Dr. Friedhelm Pfeiffer, stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs „Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen“ am ZEW Mannheim, erörtert auf Basis von aktuellen ZEW-Umfrageergebnissen, Inflationserwartungen und Informationen des Statistischen Bundesamtes den gesamtwirtschaftlichen Hintergrund der jüngsten Lohnforderungen sowie die Chancen ihrer Realisierung. Friedhelm Pfeiffer kommentiert zu seinen Berechnungen: „Bei allen im Folgenden genannten und selbst berechneten wirtschaftlichen Größen für 2023 handelt es sich um Erwartungsgrößen. Welche Werte tatsächlich realisiert werden, wird man erst Anfang 2024 sagen können. Die vorliegende Analyse verdeutlicht aber, dass zweistellige Lohnforderungen nicht unbedingt aus der Luft gegriffen sind. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich, dass es zu zweistelligen Lohnabschlüssen kommt.“
Im Jahr 2022 sind nach aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes die realen Bruttoeinkommen der Beschäftigten im Vergleich zu 2021 um 3,1 Prozent gesunken, obwohl die Nominaleinkommen um 3,5 Prozent gestiegen sind. Dabei wurden 2022 insgesamt 54.162 Millionen Stunden gearbeitet, 1,9 Prozent mehr als 2021, während die Beschäftigung lediglich um 1,5 Prozent wuchs: von 41,022 Millionen Menschen auf geschätzte 41,620 Millionen.„Die Reallöhne sind somit nicht gesunken, weil weniger Stunden gearbeitet wurden. Vielmehr sind sie gesunken, da die Inflation durch den Ukrainekrieg stark gestiegen ist. Wenn die Arbeitnehmerseite in den aktuellen Lohnverhandlungen das Ziel verfolgt, diesen Reallohnverlust rückgängig zu machen, sollten die Löhne also mindestens um diese 3,1 Prozent wachsen“, erklärt Friedhelm Pfeiffer.
Erwartete Inflation für Reallohnsicherung auch in diesem Jahr entscheidend
Wenn es zudem das Ziel ist, die Reallöhne auch im Jahr 2023 konstant zu halten, dann ist die erwartete Inflation entscheidend. Die Mehrzahl der derzeitigen Inflationserwartungen schwankt zwischen 5 und 7 Prozent. Unterstellt man einen mittleren Wert von 6 Prozent, der auch den Erwartungen der Bundesregierung und etwa den vom ZEW befragten Finanzmarktexperten/-innen entspricht, wäre rechnerisch ein weiterer Lohnzuwachs von 6 Prozent erforderlich. Diese beiden Komponenten ergeben in Summe 9,1 Prozent.
Längerfristige Entwicklung von Reallöhnen und BIP
Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg nach Informationen des Statistischen Bundesamtes zwischen 2011 und 2021 im Mittel pro Jahr um 1 Prozent. Nach ZEW-Berechnungen stiegen im gleichen Zeitraum die Reallöhne im Mittel pro Jahr um etwa 0,9 Prozent. „Möchte die Arbeitnehmerseite auch diese Steigerungsrate der Reallöhne erreichen, sollten die Löhne im Jahr 2023 zusätzlich um weitere 1,4 Prozent steigen, also in der Summe um 10,5 Prozent“, erläutert Friedhelm Pfeiffer. Die zusätzliche Komponente von 1,4 Prozent ergibt sich, wenn man das kumulative Wachstum des Bruttoinlandsprodukts der Jahre 2022 (plus 1,9 Prozent) und 2023 (minus 0,3 Prozent nach den Erwartungen der vom ZEW befragten Finanzmarktexpertinnen und -experten), zusammen 1,6 Prozent, mit der gewünschten Steigerungsrate der Reallöhne, 0,9 Prozent, multipliziert.
Abwägung zwischen höheren Reallöhnen und möglichen Beschäftigungsverlusten
Die Arbeitnehmerseite wird sich in den Lohnverhandlungen überlegen, welche Auswirkungen ein erfolgreicher Lohnabschluss um die 10,5 Prozent im Jahr 2023 wohl für die gesamtwirtschaftliche Beschäftigung haben könnte. Höhere Lohnabschlüsse und deren mögliche Arbeitsplatzverluste gilt es abzuwägen. Um die Größenordnung möglicher negativer Beschäftigungseffekte zu illustrieren, nutzt Pfeiffer einen in der Arbeitsmarktforschung verbreiteten Schätzwert der Lohnelastizität der Beschäftigung. Demnach führt eine Reallohnerhöhung von 1 Prozent zu einem Rückgang um 0,3 Prozent und umgekehrt eine Reallohnsenkung zu einem Beschäftigungszuwachs von 0,3 Prozent. „Unter dieser Annahme nahm in Folge der Reallohnsenkung im Jahr 2022 die Beschäftigung um 0,93 Prozent zu. Bei 54.162 Millionen geleisteten Arbeitsstunden entspricht dies einer Zunahme um etwa 504 Millionen Arbeitsstunden, oder um etwa 387.000 Beschäftigte. Diese Reallohnsenkung hat 2022 zu einer Verschärfung des Fachkräftemangels beigetragen“, so Pfeiffer.
Wenn die Lohnerhöhung 3,1 Prozent betragen würde, würde die Beschäftigung unter gleichen Umständen wieder um diesen Betrag sinken. Die zusätzlichen 6 Prozent würden die Reallöhne stabilisieren. Dies wäre bei ansonsten unveränderten Größen und einer Inflation in Höhe von 6 Prozent weder mit positiven noch mit negativen gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungseffekten verbunden. Ein darüber hinausgehender Lohnzuwachs von 1,4 Prozent würde in diesem Szenario zu einem Rückgang der Beschäftigung um etwa 180.000 Arbeitsplätze führen. Summiert könnten in Folge von Verdienstzuwächsen in Höhe von 10,5 Prozent somit 567.000 Arbeitsplätze verloren gehen. Diese Zahl entspricht etwa dem Beschäftigungszuwachs zwischen den Jahren 2021 und 2022.
Energiepreisteuerung und Wohlstandsentwicklung
Zudem ist in den diesjährigen Lohnverhandlungen zu bedenken, dass durch den Ukrainekrieg zunächst die Energiepreise gestiegen sind, und danach auch die Preise der meisten übrigen Güter. Da Deutschland bislang mehr Energie im- als exportiert, führte vor allem die Verteuerung von Energie zu Wohlfahrtsverlusten. Falls die Energieimporte auch längerfristig relativ teuer bleiben, verstetigen sich wahrscheinlich auch die Wohlstandsverluste. In einem solchen Szenario würde die Arbeitnehmerseite abwägen müssen, ob Reallohnsteigerungen im Ausmaß der letzten Dekade angemessen sind. Die Arbeitnehmerseite könnte argumentieren, dass die Reallöhne bereits im Zeitraum zwischen 2011 und 2021 um 1 Prozent im Vergleich zur Wirtschaftsleistung insgesamt gesunken sind, und daher eher von einem Nachholbedarf ausgehen. „Man kann davon ausgehen, dass höhere Löhne auch die Attraktivität der Arbeit verbessern und dem Fachkräftemangel etwas entgegenwirken“, betont Pfeiffer.
Lohnabschlüsse könnten moderater ausfallen
Das von der Bundesregierung im September 2022 beschlossene Angebot, zusätzliche Verdienstzahlungen der Unternehmen im Umfang von bis zu 3.000 Euro einmalig von Abgaben und Steuern zu befreien, könnte etwas den Druck aus den Lohnverhandlungen nehmen. Wenn das Angebot genutzt wird, bleibt den Beschäftigten bei gleichem Brutto mehr Netto. Zudem könnte die Beschäftigung stärker fallen, als in der Analyse unterstellt, etwa wenn die Energie dauerhaft teuer bleibt. Auch dies würde die Bereitschaft zu moderateren Lohnabschlüssen erhöhen. Die Arbeitnehmerseite könnte zudem berücksichtigen, dass hohe Lohnabschlüsse die Inflation weiter anheizen wird und die Verhandlungsspielräume in der Zukunft reduziert.
Das ZEW in Mannheim forscht im Bereich der angewandten und politikorientierten Wirtschaftswissenschaften und stellt der nationalen und internationalen Forschung bedeutende Datensätze zur Verfügung. Das Institut unterstützt durch fundierte Beratung Politik, Unternehmen und Verwaltung auf nationaler und europäischer Ebene bei der Bewältigung wirtschaftspolitischer Herausforderungen. Zentrale Forschungsfrage des ZEW ist, wie Märkte und Institutionen gestaltet sein müssen, um eine nachhaltige und effiziente wirtschaftliche Entwicklung der wissensbasierten europäischen Volkswirtschaften zu ermöglichen. Das ZEW wurde 1991 gegründet. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Derzeit arbeiten am ZEW Mannheim rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen rund zwei Drittel wissenschaftlich tätig sind.
Forschungsfelder des ZEW
Altersvorsorge und nachhaltige Finanzmärkte; Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen; Digitale Ökonomie; Gesundheitsmärkte und Gesundheitspolitik; Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik; Marktdesign; Umwelt- und Klimaökonomik; Ungleichheit und Verteilungspolitik; Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft.
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