sie erdrückend besitzergreifend. Für ihn ist sie ganz selbstverständlich sein Eigentum. Nur ihr geheucheltes Versprechen, ihm für immer und ewig zu gehören, konnte ihn bisher ruhigstellen. Langsam entzieht sie sich seinen Händen und schiebt ihm dafür eines der Kissen unter. Der Zylinder mit dem goldenen Itzamná steht schon aufrecht im Beton und wurde grob verputzt. Camacho hat das nur wenige Minuten, nachdem die Archäologen gegangen sind, so verfügt. Der Rest, das Kunstwerk an sich, wird noch einige Zeit brauchen. Camacho hatte entschieden, die Statue doch aus riesigen Steinblöcken zu hauen. Ein Dutzend Steinmetzte hauen die Blöcke zu, die den einbetonierten Itzamná dann schützend umfassen sollen. Es wird vermutlich mehr als ein Jahr dauern, bis die Statue nach dem Willen Camachos vollendet werden kann. Auf eigene Kosten will er dann die Statue noch teilweise vergolden lassen. Er ist sich ganz sicher, dass die Überreste des geheimen Hauses und seine goldenen Opfergaben schnell gefunden werden. Die vielen Touristen, die Itzamná und seine Opfergaben sehen wollen, werden die entstandenen Unkosten dann hoffentlich schnell wieder erwirtschaften.
Auch nur noch eine Stunde länger warten, ist ihr aber nicht mehr erlaubt, wenn sie weiter durch Raum und Zeit reisen will. Das nächste Zeitfenster in ferne Welten wird es erst in einigen Jahren geben. So muss sie heute Nacht für immer gehen. Der alte Mann war wie ein Vater zu ihr. Er war nie gewalttätig, obwohl er gerne verbal mit Gewalt drohte. An seine zärtlichen Hände hätte sie sich gewöhnen können. Wären doch alle Männer so wie er. Alle Frauen der Welt würden den Männern zu Füßen liegen. Doch er ist leider alt und sie ist jung. Zu ewiger Jugend verdammt, muss sie heute gehen. Sie wird den Mann in guter Erinnerung behalten. Auch will sie erst gar nicht seine hässliche Seite kennenlernen. Sie greift nach ihrem kleinen Bündel Habseligkeiten und schleicht nackt wie sie ist, aus dem Zimmer. Leise schließt sie die Tür und geht vorsichtig die Treppe hinunter. Immer wenn doch eine Stufe leise knarrt, kommt sie vor Angst ins Schwitzen. Dann könnte er mit seiner stets schussbereiten Pumpgun hinter ihr stehen und sie erschießen. Die Flucht wäre vereitelt. Die Tür zum Garten ist wie immer offen. Sein riesiges Anwesen und das Landhaus werden rund um die Uhr bewacht. Dass sie jetzt völlig nackt durch den Garten läuft, daran wird sich keiner der Wachmänner stören. Auf dem Anwesen läuft sie täglich nackt vor den Männern herum. Weit kommt eine nackte Frau hier nicht. Eher würden die Wächter Fragen stellen, wenn sie vor ihnen bekleidet herumlaufen würde. Am Pool stehend sucht sie im Garten nach einem Licht. Überall stehen Laternen und Strahler. Sie sucht ein grünes Licht. Tatsächlich erkennt sie dann ein schwaches grünes Licht, das aus dem Nichts den Boden anstrahlt. Es sind nur wenige Schritte bis zu ihrem Ziel. Einem Wachmann ist das Licht auch aufgefallen und er ruft weit hörbar laut in die Nacht: „Was ist das?“
„Nichts, das ist nur meine neue Taschenlampe. Ich will mich im Pool etwas abkühlen“, meldet sich Aphrodite und läuft auf das Licht zu. Bevor der Mann begreift, was hier überhaupt vorgeht, muss sie den Lichtstrahl erreicht haben. Unter dem grünen Lichtstrahl wird sie von einem Zylinder erfasst und im Bruchteil einer Sekunde aufgesaugt. Schon steht sie mitten in der Zeitmaschine. Wenig überraschend für sie erwartet sie Marotti. Das Sprachrohr der Herren der Zeit begrüßt sie: „Du hast saubere Arbeit abgeliefert. Dein Auftraggeber, die künstliche Intelligenz, die du Itzamná nennst, wird sich über deinen Eifer freuen. Ihr beide habt wohl ein sehr intimes Verhältnis zueinander gehabt. Was ihr beide alles so getrieben habt, geht uns nichts an. Du hast uns erst den Kontakt zur künstlichen Intelligenz ermöglicht. Dafür danken wir dir. Wir alle haben natürlich, wie immer, nur saubere Arbeit von dir erwartet. Wir sind stolz auf dich!“
„Wie geht es weiter? Ich habe ein echtes Problem!“, klagt Aphrodite. Dass sie nackt vor dem Mann steht, ist ihr egal. Denn der Herr der Zeit kennt sie besser, als sie sich selbst kennt. Sie ist längst seine Schöpfung geworden. So ist sie angeblich Mensch und Gott zu gleich.
Marotti kennt ihre Gedanken und behauptet: „Ich weiß schon, du suchst jetzt dein persönliches Paradies? Lass uns darüber sprechen. Allerdings, für einige Varianten und Ziele haben wir nur noch sehr wenig Zeit!“
„Mögliche Varianten?“
Marotti nickt und erklärt: „Wir bieten dir eine Reise in die sehr ferne Zukunft an. Ein Zeittunnel zur Erde besteht in ein paar Tagen in unglaublich ferne 100 000 Jahre. Noch einmal für dich: 100 000 Jahre in die ferne Zukunft der Erde. Wir wissen, dass es auf der Erde immer noch Menschen gibt. Ob diese Menschen frei leben oder eine künstliche Intelligenz die Herrschaft auf der Erde übernommen hat, wissen wir nicht. Das könntest du nur für uns herausfinden!“
Es schwankt etwas unter ihren Füßen und sie fragt: „Was ist hier los?“
„Wir sind eben im Atlantik abgetaucht und liegen etwa einen Kilometer unterhalb des Meeresspiegels. Hier kann uns hoffentlich niemand entdecken. Der Aufwand ist leider in dieser Zeit notwendig geworden, weil der technische Wissensstand es den Menschen erlaubt, uns leichter zu entdecken. Wir wollen nicht unnötig für Aufregung in den Medien sorgen. Nach unserem Wissen sind auch die modernen U-Boote der Russen und Amerikaner noch nie so tief getaucht. Hier sind wir hoffentlich sicher. Allerdings waren wir kurz auf ihren Radarschirmen. Mit ein paar Tricks sind wir nur eine vorrübergehende technische Anomalie oder Störung. Erich von Däniken und dem wachsenden Freundeskreis von Verschwörungstheorien würde dagegen unsere Entdeckung freuen!“, behauptet Marotti.
„Dass ihr so tief in den Atlantik abtaucht sehe ich ein, aber von eurer Zeitreise der XXL-Klasse halte ich ganz und gar nichts!“, erwidert Aphrodite und protestiert: „Wieder soll ich mein Leben für euch riskieren. Ich mache da nicht mehr mit!“
„Das kann ich gut verstehen!“, lenkt Marotti ein und behauptet: „Ich wollte dir auch nur diese einmalige Chance einer so unglaublich fernen Zeitreise nicht vorenthalten. Denn diese Zeit- und Raumkrümmung in eine so ferne Zukunft ist auch für uns ein Abenteuer, das uns alles abverlangt. Dieses Zeitfenster öffnet sich auch erst in ein paar Monaten, dann erst wieder in 5.000 Jahren. Dazu müssten wir auch noch extra in die Umlaufbahn des Jupiters gelangen, um von dort aus in die ferne Zukunft zu starten. Dann erst vom Jupiter aus soll es mit reichlich Schwung in die ferne Zukunft losgehen. Ob es jemals einen Weg zu rück für dich geben könnte, wissen wir auch nicht. Nun sag, wohin willst du? Die aktuelle Raumkrümmung kann dich auch in die Mitte des 23. Jahrhunderts katapultieren. Allerdings ist das eine Zeit gigantischer Katastrophen für die Menschheit. Startfenster beginnt in 30 Minuten. Willst du vielleicht dorthin?“
„Dort war ich doch schon und erinnere mich, dort hatte ich reichlich Ärger!“, klagt Aphrodite nicht wirklich von seinem Angebot begeistert.“
2022 erschien in der Edition D.B. in Erfurt „PICKNICK IM ZAUBERLAND. Mein Leben mit Sprachen“ von Aljonna Möckel: Bei „Picknick im Zauberland“ vermutet man zunächst ein Märchen oder einen Roman, doch es ist weder das eine noch das andere. Aber um Literatur in ihrem breiten Spektrum geht es durchaus: Die Autorin gibt dem Leser auf unterhaltsam-spannende, oftmals amüsante Art Einblick in die schöne, verantwortungsvolle und zugleich schwierige Arbeit des Übersetzens. Ihre Erinnerungen an die russische Literatur verbinden sich mit heiteren, oftmals jedoch tragischen Ereignissen ihres Lebens.
Nahegebracht werden uns berühmte Schriftsteller wie Arkadi und Boris Strugatzki mit ihrem bekannten SF-Roman „Picknick am Wegesrand“ oder der Dichter Jewgeni Jewtuschenko, der mit seinen Lyrik-Lesungen ganze Stadien füllte. Neben „ernsthaften“ Autoren (Krupin, Litschutin) hat Aljonna Möckel über fast fünfzig Jahre hinweg zahlreiche Kinderbücher (Bulytschow, Rasputin) sowie Humor und Satire ins Deutsche gebracht, darunter Texte des bedeutenden ukrainischen Schriftstellers Ostap Wischnja oder des Dagestaners Admedchan Abu-Bakar. Damit hat sie eine Brücke zwischen Sprachen und Kulturen gebaut.
Die Autorin stellt uns zudem einige gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Klaus Möckel, verfasste Kinderbücher und Lebensberichte vor. Im Buch finden sich auch Rezensionen, Fotos, Illustrationen sowie einige Bilder, gemalt von ihrem behinderten Sohn, dem beide seit über fünf Jahrzehnten hilfreich zur Seite stehen.
So bietet „Picknick im Zauberland“ eine Vielfalt von Aspekten: Information zu literarischer Übersetzung und fast Vergessenem, Hommage an künstlerische Sprache und nicht zuletzt Bericht über ein sehr besonderes Lebenswerk. Das im besten Sinne des Wortes bemerkens- und lesenswerte Buch beginnt mit einer liebevollen Danksagung der Autorin an ihre große Liebe, ihren Mann:
„Für Klaus, der mir in allem zur Seite stand
Sprache ist eine Naturgewalt
Wladimir Krupin
Erster Teil
1
Übersetzung, das ist bekannt, vermittelt zwischen den Kulturen. Will sie gut vermitteln – und das ist schließlich ihr Ziel –, muss sie den Reiz des Fremdartigen erfassen und so in die eigene Sprache bringen, dass der Text reizvoll bleibt, aber nicht fremd wirkt. Die Wörter, auch der Stil müssen dem Original entsprechen, ohne dass es etwas von seiner Ursprünglichkeit verliert. Der Autor sollte sich in der Übersetzung wiederfinden, so als hätte er sie selbst angefertigt, und mit seinen Absichten, seinen Gefühlen zu erkennen sein. Wie auch mit der Welt, die ihn umgibt und über die er schreibt. Gelingt solche Wiedergabe, darf man das getrost Kunst nennen. Wobei ich mich frage, wie es um meine Arbeiten steht. Ist mir bei den zahlreichen Übersetzungen, die von mir in die Öffentlichkeit gelangt sind, manchmal so etwas wie Kunst gelungen? Nichts ist vollkommen, aber einige Zeugnisse von Autoren und Fachleuten belegen, dass mir die Annäherung ans Original hier und da ganz gut geglückt ist.
Als ich meinen ersten Auftrag bekam, die Übertragung einer kleinen, einfachen, aber lustig-phantastischen Erzählung, war ich Mitte Zwanzig. Nichts ließ bis dahin vermuten, dass ich einmal als literarische Übersetzerin arbeiten würde. Ich hatte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena Slawistik und Romanistik studiert, schrieb meine Abschlussarbeit (einen Hang zur russischen Literatur hatte ich, wie’s scheint, schon damals) über den bekannten russischen Autor Anton Tschechow , war nach dem Staatsexamen 1963 Lehrerin geworden und dann auf Wunsch meines Professors an die Universität zurückgekehrt. Eine wissenschaftliche Laufbahn schien sich abzuzeichnen.
Hilfreich bei meinen Übertragungen waren ererbte und anerzogene Eigenschaften, die man für gewöhnlich unter dem Begriff Talent zusammenfasst. Daneben aber auch die Besonderheiten eines Lebens, das ganz und gar nicht problemlos verlief. So wuchs ich, 1941 als Emigrantenkind in Moskau geboren, während eines grausamen Krieges zunächst zweisprachig auf. Mit den Kindern auf der Straße sprach ich Russisch, was meinen Eltern – Vater stammte aus Hildesheim, Mutter aus Hannover – nur recht war, denn in einem System, das oft harsch mit uns verfuhr, wollte man nicht noch durch die deutsche Sprache auffallen. Jedenfalls wurde ich, als die Familie 1947 nach Berlin zurückkehren durfte, von den Russischlehrern für meine akzentfreie Aussprache gelobt, von den deutschen Kindern jedoch als „Russki, Russki“ verhöhnt. Das wurmte mich sehr, und so gewöhnte ich mir recht schnell das „Berlinern“ an.
Russisch sprechen konnte ich also schon als Kind, Russisch lesen und schreiben hingegen lernte ich kurioserweise erst in Deutschland. Weil meine deutschen Sprachkenntnisse für den Besuch einer deutschen Schule nach unserer Rückkehr 1947 nicht ausreichten, kam ich zunächst in die Russische, danach in die Deutsch-Russische Schule in Berlin-Pankow. Nach der dritten Klasse stand dann der Wechsel in eine deutsche Schule an: Allerdings schickte man mich aus „Altersgründen“ – ich war nicht, wie in Deutschland üblich, mit sechs, sondern erst mit sieben Jahren eingeschult worden – gleich in die fünfte Klasse, die vierte musste ich überspringen. Das bedeutete eine gewaltige Umstellung für mich, wurden doch jetzt alle Fächer, auch die naturwissenschaftlichen, ausschließlich in Deutsch unterrichtet!
In Erinnerung ist mir mein erstes Deutsch-Diktat , Thema: Muttertag. Wie im Russischen üblich, schrieb ich sämtliche Substantive klein, was mir der Lehrer jedesmal als Fehler mit einem dicken Rot anstrich. Am Ende gab es mehr Rot als Blau in meiner Arbeit, dennoch prangte als Zensur unten eine „Fünf“! Ich wunderte mich kurz und wollte mich schon freuen, begriff dann aber: Das war keineswegs die Bestnote, wie ich sie aus meinen bisherigen Schulen kannte!
Die Lektion mit den Substantiven hat sich mir fest eingeprägt, und überhaupt bemühte ich mich fortan, im Deutschen „sattelfest“ zu werden. In diesem Zusammenhang gewöhnte ich mir das „Berlinern“ wieder ab, und auch der noch immer leicht vorhandene russische Akzent mit dem rollenden „Rrr“ verschwand nach und nach.
Doch nun zurück zu meinen Eltern. Mein Vater war Musikprofessor, er übersetzte und schrieb darüberhinaus Gedichte. Meine Mutter, eine Musikstudentin, war Anfang Zwanzig gewesen, als sie mit meinem Vater Deutschland verließ. Gertrud musste früh erwachsen werden, brachte unter schwierigen Bedingungen vier Kinder zur Welt, von denen eins, ein Mädchen, kurz nach der Geburt starb. Bei all dieser physischen und psychischen Belastung trug sie mit ihren Strickarbeiten und deren Verkauf auf dem Markt wesentlich dazu bei, die Familie während der harten Exiljahre finanziell über Wasser zu halten; das karge Gehalt meines Vaters für seine zeitweilige Lehrtätigkeit reichte kaum für das Nötigste. Endlich wieder in der Heimat, arbeitete Mama, die offenbar sehr gut Russisch sprach, als Dolmetscherin, bis sie uns im Frühjahr 1948 für immer verließ. Ich war gerade mal sieben, als ich sie eines Morgens vor dem Gasherd in der Küche fand. Ich erinnere mich an den ungeheuren Schreck, der mich das Haus zusammenschreien ließ, und an die Ascheflöckchen in ihrem schwarzen Haar – weiße, ganz und gar nicht leuchtende Sterne.
Gas – Recha, meine Großmutter väterlicherseits, die ich nie kennenlernen konnte, wurde um das Jahr 1942 als Jüdin ins Konzentrationslager Sobibor nahe Lublin deportiert, wo sie in der Gaskammer ums Leben kam. Mein Vater sprach mit uns Kindern nie über seine Familie, auch nicht über die Nazizeit oder die Probleme und Repressalien, denen er im dreizehn Jahre währenden Exil unter Stalin ausgesetzt war – Letzteres durfte er wohl nicht. Selbst die Verbannung nach Sibirien, wo in Tomsk bei minus vierzig Grad im Winter 1938 mein Bruder Wolfgang zur Welt kam, war kein Thema.“
Als Eigenproduktion von EDITION digital veröffentlichte Iris M. Steiger soeben ihren Mystery-Thriller „Die Gabe – Segen oder Fluch“: Die siebzehnjährige Ella schlägt sich seit dem Unfalltod ihrer Mutter mit außersinnlichen Wahrnehmungen herum und hat Angst, den Verstand zu verlieren. Das Sehen und Fühlen der Aura anderer Menschen überfordert sie, denn Ella verliert sich darin. Aber nicht nur das! Sie kann die Vergangenheit und die Zukunft sehen. Besonders eine Zukunftsvision lässt sie nicht mehr los: An der Steilküste der Insel Berse stößt ein Fremder eine junge Frau in den Tod. Sie möchte den Mord verhindern. Aber wie?
Ella hat Glück und findet bei dem geheimnisumwobenen Lord Hilfe. Bringt Ella den Mut und die Stärke auf, ihre Gabe anzunehmen und die junge Frau vor dem sicheren Tod zu retten? Und so beginnt dieser spannende Mystery-Thriller. Aber Achtung, Suchtgefahr:
„Ein großes Dankeschön an Barbara, Christy, Sarah und Josef für die liebevolle Motivation.
Kapitel 1
„Ella, muss das sein? Jetzt trödle doch nicht so herum“, sagte Lisanne ungeduldig. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten mich gereizt an. Ihr sonst blasses, rundes Gesicht, eingerahmt von einem dunkelbraunen Pagenschnitt, zeigte eine flüchtige Zornesröte.
„Lisanne … Mama, bitte, ich will da nicht hin! Warum willst du mich dort unbedingt hinschleifen?“, stieß ich trotzig hervor. Ausgerechnet heute machte der Gitarrenlehrer schlapp und lag mit Grippe im Bett. Nur weil er kurzfristig absagte, griff die Ausrede nicht, dass ich keine Zeit hätte und für die Schule lernen müsse. Mist!
„Er kann dir helfen, wenn …“
„Bisher war noch nichts und Es muss auch nicht kommen“, maulte ich zurück. „Nur weil wir beide uns aufs Haar gleichen, musst du Es mir nicht vererbt haben.“
„Ella, Es wird kommen, bald, glaube mir, ich habe es geseh…“
„Ich will es nicht hören!“, entgegnete ich und hielt mir die Ohren zu.
Lisanne schüttelte den Kopf. Sie hob die Autoschlüssel in die Luft und wedelte damit herum. Die Zornesfalten auf ihrer Stirn ließen keinen Einspruch mehr gelten. Sie drehte sich um und verschwand stampfend in den Hausflur.
„Entschuldigung, Ben“, hörte ich sie sagen, und die Haustür schlug mit einem kräftigen Knall zu.
Ben kam in die Küche und hob fragend die Augenbrauen. „Dicke Luft?“
„Kümmere dich um deine eigenen Probleme“, zischte ich.
Er hob abwehrend die Hände und drückte sich mit dem Rücken an den Türstock, um mich vorbeizulassen. „Dein Vater, ich meine natürlich Sven, schickt nur seinen Azubi rüber, um Kaffee zu machen. Für den nächsten Patienten braucht er, und auch ich, erstmal eine Stärkung. Es ist ein beißwütiger und sehr wehrhafter Hase namens Harvey.“
„Interessiert gerade eben überhaupt nicht“, keifte ich ihn an.
„Alles klar!“, meinte Ben und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen.
Ich ließ Lisanne absichtlich lange warten und zog meine Jacke im Hausflur betont langsam an. Sie sollte es endlich kapieren, dass ich keine Lust hatte, zum Lord zu fahren. Ich wollte es ihr nicht nur sagen, sondern auch zeigen.
Halbherzig und mit einem verächtlichen Blick stieg ich in das Auto ein.
„Na endlich! Wo bleibst du denn?“, giftete Lisanne. Sie fuhr mit Schwung los und die Kieselsteine spritzten zur Seite. Völlig untypisch für sie. „Ella, die Wahrnehmungen werden bald kommen. Mich überkamen sie auch in deinem Alter.“
„Warum bist du dir da so sicher, dass die Wahrnehmungen mich heimsuchen werden? Ich will dieses bescheuerte Sehen nicht“, gab ich trotzig zurück.
„Ich weiß es einfach, Ella“.
„Hör mir damit auf, ich weiß es einfach“, äffte ich sie nach.
„Ella, was ist denn heute mit dir los?“
„Die Leute reden über dich. Sie tuscheln und manche behaupten, dass du eine Hexe bist. Außerdem schauen sie mich ganz komisch an.“
„Ach, Pfarrer Jäger und seine Schäfchen“, stöhnte Lisanne. „Ich verstehe dich ja, dass man mit siebzehn Jahren nicht unangenehm auffallen möchte.“
„Genau, aber meine Mutter macht es mir unmöglich.“
„Ella, es gibt auf der Insel auch Menschen, die froh darüber sind, wenn ich ihnen durch meine Gabe helfen kann. Weil ich sehe, was sie nicht sehen. Ich kann ihnen zu mehr Klarheit über sich selbst und ihre Sorgen, die sie oft zu erdrücken drohen, verhelfen.“
„Ich will das überhaupt nicht sehen, was andere nicht sehen können. Was gehen mich fremde Leute an? Ich kriege doch mit, wie viel du überlegst und wie geistesabwesend du bist, nachdem jemand deine Hilfe benötigte. Du bist erschöpft und machst mir dann keinen glücklichen Eindruck“, konterte ich. „Und was ist mit dem aufgebrachten Automechaniker vor ein paar Tagen? Er hat dich angebrüllt und dir gedroht, wenn du nicht alles für dich behältst, dann würde er … Was würde er? Dich umbringen? Sven und ich hatten Angst um dein Leben. Eine verdammte Hexe nannte er dich. Gut so, dass Sven ihm einen Tag später Hausverbot erteilte.“
„Er war eine Ausnahme. Das ist nicht immer so und das weißt du auch.“
Da hatte sie recht. Lisanne freute sich tagelang darüber, wenn sie einem Menschen helfen konnte. Aber ich wollte nicht ins Blaue Haus zum Lord. Ich wollte mit Mona Zeit verbringen. Wir zwei hätten urgemütlich in meinem Zimmer rumgehangen, hätten Gitarre gespielt und geredet.
Der Regen verstärkte sich und prasselte hämmernd auf die Autoscheibe. Kleine Windböen schnaubten an die Seitenfenster. Wir fuhren die übliche Strecke, wie jeden Dienstagnachmittag zur gleichen Zeit. Bald würde sich die alte Eiche zeigen, bevor wir an dem Haus des Gitarrenlehrers vorbeikamen. Zum Lord ging es noch durch ein langgezogenes Waldstück, bis wir am herrschaftlichen Anwesen, das sich nahe der Steilküste befand, ankommen würden. Es war mittlerweile das einzige blaugestrichene Haus auf der ganzen Insel Berse. Kehrte früher ein Seemann nicht vom Meer zurück, ließen die Hinterbliebenen ihre Behausungen hellblau streichen. Das Zeichen dafür, dass der Ozean den Leichnam in sich aufnahm.
Die Inselbewohner mieden das Blaue Haus, da es darin spuken solle. Keiner wusste, ob der Hausherr ein echter Lord war. Er hatte nie behauptet, ein Adeliger zu sein, widersprach dieser Annahme aber auch nicht. Seine aristokratische Ausstrahlung veranlasste die Einheimischen, ihm diesen Titel zuzuschreiben.
„Falls wirklich die Wahrnehmungen kommen sollten, dann drücke ich sie einfach weg“, sagte ich mürrisch und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
„Meinst du, ich hätte das nicht versucht. Ella, da wirst du nicht weit kommen.“
„Was meinst du damit?“
„Du kannst die Wahrnehmungen bis auf einen gewissen Rest wegdrücken, aber dann wird dir ein großer Teil deinerselbst fehlen. Du wirst früher oder später unzufrieden, wenn du deine Gabe nicht lebst. Das musste ich selbst leidvoll erfahren. Ich machte vieles falsch, weil ich sie nicht beachtete.“ Sie versuchte, mir leise ins Ohr zu flüstern, und ich überhörte sie willentlich. „Ella, auf Dauer kannst du die Gabe nicht ignorieren. Dies würde bedeuten, Tür und Tor für selbstzerstörerisches Leid zu öffnen. Und nicht nur das, es könnten andere Menschen zu Schaden kommen.“ Lisanne biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe.
„Und warum muss ich unbedingt mit zum Lord? Er und sein Diener … wie heißt er noch mal?“
„Hugo, und er ist sein Butler.“
„Na dann, eben sein Butler. Die beiden sind mir unheimlich. Sie benehmen sich nicht nur eigenartig, sondern sehen die Leute auch merkwürdig an. Die anderen in der Klasse nennen sie die Halloween-Geister vom Blauen Haus.“ Ich schüttelte mich demonstrativ und verzog das Gesicht zu einer Ekel-Grimasse.
„Nur, weil du sie nicht näher kennst.“
„Wenn du alles siehst und weißt, dann kannst du mir doch helfen, falls die Wahrnehmungen wirklich bei mir zum Vorschein kommen sollten? Warum also zum Lord?“
„Ich sehe nicht alles und weiß auch nicht viel. Doch der Lord kennt sich in der Zwischenwelt aus. Er nimmt viel mehr wahr als ich. Er kann dir Dinge erklären, von denen ich ahnungslos bin. Er ist eine weise, alte Seele, genau wie sein Butler Hugo.“
„Zwischenwelt“, zischte ich verächtlich. Was sollte das schon wieder sein? Mich interessierte diese Welt nicht.“
Es bleibt spannend. Und mal ganz ehrlich: Würden Sie denn in die Vergangenheit sehen können wollen? Oder gar in die Zukunft? Viel Vergnügen beim Lesen, einen schönen März, in dem der Bauer seine Pferde … na, Sie wissen schon. Oder hat der Klimawandel das auch schon alles verändert? Immerhin sind ja offenbar auch die Störche schon früher aus Afrika wieder zurückgekommen, bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.
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