Kennen Sie das Buch „All Surface“? Es handelt von „Tagging in Dortmund in den 1980er und 1990er Jahren“, Umfang: 244 Seiten, Auflage: 500 Stück. Oder „Radical Passion“? Der 528 Seiten lange Bild-Text-Band handelt von polnischen Trainwritern – und ihrer fast manischen Leidenschaft für das historische Zugmodell „EN57”. Auflage: 1.500 Stück. Oder „Enemy Kids“? Darin erzählt der Writer “Bus126” von seiner Jugend im Berlin der 1990er Jahre.
Drei Bücher, die für eine bemerkenswerte Entwicklung auf dem Markt der Magazine und Bücher zum Thema „Graffiti” stehen: Ging es in den frühen Publikationen in erster Linie darum, die Sprühkunst selbst zu zeigen, so nähern sich zahlreiche Neuerscheinungen dem Thema heute auf andere, oft überraschende Weise. Etwa, indem sie ganz nah ans Sujet heranrücken, wie das „AKAY – Blackbook 1986 – 1990”, eine Replik des Skizzenbuches eines schwedischen Writers – inklusive der zu Analogzeiten üblichen “Fotos zum Ausklappen”. Sie zeigen lange Wandbilder, die nicht ins A4-Format passen. Andere Werke sind eher alternative Stadtporträts, wie der Bildband mit dem unscheinbaren Titel „Hamburg”. Auf 320 Seiten nimmt der der Fotograf Emmet E. Lesende hier mit auf einen Spaziergang zu zahlreichen Werken des Künstlers „OZ” im Hamburger Stadtraum. Ein Versuch, wenn man so will, das flüchtige Werk für die Nachwelt zu retten. Viele Werke wiederum stellen eher eine Form von Stadtgeschichtsschreibung dar, wie „Oslo Graffiti”, in dem es um Writing in der norwegischen Hauptstadt von 1984 bis 2008 geht. Oder, natürlich, „EINE STADT WIRD BUNT”, in dem die Entwicklung der Hamburger Graffitiszene im Kontext von Stadtentwicklung und Subkultur detailliert nachgezeichnet wird.
Und so fällt es der „Unlock Book Fair”, die am 3. und 4. Juni im Museum für Hamburgische Geschichte gastiert, gar nicht so leicht, ihr eigenes Thema einzugrenzen. War es der 2016 gegründeten Buchmesse, noch darum gegangen, kleinen Verlagen für Graffitimagazine und bücher ein Forum zu bieten, so decken eben diese Verlage – und somit auch die Messe heute ein größeres Themenfeld ab. Von der kunsthistorischen Abhandlung bis zum fotografischen Langzeitprojekt, von der alternativen Stadterkundung bis zum Porträt von „Hobos“, die als blinde Passagiere in Güterwaggons durchs Land fahren: Wer sich einmal durch die Webshops der einschlägigen Verlage geklickt hat, wird den Eindruck nicht los, dass hier – von Öffentlichkeit und Verlagsindustrie weitgehend unbemerkt – im Umfeld der Graffitikultur ganz neue Erzählformen entstehen. Graffiti, so die Macher der “Unlock Book Fair”, führe zu eigenwilligen Betrachtungsweisen der Stadt. Natürlich spielt die Werkschau einzelner WriterInnen oder Crews noch immer eine tragende Rolle, was zum einen daran liegt, dass viele über Jahrzehnte aktive SprüherInnen irgendwann einmal das Bedürfnis verspüren, dem eigenen Schaffen ein Denkmal zu setzen. Und spätestens seit der moderne Digitaldruck es möglich macht, optisch hochwertige Bücher in Kleinstauflage zu produzieren, hat im Prinzip jeder Writer und jede Writerin die Möglichkeit, sein oder ihr persönliches “Best-of” zu produzieren. Das Buch als, wenn man so will, Fortführung des Writing mit anderen Mitteln.
Ein weiterer Grund für den hohen Stellenwert des Buches innerhalb der Szene, ist seine Verkäuflichkeit. Gerade für WriterInnen, die nicht auf Leinwand oder im Auftrag auf Wand malen, ist das Buch fast die einzige Möglichkeit, die eigenen Werke gegen Geld einzutauschen. Eine Strategie, die sich auch darin äußert, dass viele Bücher neben einer „normalen“ Ausgabe auch als limitierte Sonder-Edition erscheinen, die teils beträchtliche Wertzuwächse erleben und mittlerweile nicht nur auf eBay, sondern auch in klassischen Auktionshäusern gehandelt werden. Es sind auch diese Hybride aus Kunstobjekt und Dokumentation, die die Zahl der Graffitibücher wachsen lässt – auch und gerade in Zeiten von Social Media. Denn: Instagram verspricht zwar rasante Verbreitung. Aber nur Print verspricht Relevanz.
Gegründet wurde die „Unlock Book Fair” 2016 in Barcelona von Javier Abarca. Der spanische Graffiti-Pionier hatte sich schon zuvor immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie man eine Kunst, in der die Mehrheit nur Vandalismus sieht, einer breiteren Öffentlichkeit verständlich machen kann. Er hielt Vorlesungen an Universitäten, publizierte Aufsätze und organisierte Workshops und Events, wie die „Tag Conference“, die vom 29. Juni bis zum 1. Juli 2023 ebenfalls im Begleitprogramm von „EINE STADT WIRD BUNT“ in Hamburg gastiert und sich mit dem Phänomen des „Tagging“ aus historischer Perspektive beschäftigt. Mit der "Unlock Book Fair” hat Abarca über die Jahre einen Marktplatz – und einen Begegnungsort – für alle Menschen geschaffen, die sich für Graffiti, Urban-Art, Buchkunst, Fotografie, Subkultur, jüngste Stadtgeschichte und alternative Stadterkundung interessieren.
Für die Graffitikultur selbst, ist die „Unlock Book Fair“ auch deshalb von enormer Bedeutung, weil sie sich um ihr wichtigstes Medium dreht: das Buch. Welche Wirkmacht Print entfalten kann, hat der Bildband „Subway Art” von Martha Cooper und Henry Chalfant bereits vor fast 50 Jahren gezeigt. Die 1984 erschienene Fotodokumentation über Graffiti auf New Yorker UBahnen gilt als „Bibel“ der Szene. Es ist das meistverkaufte Graffitibuch aller Zeiten und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Subkultur zum globalen Phänomen wurde und diente Generationen von Writern als Inspirationsquelle. Vielleicht hat es auch mit dem Nimbus von „Subway Art“ zu tun, dass dem Buch im Graffiti ein so hoher Stellenwert zukommt. Es gibt aber noch einen weiteren, ganz praktischen Grund: Eine Kunst, die auf der Straße zu Hause ist, kann die Zeit nur zwischen Buchdeckeln überdauern. Tags und Pieces auf Wänden und Zügen werden entfernt, verblassen oder fallen Abriss und Neubau zum Opfer. Websites und Social-Media-Profile, die Fotos zeigen, werden möglicherweise gelöscht. Bedrucktes Papier aber bleibt. Unter Umständen für immer.
Unlock Book Fair
Graffiti-Buch- und Magazin-Messe
Begleitprogramm: Podiumsdiskussionen,
Präsentation von Neuerscheinungen, Lesungen
u.v.m.
Samstag, 3. Juni, 11 – 19:30 Uhr
Sonntag, 4. Juni, 11 – 17 Uhr
Museum für Hamburgische Geschichte
Holstenwall 24, 20355 Hamburg
Mit Unterstützung durch:
Stiftung wissensART und dem Centre for the Study of Manuscript Cultures (CSMC) – Cluster of Excellence „Understanding Written Artefacts“ – der Universität Hamburg.
Stiftung Historische Museen Hamburg
Holstenwall 24
20355 Hamburg
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